Die Auseinandersetzung mit Demenz ist ein vielschichtiges Thema, das sowohl die Betroffenen selbst als auch ihre Angehörigen und die Gesellschaft als Ganzes betrifft. In den letzten Jahren hat sich ein Wandel in der Betrachtungsweise vollzogen, der versucht, Demenz nicht nur als Defizit, sondern auch als eine Quelle von Weisheit und Erkenntnis zu begreifen. Dieser Artikel beleuchtet kritisch die verschiedenen Aspekte dieser neuen Perspektive und untersucht die Herausforderungen, die mit ihr einhergehen.
Einleitung: Demenz neu denken
Die traditionelle Sichtweise auf Demenz konzentriert sich primär auf den Verlust kognitiver Fähigkeiten und die damit verbundenen Einschränkungen. Doch zunehmend rückt die Frage in den Vordergrund, ob und inwieweit Menschen mit Demenz auch über besondere Fähigkeiten oder Einsichten verfügen, die in der herkömmlichen Betrachtung oft übersehen werden. Hildegard Nachum, eine Expertin für geriatrische Pflege und Validation, hat sich in ihrem Buch „Die Weisheit der Demenz“ intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt und plädiert für einen würdevollen Umgang mit desorientierten Menschen.
Validation als Schlüssel zum Verständnis
Ein zentraler Ansatzpunkt für ein neues Verständnis von Demenz ist die Validation, eine Kommunikationsmethode, die von der deutschamerikanischen Gerontologin Naomi Feil entwickelt wurde. Validation ist nicht nur eine Kommunikationstechnik, sondern vielmehr eine Grundhaltung, die die Realität und Wahrheit des desorientierten Menschen akzeptiert, ungeachtet dessen, ob sie mit der objektiven Realität übereinstimmt. Hildegard Nachum betont, dass es wichtig ist, die Ursachen für die Äußerungen und Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz zu verstehen, anstatt sie zu korrigieren oder zu widerlegen.
Die Bedeutung der emotionalen Ebene
Nachum weist darauf hin, dass Kommunikation auf der kognitiven Ebene oft Stress bei Menschen mit Demenz und ihren Betreuern verursacht. Stattdessen plädiert sie dafür, sich auf die emotionale Ebene einzulassen und die Gefühle der Betroffenen anzuerkennen. Dies erfordert jedoch auch die Bereitschaft, sich mit den eigenen Emotionen und „seelischen Baustellen“ auseinanderzusetzen, was für viele Pflegende eine Herausforderung darstellt.
Kritik an der traditionellen Betreuung
Nachum kritisiert den oft falschen Ansatz in der Betreuung alter Menschen, bei dem Hygiene und Ordnung Vorrang vor der seelischen Gesundheit haben. Sie betont, dass es wichtiger ist, die Seele eines Menschen zu „polieren“ als beispielsweise die Speichen eines Rollstuhls.
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Die Weisheit der Alten: Eine Neubewertung
Martin Korte, ein Gedächtnisexperte, fordert ebenfalls eine Neubewertung des Alters. Er argumentiert, dass ältere Menschen zwar eine verlangsamte Denkgeschwindigkeit und Schwierigkeiten beim Multitasking haben mögen, aber dafür über eine höhere Sprachkompetenz verfügen und durch ihre Erfahrung Wichtiges leichter erkennen. Korte betont, dass viele Kulturen die Weisheit der Alten besonders schätzen und dass die Gesellschaft die spezifischen Stärken älterer Menschen gezielt nutzen sollte.
Die Stärken des alternden Gehirns
Korte erläutert, dass sich das alternde Gehirn verändert und dass diese Veränderungen sowohl Schwächen als auch Stärken mit sich bringen. So schwächelt beispielsweise die rechte Hirnhälfte früher als die linke, was dazu führt, dass negative Emotionen an Bedeutung verlieren. Die linke Hirnhälfte speichert bewährte Lösungsstrategien ab, die älteren Menschen besser zur Verfügung stehen.
Ratschläge zur Unterstützung des alternden Gehirns
Korte gibt wissenschaftlich begründete Ratschläge zur Unterstützung des alternden Gehirns, darunter Bewegung, kognitive Aktivität und soziale Interaktion. Er betont, dass Tanzen eine ideale Kombination aus sportlicher, komplexer und sozialer Aktivität darstellt.
Die Rolle der Erinnerung und Erfahrung
Reimer Gronemeyer, ein Altersforscher, betont die Bedeutung der Erinnerung und Erfahrung älterer Menschen. Er argumentiert, dass Großeltern nicht nur Märchen erzählen, sondern auch ein soziales Erbe mit sich tragen, das Zugang zu tieferen Schichten des Lebens ermöglicht. Gronemeyer zeigt auf, wie sich Erfahrungen der Alten über Nahrungsgewinnung und Subsistenzwirtschaft in den Großstädten (Urban Farming) auszahlen könnten.
Gelassenheit als Schatz des Alters
Gronemeyer sieht Gelassenheit als eine wichtige Qualität des Alters, die jedoch nicht als Resignation oder als eine „Tugend der Verbrauchten“ missverstanden werden sollte. Gelassenheit sei vielmehr eine Haltung, ein Vertrauen in das was kommt, ein „Nein danke“ zu einem „aktivistischen Mainstream“.
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Kritik an der Verleugnung des Alterns
Gronemeyer prangert das Verleugnen von Altern und Alter an und kritisiert Menschen, die so tun, als ob sie die Realität verkennen könnten. Er betont, dass es wichtig ist, das Altern anzunehmen und die damit verbundenen Veränderungen zu akzeptieren.
Herausforderungen und Kritik
Die Idee, dass Demenz eine Quelle von Weisheit sein kann, ist nicht unumstritten. Kritiker argumentieren, dass Demenz in erster Linie eine Krankheit ist, die Leid und Einschränkungen verursacht. Es besteht die Gefahr, dass die positiven Aspekte der Demenz überbetont werden und die negativen Aspekte vernachlässigt werden.
Die Gefahr der Romantisierung
Es ist wichtig, Demenz nicht zu romantisieren oder zu idealisieren. Menschen mit Demenz sind nicht einfach nur „weise“ oder „gelassen“, sondern sie erleben auch Angst, Verwirrung und Frustration. Es ist entscheidend, ihre Bedürfnisse und Gefühle ernst zu nehmen und ihnen die bestmögliche Unterstützung zu bieten.
Die Belastung der Angehörigen
Die Betreuung von Menschen mit Demenz ist oft eine große Belastung für die Angehörigen. Es ist wichtig, ihre Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren und ihnen die notwendige Unterstützung und Entlastung zukommen zu lassen.
Ethische Fragen
Die Auseinandersetzung mit Demenz wirft auch ethische Fragen auf, beispielsweise im Hinblick auf die Autonomie und Selbstbestimmung der Betroffenen. Es ist wichtig, ihre Wünsche und Präferenzen zu respektieren, auch wenn sie sich nicht mehr klar äußern können.
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Demografischer Wandel und Migration
Hildegard Nachum weist darauf hin, dass der demografische Wandel und die Migration die Herausforderungen im Umgang mit Demenz noch verstärken werden. Sie betont, dass es wichtig ist, sich auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz unterschiedlicher kultureller Hintergründe einzustellen und das Personal in Pflegeheimen entsprechend zu schulen.