Die Sprache des Gehirns verstehen

Wie entschlüsseln wir die Geheimnisse des Gehirns und seiner komplexen Funktionen, insbesondere im Hinblick auf Sprache, Gedächtnis und räumliche Orientierung? Dieser Artikel beleuchtet die neuesten Erkenntnisse und innovativen Methoden der Neurowissenschaften, die uns helfen, die "Sprache" des Gehirns besser zu verstehen und neue Wege für die Behandlung neurologischer Erkrankungen zu eröffnen.

Wie Erinnerungen uns zu Belohnungen leiten

Das Gehirn nutzt einen speziellen Code, um uns zu Orten zu leiten, die Belohnung versprechen. Dies ist das Ergebnis einer Studie des Leibniz-Instituts für Neurobiologie (LIN) in Magdeburg, die in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht wurde. Die Forscher konzentrierten sich auf die Verbindung zwischen dem Hippocampus, einem für das Erinnern von Lebensereignissen und die räumliche Orientierung entscheidenden Gehirnbereich, und dem Nucleus accumbens, einem für Motivation und Belohnung zuständigen Areal.

Die Hypothese der Forscher war, dass die Kommunikation zwischen diesen beiden Arealen uns hilft, Orte wiederzufinden, an denen wir zuvor belohnt wurden. Um dies zu untersuchen, nutzte das Team neuartige optische und analytische Methoden, um die Kommunikation zwischen den beiden Hirnregionen zu verstehen. Mithilfe spezieller Fluoreszenzproteine und Zwei-Photonen-Mikroskopie konnten sie neuronale Aktivität und die Verbindungen zum Belohnungszentrum im Gehirn nachverfolgen.

Oliver Barnstedt, Erstautor der Studie, erklärt: "Was wir entdeckt haben, ist nicht weniger als die 'Sprache', die unsere Gehirnareale verwenden, um uns zu den Orten zu führen, die wir lieben." Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass nahezu die Hälfte der Neurone, die vom Hippocampus zum Nucleus accumbens führen, gleichzeitig Informationen zu Ort und Bewegung kodieren. Diese multidimensionale Vernetzung ermöglicht es dem Gehirn, mit hoher Präzision die Orte zu antizipieren, die uns Freude bereiten.

Die Erkenntnisse dieser Studie könnten einen Wendepunkt im Verständnis von räumlichem Gedächtnis und Belohnung darstellen und neue Wege für die Behandlung von Erkrankungen wie Alzheimer und Sucht eröffnen.

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Wie ein Wort zu einer Information wird

Wie aus Sprache Bedeutung hervorgeht, ist weitgehend rätselhaft. Irgendwie schafft es das Gehirn, aus einer Abfolge von Geräuschen abstrakte Abbilder von Dingen, Beziehungen oder Ideen zu erzeugen. Eine Arbeitsgruppe um Ziv M. Williams von der Harvard Medical School hat herausgefunden, dass einzelnen Nervenzellen im Gehirn die Bedeutung von Wörtern zugeordnet ist. Diese Zellen reagieren selektiv auf Wörter mit bestimmtem Sinngehalt - aber nicht immer gleich, sondern abhängig vom Kontext, in dem sie auftauchen.

Die Forscher ließen 13 Personen verschiedene Sätze und Geschichten hören, während sie mit Mikroelektroden die Aktivitäten einzelner Nervenzellen in deren Gehirnen überwachten. Dabei stellte sich heraus, dass die Zellen nicht bloß die Bedeutung von Wörtern in Echtzeit erfassen, sondern zudem ihre Aktivität gemäß vorher erfasster Bedeutungsmuster anpassen.

Das Team um Williams nutzte die Gelegenheit, wenn sich Patientinnen und Patienten einer Operation am Gehirn unterziehen mussten und dabei für Funktionstests wach blieben, um deren Nervenzellen bei der Sprachverarbeitung in Echtzeit zu beobachten. Dazu nutzten die Fachleute Gitter aus Mikroelektroden und so genannte Neuropixel-Sonden, welche die Aktivität hunderter Neuronen gleichzeitig messen können.

