Während man bei neurologischen Erkrankungen meist an das Gehirn im Kopf denkt, existiert ein komplexes Nervensystem im Magen-Darm-Trakt, das als enterisches Nervensystem (ENS) oder "Bauchhirn" bezeichnet wird. Die Neurogastroenterologie ist ein medizinischer Fachbereich, der sich mit der Erforschung und Behandlung von Erkrankungen befasst, die durch Störungen dieses Nervensystems entstehen.
Was ist die Neurogastroenterologie?
Die Neurogastroenterologie konzentriert sich auf die Erforschung und Behandlung von Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts, die auf einer Störung des enterischen Nervensystems beruhen. Typische neurogastroenterologische Erkrankungen umfassen Schluckstörungen, Refluxkrankheit, Reizmagen, Reizdarmsyndrom, chronische Verstopfung und Stuhlinkontinenz. Schätzungsweise 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung sind von solchen Erkrankungen betroffen.
Lokalisation und Funktion des enterischen Nervensystems
Das enterische Nervensystem erstreckt sich über den gesamten Magen-Darm-Trakt, von der Speiseröhre über den Magen, Dünn- und Dickdarm bis zum Enddarm. Es steuert und koordiniert sämtliche Verdauungsprozesse, einschließlich Schlucken, die Verdauung im Magen, Dünn- und Dickdarm sowie die Ausscheidung unverdaulicher Nahrungsbestandteile.
Diese komplexen Verdauungsleistungen erfordern ein fein abgestimmtes Zusammenspiel von Schleimhautzellen, Verdauungsdrüsen und der Muskulatur des Magen-Darm-Trakts, welches durch das enterische Nervensystem koordiniert wird.
Aufgrund der hohen Anzahl an Nervenzellen und der Komplexität der neuronalen Verknüpfungen wird das enterische Nervensystem auch als "Bauchhirn" bezeichnet. Ähnlich wie das Gehirn als zentrales Steuerorgan für Sinneseindrücke und Muskeln fungiert, steuert das enterische Nervensystem die Empfindungen und Muskeln im Magen-Darm-Trakt.
Lesen Sie auch: Enterisches Nervensystem vs. Vegetatives Nervensystem: Ein detaillierter Vergleich
Das "Bauchgefühl" aus medizinischer Sicht
Oftmals treffen Menschen Entscheidungen "aus dem Bauch heraus". Aus neurogastroenterologischer Sicht wird vermutet, dass die Hirn-Bauch-Achse ("Brain-Gut-Axis") dabei eine wichtige Rolle spielt. Stressfaktoren können sich über die Nervenverbindungen der Hirn-Bauch-Achse auf das enterische Nervensystem im Magen-Darm-Trakt auswirken. Negative Gefühle können so von Kopf in den Bauch fließen und dort Störungen wie Schmerzen, Krämpfe, Blähungen oder Durchfall verursachen. Diese Störungen werden wiederum über Nervenverbindungen, Hormone und Neurotransmitter an das Gehirn zurückgemeldet, was zu einem schlechten "Bauchgefühl" führt. Umgekehrt beeinflusst ein reibungslos funktionierender Magen-Darm-Trakt die Entscheidungsfindung positiv.
Psychosomatische Erkrankungen und die Hirn-Bauch-Achse
Die Hirn-Bauch-Achse reagiert empfindlich auf Stress, insbesondere chronischen Stress. Dies erklärt, warum bei neurogastroenterologischen Erkrankungen neben organischen Ursachen auch psychosomatische Faktoren berücksichtigt werden müssen. Psychosomatische Mitursachen sollten in das Therapiekonzept einbezogen werden. Umgekehrt kann das "Bauchgehirn" das Gehirn im Kopf beeinflussen und zu einer bestimmten emotionalen Bewertung von Beschwerden führen. Chronische Beschwerden im Bauchraum können somit Auslöser von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen sein.
