Das Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) umfasst eine heterogene Gruppe genetisch bedingter Bindegewebserkrankungen, die durch überdehnbare Gelenke (Gelenkinstabilität), überdehnbare Haut und fragile Gewebe gekennzeichnet sind. Die Diagnose des Ehlers-Danlos-Syndroms (EDS) ist aufgrund der vielfältigen Symptome sehr komplex. Derzeit basiert sie auf Kriterien, die 2017 von einem internationalen Expertengremium festgelegt wurden. Diese berücksichtigen klinische Untersuchungen, Symptome sowie die Krankheits- und Familiengeschichte.
Neurodivergenz und EDS: Eine unerwartete Verbindung
Viele Menschen mit EDS weisen im Vergleich zur gesunden Allgemeinbevölkerung signifikant höhere Raten bei Autismus und ADHS auf. Laut einer aktuellen Erhebung sind sogar ca. 50 % der EDS-Betroffenen neurodivergent. Diese Zahlen sind kein Randphänomen, sondern weisen auf ein klinisch relevantes Zusammenspiel hin.
Neurodivergenz bezeichnet Abweichungen in der neurologischen Entwicklung oder Funktionsweise des Gehirns, die sich von der gesellschaftlichen Norm unterscheiden, also von dem, was als „neurotypisch“ gilt. Diese Unterschiede betreffen z. B. Autismus und ADHS. Es ist wichtig zu verstehen, dass Neurodivergenz als ein Spektrum betrachtet wird, was bedeutet, dass die Ausprägungen und Merkmale sehr unterschiedlich und vielfältig sein können.
- Neurotypisch: Beschreibt Menschen, deren neurologische Entwicklung und Funktionsweise der gesellschaftlichen Norm entspricht - also der Mehrheit.
- Neurodivers: Ein beschreibender Begriff für eine Gruppe von Menschen, in der sowohl neurodivergente als auch neurotypische Personen vertreten sind.
Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und EDS
Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich vor allem in drei Bereichen zeigt: in der sozialen Interaktion, in der Kommunikation und im Verhalten. Menschen mit Autismus nehmen ihre Umwelt oft anders wahr und verarbeiten Reize auf eine eigene Weise. In der aktuellen internationalen Diagnoseklassifikation ICD-11 werden die Unterformen frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und atypischer Autismus unter dem gemeinsamen Begriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammengefasst.
ADHS und EDS
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist durch folgende Kernsymptome gekennzeichnet:
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- Unaufmerksamkeit
- Impulsivität
- Hyperaktivität
Die Symptome treten schon im Kindesalter auf und können bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. ADHS ist keine reine „Kindheitsstörung“. Auch hier können die Merkmale individuell und unterschiedlich stark ausgeprägt sein. ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) ist eine Variante von ADHS, bei der die Hyperaktivität fehlt oder kaum ausgeprägt ist. ADS bleibt häufig länger unentdeckt - insbesondere bei weiblich sozialisierten Personen, deren Symptome oft weniger auffallen oder gesellschaftlich anders bewertet werden.
Kinder und Jugendliche mit hEDS hatten signifikant häufiger ADHS als Kinder mit Hypermobilitätssyndrom (HSD). Studien zeigen, dass Menschen mit Hypermobilität (inkl. EDS) häufiger von ADHS und Autismus betroffen sind.
Mögliche Erklärungsansätze für den Zusammenhang
Es existieren verschiedene Theorien, die den Zusammenhang zwischen EDS/HSD und Neurodivergenz zu erklären versuchen. Eine in 2022 veröffentlichte Studie fand heraus: Rund 50 % neurodivergenter Erwachsener zeigen Gelenkhypermobilität vs. ca. 20 % in der neurotypischen Bevölkerung.
Begleiterkrankungen und neurologische Auswirkungen
Bei Menschen mit EDS treten häufig weitere Erkrankungen auf, die direkt oder indirekt mit einem Ehlers-Danlos-Syndrom in Verbindung stehen können. Da der Wissenschaft aber die medizinischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Auswirkungen und dem EDS oft nicht bekannt sind, können viele der parallel gestellten Diagnosen nicht als Begleiterkrankung des EDS deklariert werden. Dennoch ist das gleichzeitige Auftreten von EDS und bestimmter weiterer Erkrankungen bekannt, sodass einige im Folgenden beschrieben werden. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass diese Übersicht nicht vollständig ist, sondern lediglich einen Anhaltspunkt darstellt.
Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (POTS)
Bei einer Vielzahl EDS-Betroffener, die entsprechende Symptome zeigen, kann ein posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom diagnostiziert werden. Postural sagt aus, dass etwas die Körperhaltung betrifft. Die Orthostase bezeichnet eine aufrechte Position, beispielsweise das Stehen. Eine Tachykardie ist die beschleunigte Herzfrequenz ab einem Wert von 100/min.
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Beim posturalen orthostatischen Tachykardiesyndrom (POTS) tritt jedoch eine unverhältnismäßig stark beschleunigte Herzfrequenz in aufrechter Position auf und wird von vielen weiteren Symptomen begleitet. Das POTS stellt eine Regulierungsstörung des autonomen Nervensystems dar, die sich u. a. auf das Herzkreislaufsystem auswirkt. Die notwendige Anpassung von Gefäßdruck und Herzfrequenz nach dem Aufrichten aus einer liegenden Position ist im Normalfall innerhalb von etwa dreißig Sekunden abgeschlossen. Bei Menschen mit posturalem Tachykardiesyndrom oder anderen Formen der Orthostase-Intoleranz gelingt diese Umstellung durch die Fehlfunktion im autonomen Nervensystem nicht in ausreichendem Maße.
Das autonome Nervensystem (ANS) oder auch vegetative Nervensystem (VNS) steuert die automatisch ablaufenden Prozesse des Körpers, die vom Menschen nicht willentlich verändert werden können. Sie sind vom bewussten Handeln unabhängig, also autonom. Das POTS ist keine psychische Erkrankung, sondern neurologisch bedingt und kann anhand klar definierter Kriterien mit spezifischen Messmethoden, wie Test der tiefen Atmung, Valsalva-Manöver und Schellong-Test bzw. Kipptischuntersuchung, diagnostiziert werden. Manchmal gelingt es im Rahmen der o. g. Untersuchungen nicht, die Diagnose eindeutig zu stellen.
Eine weitere Form der Orthostase-Intoleranz ist die orthostatische Hypotension, also der erniedrigte Blutdruck in aufrechter Körperposition. Im Gegensatz zum POTS fällt bei dieser Variante durch die gestörte Regulierungsfähigkeit des autonomen Nervensystems der Blutdruck nach dem Aufrichten durch natürliches Versacken des Blutes in den unteren Körperregionen zwar zunächst erwartungsgemäß ab, kann dann jedoch nicht ausreichend korrigiert werden und führt zu sehr ähnlichen Symptomen wie die des POTS.
Medikamentenunverträglichkeiten
Viele EDS-Betroffene beschreiben, eine Vielzahl unterschiedlicher Arzneistoffe nicht zu vertragen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu erleben. Eine Möglichkeit, eine konkrete Ursache hierfür zu benennen, ist die molekulargenetische Untersuchung der Cytochrome P450, einer Gruppe von Genen, die gleichnamige Enzyme „programmieren“.
Die Cytochrome P450 (CYP-Enzyme) stellen einen wesentlichen Bestandteil in der Verstoffwechselung von Arzneimittelwirkstoffen dar und kommen vor allem in der Leber vor. Ist die Anzahl oder Funktionsweise der CYP-Enzyme infolge genetischer Mutationen oder Beschädigungen verändert, kann dies zu den entsprechenden Auswirkungen auf die Verträglichkeit und Verstoffwechselung von Medikamenten führen. Die Analyse lässt sich um weitere Parameter ergänzen und ist nicht auf Cytochrome P450 beschränkt. Leider ist diese Laboruntersuchung seit dem Jahr 2016 keine gesetzliche Leistung mehr und muss privat finanziert werden.
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HWS-Instabilität
Durch die Hypermobilität direkt resultierende Folgen des EDS sind Instabilitäten in den Gelenken und in den Abschnitten der Wirbelsäule. Auch hier sei darauf hingewiesen, dass diese nicht bei jedem EDS-Betroffenen auftreten müssen und, wenn ja, in unterschiedlicher Ausprägung vorkommen.
