Die Nerven, bestehend aus Julian Knoth, Kevin Kuhn und Max Rieger, haben sich seit ihrer Gründung im Jahr 2010 zu einer der prägendsten und besten Live-Bands Deutschlands entwickelt. Ihre Konzerte sind bekannt für ihre rohe, direkte und unverhandelbare Energie. Die Band, die 2012 mit Kevin Kuhn komplettiert wurde, fesselt ihr Publikum mit einer Präsenz, die sich jeder Reproduktion entzieht und nur im Augenblick erlebt werden kann.
Live Im Elfenbeinturm: Ein neues Kapitel in der Diskografie
Anfang Dezember 2024 erschien mit »LIVE IM ELFENBEINTURM« ein neues Live-Album von Die Nerven als Doppelalbum. Veröffentlicht auf ihrem eigenen Label 333, dessen Name einer Textzeile von Europa entlehnt ist, umfasst das Album 16 Songs. Die meisten Titel stammen von den letzten drei Studioalben »FAKE« (2018), »DIE NERVEN« (2022) und vor allem »WIR WAREN HIER« (2024). Lediglich zwei Songs lassen den Vibe des »FUN«-Albums von 2014 wiederaufleben.
»LIVE IM ELFENBEINTURM« reiht sich als zweites Live-Album in die Diskografie der Band ein, nach »LIVE IN EUROPA« aus dem Jahr 2017, das im Anschluss an die ersten drei Studioalben veröffentlicht wurde. Ähnlich wie sein Vorgänger ist »LIVE IM ELFENBEINTURM« eine Art Montage musikalischer Momentaufnahmen der letzten Jahre, die zugleich die Entwicklung der Band widerspiegelt.
Drummer Kevin Kuhn betont im Gespräch zum neuen Live-Album den Unterschied von acht Jahren Live-Erfahrung zwischen den beiden Live-Alben. Diese Erfahrung hat den Sound von Die Nerven maßgeblich geprägt. Kuhn erinnert sich, dass die Band in ihren ersten fünf Jahren kaum vor Konzerten probte, sondern versuchte, etwas im Moment entstehen zu lassen.
Die Magie des Augenblicks
Das Album beginnt mit den ersten sechs Songs von »WIR WAREN HIER« (2024), wobei der Opener »Als ich davonlief« die Magie der Band verdeutlicht: Die Nerven beherrschen den dynamischen Drahtseilakt zwischen Totenstille, Crescendo und Krach wie kaum eine andere Band. Das Trio reagiert auf kleinste Regungen des Publikums mit atmosphärischem Brodeln und eindringlichen Songzeilen aus der Feder von Julian Knoth und Max Rieger.
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Der Sound von Julian Knoths Bass bildet zusammen mit dem Schlagzeugspiel von Kevin Kuhn ein Pas de deux, das seine schönsten Momente live entfaltet. Dies ist beispielsweise in der Live-Version von »Große Taten« zu hören, die aufgrund des Dialogs zwischen Bass und Drums beinahe doppelt so lange ist wie die Studioversion. Andere Stücke wie »Achtzehn« entfalten in der Live-Situation eine eigene Sogwirkung, da sie langsamer gespielt und ohne Streicher auskommen. »Der Erde gleich« zeigt die Band von ihrer experimentellen Seite.
Diese Momente machen »LIVE IM ELFENBEINTURM« aus. Das Album blickt nicht mimetisch auf die Studioversionen, sondern eröffnet neue Perspektiven auf die Songs. Es ist sowohl Dokumentation als auch künstlerische Neuinterpretation. Kevin Kuhn reflektiert, dass das Album die ultimative Version ihres Live-Sets darstellt.
Wir Waren Hier: Ein Album über das Glück des Verschwindens
Die Single »Als Ich Davonlief« und das Album »Wir Waren Hier« handeln nicht nur von dem, was bleibt, wenn die Menschheit verschwunden ist, sondern auch von dem Glück des Verschwindens: dem Glück, an Orte zu fliehen, an denen die Hässlichkeit der Realität für einen Moment verschwindet - in die Schönheit.
Die Nerven haben die Songs in einer vierwöchigen Session in einem ehemaligen Sterne-Restaurant am Stuttgarter Schlossplatz mit Blick auf die Oper aufgenommen. Die aktuelle Besetzung spielt seit 12 Jahren zusammen und hat mittlerweile eine Phase kompletter Sicherheit erreicht. Ihre Musik bleibt weiterhin wütend, laut und dramatisch.
Die Nerven im Kontext: Punk, DIY und eine neue Generation
Ob man Die Nerven als Teil einer Bewegung oder einfach als eindrucksvolle Punkband plus x betrachtet, hat keinen Einfluss auf den Hörgenuss. Fest steht, dass sich 2013 eine Menge junger Bands in den Vordergrund spielte, die zumindest den Do-it-yourself-Hintergrund, die deutschsprachigen Texte und eine gewisse Düsternis gemeinsam hatten. Diese Bands freundeten sich untereinander an, anstatt bei der Presse um Alleinstellung zu kämpfen.