Das Reizdarmsyndrom: Eine häufige Störung des enterischen Nervensystems
Das Reizdarmsyndrom ist eine der häufigsten Erkrankungen, die mit Störungen des enterischen Nervensystems in Verbindung stehen. Es äußert sich durch eine unkoordinierte Verdauung mit Symptomen wie Durchfall oder Verstopfung, Schmerzen und Blähungen. Es werden verschiedene Subtypen unterschieden, darunter der Durchfalltyp, der Verstopfungstyp, der wechselnde Typ sowie reine Bläh- oder Schmerztypen.
Die neurogastroenterologische Forschung hat gezeigt, dass beim Reizdarmsyndrom eine Mikroentzündung im Bereich des enterischen Nervensystems vorliegt, die zu einer Störung der Nervenfunktion im Magen-Darm-Trakt führt. Dieser "Reizzustand" wird typischerweise durch Mahlzeiten verstärkt, insbesondere bei Vorliegen einer Nahrungsmittelunverträglichkeit.
Obwohl es derzeit keine Medikamente gibt, die die Mikroentzündung ausheilen können, gibt es verschiedene Therapieoptionen zur Linderung der Symptome des Reizdarmsyndroms, einschließlich interdisziplinärer Ansätze wie Magen- oder Kreuzbeinschrittmacher.
Lesen Sie auch: Überblick zur ENS-Heilung
Wann sollte ein Neurogastroenterologe hinzugezogen werden?
Eine neurogastroenterologische Abklärung ist ratsam, wenn der Hausarzt oder der Gastroenterologe die Beschwerden nicht ausreichend behandeln kann. Auch Viszeralchirurgen können vor und nach Operationen am Magen-Darm-Trakt die Expertise des Neurogastroenterologen benötigen. Durch spezielle Diagnostik kann der Neurogastroenterologe zur optimalen OP-Planung beitragen, da jeder Eingriff am Magen-Darm-Trakt die Verdauungsprozesse beeinträchtigen kann.
Was kann man selbst tun?
Obwohl das enterische Nervensystem die Funktionen des Magen-Darm-Trakts unabhängig vom Gehirn steuern kann, ist es dennoch auf die Rückmeldungen und die Steuerung durch das Gehirn angewiesen. Die Hirn-Bauch-Achse kann durch Stress, Ängste und Depressionsneigung gestört werden, was zu verstärkten Empfindungen aus dem Bauchraum und Funktionsstörungen im Magen-Darm-Trakt führen kann. Entspannungs- und Atemübungen wie autogenes Training oder Yoga können jedoch positiv auf Bauchbeschwerden einwirken.
Das enterische Nervensystem im Detail
Das enterische Nervensystem (ENS) ist ein komplexes Netzwerk von Nervenzellen im Magen-Darm-Trakt, das oft als "zweites Gehirn" bezeichnet wird. Es besteht aus Millionen von Neuronen und reguliert die Verdauungsprozesse weitgehend autonom.
Aufbau des enterischen Nervensystems
Das ENS erstreckt sich vom Ösophagus bis zum Rektum und ist in die Wand des Verdauungstrakts eingebettet. Die Darmwand besteht aus mehreren Schichten:
- Mukosa (Schleimhaut): Die innerste Schicht, die das Epithel, die Lamina propria und die Muscularis mucosae umfasst.
- Submukosa: Eine Bindegewebsschicht, die Blut- und Lymphgefäße enthält.
- Muskularis: Eine Muskelschicht, die aus einer Ringmuskelschicht und einer Längsmuskelschicht besteht.
- Serosa oder Adventitia: Die äußerste Schicht, die den Verdauungstrakt umgibt.
Innerhalb dieser Schichten befinden sich zwei wichtige Nervengeflechte:
Lesen Sie auch: Das Bauchhirn im Detail
- Plexus submucosus (Meissner-Plexus): Befindet sich in der Submukosa und ist hauptsächlich für die Steuerung der Sekretion zuständig.