Die Sonden lagen direkt auf einer sprachselektiven Region im präfrontalen Kortex auf, während die Versuchspersonen jeweils rund 130 gesprochene Sätze hörten. Als Kontrolle testete das Team, wie das Gehirn auf reine Wortlisten und Unsinnswörter reagierte. Dabei zeigte sich, dass einzelne Neuronen spezifisch auf bestimmte Bedeutungsklassen reagierten, zum Beispiel auf Begriffe für Aktivitäten oder Emotionen. Deshalb aktivierten verwandte Begriffe stets ähnliche Gruppen von Nervenzellen. Sehr stark voneinander abweichende Begriffe verursachten dagegen unterschiedliche Erregungsmuster.

Außerdem beobachtete das Team, wie diese »bedeutungsassoziierte Aktivität« mit jedem weiteren Wort eines Satzes durch die Zellgemeinschaft wanderte. Die Zellen reagierten je nach vorheriger Aktivität sehr dynamisch auf »ihre« einen bestimmten Sinngehalt - das Gehirn, so die Schlussfolgerung, bildet Kontext dadurch in Echtzeit ab.

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Damit zeigt die Untersuchung, dass inhaltliche Bedeutung tatsächlich auf der Ebene individueller Nervenzellen erzeugt wird. Doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Denn bekannt ist, dass andere Hirnareale ebenfalls und zeitgleich daran beteiligt sind.

Der neurale Code: Ein Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Geistes

Die Entschlüsselung des neuralen Codes wird als eines der größten Menschheitsrätsel überhaupt angesehen. Miguel Nicolelis von der Duke University in Durham, North Carolina, verkündet: »Den neuralen Code zu knacken bedeutet zu verstehen, wer wir eigentlich sind.« Unser Vermögen zu sprechen, zu lieben, zu hassen und die Welt um uns herum wahrzunehmen sowie unsere Erinnerungen, unsere Träume, ja sogar die Geschichte unserer Art sind entstanden aus dem Zusammenspiel vieler kleiner elektrischer Signale, die sich in unserem Gehirn ausbreiten wie ein Gewitter, das in einer Sommernacht über den Himmel fegt.

Wie diese Ströme dazu führen können, dass Gefühle, Bilder und Dialoge im Gehirn nicht nur niedergelegt werden, sondern sich auch gezielt und mit rasender Geschwindigkeit wieder abrufen lassen, darüber zerbrechen sich die Neurowissenschaftler seit mehr als hundert Jahren den Kopf.

Santiago Ramón y Cajal (1852 bis 1934) gehörte zu den Ersten, die ahnten, dass es eine Frage elektrischer Kontakte ist: Die Speicherung von Information geht einher mit veränderten Verbindungen zwischen den Nervenzellen, an den sogenannten Synapsen.

Ein halbes Jahrhundert später entwickelte dann der kanadische Psychologe Donald Hebb diese Vorstellung weiter: Nervenzellen, die im gleichen Augenblick elektrische Signale abfeuern, stärken ihre Verbindungen untereinander. Auf diese Weise werden Erinnerungen ins Nervenzellgeflecht eingeschrieben.

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Mit einem speziellen Mikroskop gelang es schließlich dem Physiker Tobias Bonhoeffer und seinen Mitarbeitern am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München, diese Veränderungen sogar sichtbar zu machen: Wenn eine Nervenzelle angeregt wird, dann sprießen auf ihrer Oberfläche winzig kleine Dornen, wachsen auf andere Nervenzellen zu und docken dort an. Lassen die Reize nach, dann bilden sich diese Dörnchen wieder zurück.

»Zum ersten Mal konnten wir live beobachten, wie das Gehirn beim Lernen seine Verschaltungen ändert«, erinnert sich Bonhoeffer.