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Hendrik Otremba von Messer konstatierte 2013, dass viele Musiker keine Lust mehr auf Happy Indie hätten. Er sah Die Nerven zusammen mit Bands wie Candelilla, 206 und Zucker in einer ähnlichen Bewegung. Die Nerven haben sich von allen genannten Bands wohl am meisten dem Punkrock verschrieben und gründeten sich 2010 in Stuttgart. Max Rieger und Julian Knoth starteten als noisiges LoFi-Duo mit dem Ziel, möglichst laut zu sein und viel Lärm zu machen.
Es entstanden digitale Releases wie "Yes Sir, I Can Boogie!" (2010), "Gute-Nacht-Geschichten Für Kinder Zwischen 1-4" (2011) und "Asoziale Medien" (2012). Mit dem Drummer-Zuwachs Kevin Kuhn wurden Die Nerven zum Trio. Im Jahr darauf folgte die Split-7" "Fick Dich Alter!" mit Candelilla.
Ähnlich wie die Gruppe Messer ernteten Die Nerven überraschend Feuilleton-Echo. Jan Wigger von Spiegel Online kürte das im Februar 2014 veröffentlichte Album "FUN" zu einer der wichtigsten und besten deutschsprachigen Platten dieses Jahrzehnts. Die Spex hatten die Band ohnehin von Anfang an auf ihrer Seite.
Julian Knoth erklärte, dass sich die Generation immer mehr zuspitzt: Auf der einen Seite herrscht Leistungsdruck, auf der anderen Seite Hedonismus. Er hatte das Gefühl, dass Die Nerven da nicht so unbedingt reinpassen.
Die Band selbst sieht sich nicht als reine Punkband, Teil einer DIY-Rock-Generation oder eines Achtziger-Revivals. Für sie bedeutet Punk vielmehr die Haltung, die Dinge so zu machen, wie sie es möchte.
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Max Rieger veröffentlicht neben weiteren Alben seiner Hauptband ("Out", 2015) auch Soloalben wie "Welt In Klammern" unter dem Pseudonym All Diese Gewalt.
Fake: Ein gedämpftes Opus Magnum
Mit dem 2018er-Studioalbum "Fake" legten Die Nerven eine Art Opus Magnum vor. Gedämpfter in der Sound-Ausrichtung und weg von der zornigen Aggression alter Tage präsentierten sie eine Noise-Pop-Platte, die noch immer als kritische Zustandsbeschreibung durchgeht, aber auch umarmende Pop-Melodien verwendet.
Nach einer längeren Pause, in der sich die Mitglieder Solo-Aktivitäten widmeten, spielten sie in der Pandemie "Die Nerven" ein, ihr fünftes Studioalbum. Nur zwei Jahre später legten sie mit "Wir Waren Hier" nach.
Out: Explosion an der langen Leine
Seit die Band mit ihrem „Sommerzeit-Traurigkeit“-Lana-Del-Rey-Cover auf sich aufmerksam machte, interessieren sich alle für Die Nerven. Die Energie, die Julian Knoth, Max Rieger und Kevin Kuhn auf ihre Alben bannen, explodiert live hundert Mal so stark. Auf „Out“ legen sie diese Explosion an die lange Leine, zögern den großen Ausbruch bei jedem Lied heraus. Jedes Stück mäandert auf unbehagliche Weise.
Weitere Projekte und Einflüsse
Max Rieger ist ein Tausendsassa: Er singt bei Die Nerven, produziert für unzählige Bands und KünstlerInnen wie Drangsal, Ilgen-Nur und Mia Morgan und steht dazu noch mit seinem Solo-Projekt All Diese Gewalt auf der Bühne. Unter dem Alias „Obstler“ veröffentlichte er das Album „Demonji“, das in die Welt des Black Metal entführt. Während der Corona-bedingten Selbst-Quarantäne nahm Rieger das neue Obstler-Album „Death Jingles“ auf. Auf dem Album sind GastmusikerInnen wie Casper und Drangsal zu hören.
Frühe Werke und Lo-Fi-Ästhetik
Am 23. März 2012 stellte die noch sehr junge Gruppe Die Nerven ihr bereits fünftes Album ins Netz. Es war eine im scheppernden Lo-Fi-Sound aufgenommene No-Wave-Platte, deren elf Songs damals schon mit einer solchen Dringlichkeit aus den Lautsprechern dröhnten, dass man fast Angst hatte, diese Band würde sich gleich aus den Boxen in Dein Zimmer kratzen und Dir ins Gesicht spucken.
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