- Plexus myentericus (Auerbach-Plexus): Liegt zwischen der Ring- und Längsmuskelschicht und ist hauptsächlich für die Steuerung der Peristaltik verantwortlich.
Das ENS besteht aus verschiedenen Arten von Neuronen, darunter afferente Neuronen, Interneurone und Motoneurone. Interneuronketten, an denen intrinsische primär afferente Nervenzellen (IPANs) wirken, spielen eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Signalen aus dem Magen-Darm-Trakt und der Steuerung der Darmbewegung. Zusätzlich sind interstitielle Zellen von Cajal (Cajal’sche Zellen) vorhanden, die mit Muskelzellen in Verbindung stehen und rhythmische Kontraktionen auslösen können.
Aufgaben des enterischen Nervensystems
Das ENS steuert eine Vielzahl von Funktionen im Verdauungstrakt, darunter:
- Motilität: Die Steuerung der Muskelbewegungen, die den Darminhalt transportieren und mischen (Peristaltik).
- Sekretion: Die Regulierung der Freisetzung von Verdauungssäften und Hormonen.
- Absorption: Die Aufnahme von Nährstoffen.
- Blutfluss: Die Steuerung der Durchblutung des Magen-Darm-Trakts.
- Immunologische Funktionen: Die Beteiligung an Immunreaktionen im Darm.
Das ENS verarbeitet Signale von Dehnungsrezeptoren und anderen Sensoren im Darm und reagiert entsprechend, um die Verdauung zu optimieren.
Steuerung und Kommunikationswege
Obwohl das ENS weitgehend autonom arbeitet, kann es durch das sympathische und parasympathische Nervensystem moduliert werden. Der Parasympathikus, insbesondere der Nervus vagus, fördert die Verdauung, während der Sympathikus die Verdauungsfunktionen herunterfährt. Es gibt eine bidirektionale Kommunikation zwischen dem ENS und dem Gehirn, wobei mehr Informationen vom ENS zum Gehirn fließen als umgekehrt.
Störungen des enterischen Nervensystems
Störungen des ENS können zu einer Vielzahl von Problemen führen, darunter:
- Reizmagen und Reizdarm: Diese Erkrankungen sind wahrscheinlich auf Fehlregulationen des ENS zurückzuführen und können mit Symptomen wie Magenschmerzen, Durchfall oder Übelkeit einhergehen.
- Psychische Erkrankungen: Das ENS kann eine Rolle bei psychischen Erkrankungen spielen, da der Informationsfluss vom ENS zum Gehirn die Signalweiterleitung und den Hormonhaushalt beeinflussen kann.
- Morbus Hirschsprung: Eine angeborene Erkrankung, bei der Ganglienzellen in der Darmwand fehlen, was zu einer Verengung des Darms und einer Störung des Transports des Darminhalts führt.
- Reflux: Störungen im enterischen Nervensystem können sich durch weitere Symptome bemerkbar machen. Ein Reflux, also ein Zurückfließen des Mageninhalts in die Speiseröhre, löst womöglich Sodbrennen aus und zählt häufig auch zu den neurogastroenterologischen Krankheiten.
- Depression: Das Bauchgehirn und das Kopfgehirn kommunizieren über Neurotransmitter (Botenstoffe). Zu diesen gehören Serotonin („Glückshormon“) oder Dopamin (verbessert die Motivation). Da die Serotoninmenge im Bauch zusätzlich die vorhandene Menge an Serotonin im Gehirn beeinflusst, kann eine Störung im Darm bezüglich der Bildung des Hormons auch Auswirkungen auf die Psyche haben.
Bedeutung für die Forschung
Die Erforschung des enterischen Nervensystems ist ein aktives Gebiet der wissenschaftlichen Forschung. Studien deuten darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen der Magen-Darm-Funktion und dem emotionalen Wohlbefinden geben könnte. Die Entschlüsselung der komplexen Mechanismen des ENS könnte neue Therapieansätze für eine Vielzahl von Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts und des Nervensystems eröffnen.
tags: #enterisches #nervensystem #funktion