Multivariate Mustererkennung und maschinelles Lernen: Neue Wege zur Entschlüsselung von Gedanken

Die Entwicklung von Rechenprogrammen, die das ganze Gehirn auf einen Schlag untersuchen können, hat die Hirnforschung revolutioniert. »Multivariate Mustererkennung« oder auch »maschinelles Lernen« sind die Zauberwörter. Der Trick der entsprechenden Software liegt darin, dass sie von allein immer besser darin wird, komplexe Datenmengen schnell zu analysieren. Je länger das Analyseprogramm also rechnet, desto schlauer wird es auch. So lassen sich auch äußerst verwirrende Signalmuster entschlüsseln, die bislang keinen Sinn ergaben.

Der Berliner Hirnforscher Haynes und Kollegen in London und Tokio waren die Ersten, die selbstlernende Computerprogramme einsetzten und auf diese Weise Gedankeninhalte dechiffrierten. Die Wissenschaftler legten gesunde Probanden in ein Kernspin-Gerät und wiesen diese an, sich zu entscheiden, ob sie zwei Zahlen, die ihnen gleich gezeigt würden, lieber addieren oder subtrahieren wollten.

Ergebnis: In 71 Prozent der Fälle konnten die Forscher die Absicht der Testpersonen erkennen, noch bevor diese die Zahlen überhaupt zu sehen bekamen, geschweige denn zu rechnen begannen - die geheimen Absichten des Gehirns waren sichtbar gemacht.

Die verteilte Natur von Gedanken und Erinnerungen

Die Gruppe um Svetlana Shinkareva hat herausgefunden, dass die charakteristischen Gedankenmuster bei den Testpersonen zwar nicht identisch, aber deutlich nach dem gleichen Muster verteilt sind. Der Gedanke an einen Hammer etwa kann nur entstehen, wenn neben dem Hippocampus noch ungefähr zehn weitere Hirnregionen aktiv werden - ein Gedanke hat demnach keinen festen Sitz im Kopf; er ist vielmehr eine über das ganze Gehirn verstreute Erscheinung.

Dieses Ergebnis passt faszinierenderweise genau zu jenen Mustern, die der Neurowissenschaftler Tsien in den Gehirnen seiner Mäuse gefunden hat. Wenn die Tiere eines der Schreckereignisse im Gehirn verarbeiten und im Gedächtnis ablegen, dann spielen jeweils Nervenzellen aus unterschiedlichsten Winkeln des Oberstübchens zusammen - sie bilden einen Zellverband.

Einzelne Zellgruppen eines solchen Verbands speichern dabei ganz bestimmte Teilaspekte des simulierten Erdbebens ab: Einige springen auf übergeordnete Eigenheiten des Erlebnisses ("Schreck") an, andere auf spezifische ("zitternde Wände"). Diese Nervenzellgruppen kann man sich wie eine Pyramide vorstellen, an deren Basis die allgemeinen Informationen stehen und an der Spitze die speziellen.

Die hierarchische Organisation des Gedächtnisses

Für diese hierarchische Organisation des Gedächtnisses sprechen auch die Befunde des amerikanischen Neurowissenschaftlers und Hirnchirurgen Itzak Fried. Er hat vielen Menschen, die unter einer Epilepsie leiden, im mittleren Schläfenlappen dauerhaft Elektroden eingepflanzt - so kann er genau jene Stellen der Hirnrinde ausfindig machen, von denen die epileptischen Anfälle ausgehen.

Eines Tages ging Fried und seinen Kollegen jedoch auf: Ihre dauerhaft verkabelten Patienten boten eine einzigartige Gelegenheit, die Aktivität einzelner Zellen zu studieren. Alsbald fanden sich einige der Epileptiker vor einem Bildschirm wieder, auf dem ihnen im Sekundentakt menschliche Gesichter gezeigt wurden. Zur gleichen Zeit zeichneten die Forscher die elektrischen Signale der angezapften Nervenzellen auf.