Die HWS-Instabilität ist somit keine parallele Erkrankung im eigentlichen Sinne, sie nimmt wegen ihrer zumeist starken Auswirkungen auf viele Körperfunktionen und die Lebensqualität jedoch einen hohen Stellenwert ein und wird hier daher ebenfalls beschrieben. Die HWS-Instabilität betrifft häufig die Kopfgelenke, kann aber auch in den übrigen Abschnitten der Halswirbelsäule, beispielsweise in Form von Wirbelgleiten (Spondylolisthesis) auftreten. ggf. kann zunächst eine MRT der Halswirbelsäule im Liegen Hinweise auf den Zustand der dortigen Strukturen geben. Oft lassen sich so bereits Bandscheibenschäden oder degenerative Veränderungen an den Wirbeln erkennen. Sind die Symptome jedoch im Vergleich zum Befund unverhältnismäßig stark ausgeprägt oder weisen sie deutliche positionsabhängige Veränderungen auf, kann eine Funktionsuntersuchung im Upright-MRT Aufschluss geben. Auch diese Untersuchung ist keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherungen und oft wird die Kostenübernahme bei Antragstellung abgelehnt.
Small-Fibre-Neuropathie (SFN)
Die Small-Fibre-Neuropathie (SFN) ist eine Form der Polyneuropathien, die sowohl bei Personen mit POTS als auch bei Personen mit EDS sehr häufig auftritt. Da die SFN jedoch mit den standardmäßigen neurologischen Untersuchungen, wie z. B. der Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG), nicht erkannt werden kann, ist die Diagnosestellung oft schwierig.
Bei einer SFN sind die kleinen Nervenfasern unter der Haut beschädigt, sodass verschiedene Einflüsse (bspw. Einwirkung von Wärme und Kälte) verändert wahrgenommen werden. Sensibilitätsstörungen v. a. in den Füßen oder Händen sind typisch. Die SFN kann mit einer spezifischen Untersuchungsmethode, der quantitativ sensorischen Testung (QST), diagnostiziert werden. Bei dieser werden bestimmte Hautpartien unterschiedlichen Reizen ausgesetzt und die hierauf erfolgte Reaktion gemessen.
Diagnose und Behandlung
Die EDS-Diagnose ist komplex und basiert auf klinischen Untersuchungen, Symptomen und der Familienanamnese. Der Beighton-Score wird verwendet, um die Überbeweglichkeit der Gelenke zu messen. Bildgebende Verfahren wie MRT können bei der Beurteilung von Begleiterkrankungen wie HWS-Instabilität hilfreich sein.
Weder Ehlers-Danlos-Syndrome noch die Hypermobilität-Spektrum-Erkrankung sind heilbar. Daher konzentriert sich die Behandlung darauf, Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Gelenkschonende Hilfsmittel wie Bandagen, Orthesen, Gehilfen oder Kompressionskleidung können ebenfalls nützlich sein, genauso wie Schmerzmanagement, medikamentöse Therapie und physikalische Massnahmen wie Wärme- oder Kälteanwendungen. Auch Operationen sind möglich, können aber mit hohen Risiken verbunden sein und sollten daher nur nach gründlicher Prüfung und spezieller Vorbereitung erfolgen. Neben der physischen Behandlung sind auch psychosoziale Aspekte wichtig. Falls psychische Krankheiten, egal, ob im Zusammenhang mit EDS oder nicht, auftreten, sollten diese unbedingt mitbehandelt werden. Zudem ist der Austausch innerhalb von Selbsthilfegruppen und die Unterstützung, die Patientenorganisationen bieten, wertvoll.
Therapien, die für EDS-Patienten empfohlen werden, sind unter anderem alle, die mit geringer Belastung auf die Gelenke einhergehen, wie z. B. Radfahren, Schwimmen, Pilates, isometrische Übungen und ein gezieltes Core-Muskeltraining zur Stabilisierung der instabilen Gelenke. In der Physiotherapie sollten Haltungstraining und Stabilitätsübungen mit dem Aufbau der dafür verantwortlichen kleinen Muskeln im Vordergrund stehen. Aktivitäten mit Überstreckung bzw. Orthesen, Bandagen und Schuheinlagen werden genutzt, um eine passive Stabilisierung herbeizuführen und Luxationen zu vermeiden.
Ein Umdenken im Gesundheitswesen ist erforderlich
Die Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen EDS, Neurodivergenz und Begleiterkrankungen erfordern ein Umdenken im Gesundheitswesen - weg von isolierten Blickwinkeln, hin zu vernetzten, ganzheitlichen Ansätzen. Eine frühzeitige Diagnose und eine einfühlsame, sachkundige sowie klinische Betreuung von Betroffenen ist sehr hilfreich. Die Ärzteschaft sollte den Betroffenen mit Empathie begegnen.
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