Gleich zwei Überraschungen kamen heraus: Zum einen waren viel weniger Nervenzellen aktiv als gedacht. Zum anderen waren manche der feuernden Neuronen äußerst wählerisch. Im Mandelkern einer Frau zum Beispiel gab sich eine einzelne Nervenzelle immer dann zu erkennen, wenn ein Foto des früheren US-Präsidenten Bill Clinton im Blickfeld erschien. Wurde aber zum Beispiel dessen Nachfolger George W. Bush gezeigt, blieb die Zelle stumm.

Bei einer anderen Testperson fand sich im rechten Hippocampus eine einsame Nervenzelle, die ausschließlich auf die glutäugige Schauspielerin Halle Berry ansprang. Ob die Frau nun im Katzenkostüm erschien oder im Bikini dem karibischen Meer entstieg - stets flammte das Signal auf. Selbst als die Forscher nur ihren Namen einblendeten, fühlte sich die »Berry-Zelle« angesprochen.

Eine große Zahl von Nervenzellen ist demnach zuständig für die grobe Gesichtserkennung. Die genauere Analyse der Mimik wird von einer kleineren Schar Spezialisten übernommen - bis schließlich die »Halle-Berry-Zelle« feuert und damit signalisiert: Person erkannt!

Das alles bestätigt Tsiens Experimente, die darauf hinweisen, dass Gedanken und Gedächtnisinhalte hierarchisch aufgebaut und abgelegt werden. Dieses ausgeklügelte Speicherverfahren könnte ein uraltes Problem der Gedächtnisforschung auflösen: Wie kann es eigentlich sein, dass die unermessliche Zahl von Gedanken und Erinnerungen, die einem Menschen im Laufe des Lebens durch den Kopf gehen, überhaupt in diesen drei Pfund schweren Gewebeklumpen passen? Würde darin jedes Erlebnis neu abgelegt, wäre der neuronale Speicher bald voll.

Also werden offenbar kleine, bereits gelernte Aspekte je nach Bedarf miteinander kombiniert, postuliert Tsien: »Dadurch wird es möglich, eine unglaublich große Menge an Information im Gehirn zu speichern.« Mehr noch: Zugleich liefert das Modell eine elegante Erklärung, warum Menschen aus ihrer Erfahrung lernen können: Sie greifen auf die alten, bereits erlernten Aspekte zurück und kombinieren diese, um sich vorzustellen, was die Zukunft bringen könnte.

Die enge Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft in der Gedankenwelt

Andere Gedächtnisforscher sind kürzlich in eigenen Studien auf den Zusammenhang gestoßen, dass Gestern und Morgen in der Gedankenwelt ganz eng miteinander verwoben sind.

Die Psychologin Eleanor Maguire vom University College London etwa ist auf das Phänomen gestoßen, als sie fünf Männer untersuchte, die aufgrund eines verletzten Hippocampus unter massivem Gedächtnisschwund leiden. Diese Patienten forderte Maguire nun auf, sich vorzustellen, sie lägen auf einem weißen Sandstrand in einer wunderschönen Südseebucht. Zehn gesunden Kontrollpersonen stellte sie dieselbe Aufgabe.

Letztere begannen sofort zu fabulieren: Von Palmen berichteten sie und von süßen Früchten und Winden, die ihnen durchs Haar strichen. Den hirnkranken Studienteilnehmern dagegen fehlte jede Vorstellung: »Also, das Einzige, was ich sehen kann, ist blau«, sagte einer.

Das fügt sich zu dem, was der Psychologe Daniel Schacter von der Harvard University bei Kernspin-Untersuchungen festgestellt hat: Er bat gesunde Studenten, sich ein Ereignis ins Gedächtnis zu rufen, das sie in den vergangenen Wochen tatsächlich erlebt hatten. Oder aber sie sollten sich ein entsprechendes Ereignis ausmalen, das sie aber erst in den kommenden Wochen erleben würden. Das erstaunliche Ergebnis: Viele Kernspin-Aufnahmen sahen dermaßen ähnlich aus, dass die Forscher Mühe hatten, sie auseinanderzuhalten.

»Gedächtnis wird ja immer als etwas angesehen, das mit der Vergangenheit zu tun hat«, erklärt Schacter. »Aber eine schnell wachsende Zahl von neuen Studien zeigt: Das Vorstellen der Zukunft und das Erinnern an die Vergangenheit gehorchen zum Großteil derselben Denkmaschinerie.«

Gehirn-Computer-Schnittstellen: Die Zukunft der Gedankensteuerung

Je mehr die Forscher über diese natürliche Neuronensprache herausfinden, desto größer wird auch die Möglichkeit, damit Roboter und Computer steuern zu können. Gelähmte Menschen wie der englische Physiker Stephen Hawking könnten dann allein mit Hilfe ihrer Gedanken Roboter bedienen, Aufsätze diktieren, im Internet surfen - und vielleicht sogar ihren Körper über ein motorgetriebenes künstliches Skelett bewegen.

Mittlerweile haben sich mehr als hundert Arbeitsgruppen in aller Welt daran gemacht, die Gehirne von Versuchstieren oder Testpersonen mit elektronischen Geräten zu verdrahten. »Diese sich rasch weiterentwickelnden Konzepte werden medizinisch und kommerziell von großer Bedeutung sein«, erklärt der Neurologe und Psychiater Gabriel Curio von der Charité in Berlin - und fügt hinzu: »Sie könnten aber auch auf militärischem Gebiet Anwendung finden, so dass Gehirn-Computer-Schnittstellen heute den futuristischen Phantasien immer näher kommen.«

Zu den Vorreitern gehört der aus Brasilien stammende Neurologe Miguel Nicolelis, dessen Arbeit von der US-Militärbehörde Darpa finanziert wird. An Rhesusaffen ist es ihm bereits gelungen, die elektrische Aktivität für die Bewegung des Arms in einen Computerbefehl zu übersetzen: Taucht das Signal »Arm bewegen!« im Gehirn eines Affen auf, dann rührt sich synchron dazu ein Roboterarm - Gedanken machen mobil.

Was jedoch Versuche an Menschen angeht, ist keiner weiter als John Donoghue von der Brown University, Rhode Island. Insgesamt vier Menschen, wie Matthew vom Hals abwärts gelähmt, hat der Forscher jeweils einen kleinen Chip mit 100 Elektroden in die Hirnrinde implantiert. Als er die Patienten anschließend bat, sich vorzustellen, sie würden eine der gelähmten Gliedmaßen bewegen, da feuerten genau die dafür zuständigen Nervenzellen.

Der Film dokumentiert, wie sich diese bioelektrische Aktivität in Befehle übersetzen lässt, die ein Roboter verstehen kann: Donoghue fordert Matthew darin auf, sich vorzustellen, wie er mit dem Zeigefinger seinen Daumen berührt. Der Arm des Patienten hängt schlaff wie immer - aber die Handprothese, mit der er vernetzt ist, führt die gewünschte Bewegung aus. »Matthew konnte sich nicht rühren«, sagt der Forscher, »und jetzt verändert er die Welt.«

Die Komplexität der Sprachverarbeitung im Gehirn

Sprache erzeugen und verstehen zu können, macht den Menschen zu etwas Einzigartigem in der Evolution. Sprache ist ein komplexes Phänomen, an dessen Produktion und Rezeption sehr viele Teile des Gehirns beteiligt sind. Wenn wir sprechen, benutzen wir neben Zunge und Kehlkopf auch Lippen, Gaumen inklusive Bogen, Segel und Zäpfchen sowie Rachen, Kehldeckel und Lunge. Auch Zähne und der Nasenraum sind für die Artikulation wichtig.

Beim Verstehen analysiert unser Gehirn das Gehörte nach räumlichen und zeitlichen Merkmalen und gleicht es dann mit gespeicherten Wortformen, grammatikalischen Regeln, Satzstrukturen und Bedeutungen ab. Beim Sprechen ruft es Bedeutungen, Grammatik und Wortformen ab, gliedert sie metrisch, phonologisch und silbisch, überführt sie in motorische Arbeitsanweisungen und gibt sie an die Artikulationsorgane weiter.

Für all diese sprachlichen Kognitionsleistungen machte man bis in die 1970er Jahre vor allem das Broca-Areal im Gyrus frontalis inferior und die Wernicke-Region verantwortlich. Demnach schien das Broca-Areal vor allem für Sprachproduktion und das Wernicke-Areal für Sprachverstehen zuständig zu sein. Doch jüngere Forschungen zeigen, dass es diese klare Trennung wohl so nicht gibt.

In der Regel findet der Großteil der Sprachverarbeitung in der linken Großhirnhemisphäre statt, doch es lassen sich für bestimmte Aufgaben auch immer wieder beidseitige Aktivitäten feststellen. So zeigen Untersuchungen von Patienten mit Verletzungen des „Balkens“, dass die rechte Hemisphäre offenbar nötig ist, um lautübergreifende akustische Merkmale wie Akzent oder Intonation zu verarbeiten. Eine Studie von Forschern der Berliner Charité aus dem Jahre 2008 weist darauf hin, dass für das Erkennen von Satzstrukturen und -inhalten sogar eine Kooperation von Gehirnrinde und Thalamus nötig ist.

Der Weg, den Sprache durch das Gehirn nimmt, bis sie dem Zuhörer bewusst wird, ist überraschend. Denn laut der Sprachforscherin Angela Friederici vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften wird zuallererst nicht die Bedeutung, sondern die Grammatik eines Satzes untersucht. Form vor Inhalt: Innerhalb von 200 Millisekunden analysiert das Gehirn von Erwachsenen Nomen, Verben, Präpositionen und andere grammatikalische Finessen. Bei Kindern dauert es noch bis zu 350 Millisekunden - ein Hinweis, dass die Grammatikregeln gelernt werden müssen, dann aber automatisiert ablaufen. Erst in einer zweiten Phase, bis zu 400 Millisekunden später, interpretiert das Gehirn schließlich die Bedeutung der Wörter.

Sonderforschungsbereiche: Die Sprache des Gehirns verstehen

Die Neurowissenschaftler des UKE sind maßgeblich an zwei Sonderforschungsbereichen (SFB) beteiligt, die zu den begehrtesten Förderprogrammen in Deutschland gehören. Die Ziele der Forscher sind ehrgeizig: Sie wollen die Sprache des Gehirns verstehen.

„Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Emotion, Handlungen und andere kognitive Prozesse beruhen auf der Aktivierung hochgradig verteilter Netzwerke im Gehirn und erfordern das Zusammenwirken zahlreicher Hirnregionen. Dementsprechend ist anzunehmen, dass Fehlfunktionen in den Netzwerken zur Entstehung neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen beitragen können", erläutert Gerloff. Das multidisziplinäre Team untersucht, wie neuronale Netzwerke die Kommunikation der rund 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn organisieren, wie Schlaganfall, Parkinson, Schmerz oder Schizophrenie diese Netzwerke verändern und wie diese gestörten Netzwerke positiv beeinflusst werden können.

Im ersten internationalen Transregio-SFB (TRR 169 „Cross-modal Learning: Adaptivity, Prediction and Interaction") arbeiten seit 2016 UKE und Uni Hamburg mit chinesischen Universitäten zusammen. Die Erforschung der Prinzipien der crossmodalen Interaktion soll helfen, die Kommunikation und Kooperation von Mensch und Computer besser zu verstehen.

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