Die Kältetherapie, auch Kryotherapie genannt, gewinnt zunehmend an Bedeutung bei der Vorbeugung und Behandlung der Chemotherapie-induzierten peripheren Neuropathie (CIPN) und anderer Formen von Polyneuropathie. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte der Kältetherapie, einschliesslich ihrer Anwendung, Wirksamkeit und neuesten Forschungsergebnisse.
Chemotherapie-induzierte periphere Neuropathie (CIPN)
Eine häufige Nebenwirkung der Chemotherapie, insbesondere bei der Gabe taxanhaltiger Medikamente wie Paclitaxel, Docetaxel und Nab-Paclitaxel, ist die induzierte Polyneuropathie (CIPN) und das Hand- und Fußsyndrom (HFS). Diese schmerzhaften Nervenschädigungen schränken die Lebensqualität befristet, manchmal aber auch dauerhaft massiv ein. Sie entstehen, wenn Chemotherapeutika in die kleinsten Blutgefäße (Kapillaren) der Hände und Füße eindringen und dort Missempfindungen mit unterschiedlichem Schweregrad wie Sensibilitätsverlust, „Temperaturverlust“ bis hin zu Gleichgewichtsstörungen hervorrufen.
Die während der Chemotherapie verabreichten Zytostatika wirken systemisch, d. h. auf den ganzen Körper. Das führt dazu, dass nicht nur die Krebszellen, sondern auch alle Körperzellen unter dem Einfluss der Medikamente stehen. Um zu verhindern, dass die Chemotherapeutika bis in die Kapillaren der Extremitäten gelangen, kann die Gewebetemperatur gradgenau und konstant abgesenkt werden.
Präventive Maßnahmen
Bei Patientinnen, die mit taxanhaltigen Medikamenten behandelt werden, kann dieses computergesteuerte, gradgenaue Thermoheilverfahren prophylaktisch und parallel mit der Kopfhautkühlung zum Einsatz kommen. Eine Chemotherapie mit 16 Sitzungen erstreckt sich über ein halbes Jahr. Zeitgleich können bei einem Hilotherm-Gerät mit zwei Behandlungsplätzen bei 400 Zyklen Chemotherapie jährlich durchschnittlich nur 25 betroffene Frauen behandelt werden. Neben dem Team aus Ärzt*innen und Schwestern werden die Patientinnen bei Einsatz von Kühlkappen-Geräten zusätzlich von speziell geschultem Personal begleitet. Die Krankenkassen übernehmen derzeit für gesetzlich versicherte Patientinnen weder die Kosten für die Kopfhautkühlung noch die Kosten für eine Hand- und Fußkühlung.
Wie funktioniert die Kältetherapie?
Die Kryotherapie versucht die Schädigung der Nervenfasern zu verhindern, indem sie die Durchblutung durch einen Kältereiz vermindert. Die Behandlung ist einfach, aber zunehmend durch Studien untersucht. Eine Vielzahl von peripheren Nerven endet in der Haut. Werden die Nerven geschädigt, kann ein Sensibilitätsausfall die Folge sein. Ein Frühsymptom einer Polyneuropathie können Missempfindungen wie Ameisenkribbeln sein und später eine Beeinträchtigung der Schmerzen.
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Studien haben belegt, dass es hilfreich sein kann, die Durchblutung in Fingern und Füßen während der Therapie zu reduzieren. Dadurch wird dort die Konzentration des Medikaments, das die Nerven schädigen kann, verringert.
Methoden der Kältetherapie
- Kühlhandschuhe und Kühlsocken: Hierbei werden die Hände und Füße während der Chemotherapie mit Kühlhandschuhen und Kühlsocken gekühlt.
- Eiswasserbäder: In einigen Studien wurde die Kühlung nur mit Eisbeuteln oder Eimern mit Eiswasser durchgeführt.
- Hilotherapy®: Bei der sogenannten Hilotherapy® ziehen sich die Blutgefäße durch eine kontrollierte Hand-Fuß-Kühlung während der Chemotherapie zusammen. Die Ergebnisse der vorbeugenden Hilotherapy® sind vielversprechend und überzeugend. Schwere Verläufe können nun offensichtlich verhindert werden.
Studienergebnisse zur Wirksamkeit der Kältetherapie
Eine randomisierte Studie aus Japan im Journal of the National Cancer Institute (2017; 110: djx178) zeigte, dass die gezielte Abkühlung von Händen und Füßen während der Therapie verhindern kann, dass Patienten nach einer Chemotherapie eine periphere Neuropathie entwickeln.
Ein Team um Hiroshi Ishiguro von der Universität Kyoto bat 36 Patientinnen, die zur Behandlung ihres Mammakarzinoms wöchentlich mit Paclitaxel in der Dosis von 80 mg/m2 behandelt wurden, 15 Minuten vor der 60-minütigen Infusion auf der einen Seite einen gefrorenen Handschuh und eine gefrorene Socke anzuziehen und sie erst 15 Minuten nach dem Ende der Infusion wieder abzulegen. Die andere Seite diente als Vergleich.
Die Ergebnisse waren eindeutig und trotz der geringen Teilnehmerzahl der Studie statistisch signifikant. Auf der behandelten Hand wurde bei 27,8 Prozent der Patientinnen eine verminderte Berührungsempfindlichkeit nachgewiesen, auf der unbehandelten Hand waren es 80,6 Prozent. Dies ergab eine Odds Ratio (OR) von 20,00 mit einem 95-Prozent-Konfidenzintervall von 3,20 bis 828,96. Bei den Füßen fiel der Berührungstest bei 25,0 versus 63,9 Prozent positiv aus (OR unendlich; 3,32 bis unendlich). Störungen der Wärmeempfindlichkeit waren an den behandelten Händen (8,8 versus 32,4 Prozent) und Füßen (33,4 versus 57,6 Prozent) ebenfalls seltener, und die Patientinnen klagten seltener über störende Symptome an Händen (2,8 versus 41,7 Prozent) und Füßen (2,8 versus 36,1 Prozent).
POLAR Studie des NCT Heidelberg
Mit der POLAR Studie haben Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte des NCT Heidelberg untersucht, ob durch Kühlung oder Kompression der Hände die Entstehung einer Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie (CIPN) bei Patientinnen mit Brustkrebs verhindert werden kann.
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In der randomisierten klinischen Studie wurden 122 Brustkrebspatient:innen in zwei Gruppen eingeteilt: Eine Gruppe erhielt während der Chemotherapie gelgefüllte Kühlhandschuhe, die andere Gruppe eine Kompression mittels chirurgischer Handschuhe, die eine Nummer zu klein gewählt wurden.
Die Ergebnisse zeigen eine signifikante Reduktion der hochgradigen CIPN (CTCAE Grad ≥ 2) in beiden Interventionsgruppen:
- Handkühlung: 29 % der Patientinnen entwickelten in der gekühlten Hand eine hochgradige CIPN, verglichen mit 50 % in der unbehandelten Hand
- Kompression: 24 % der Patientinnen entwickelten eine hochgradige CIPN in der Hand mit Kompressions-Handschuh, verglichen mit 38 % in der unbehandelten Hand.
Beide Methoden reduzierten somit das Risiko erheblich. Die Ergebnisse legen nahe, dass Kühlung und Kompression einfache und kostengünstige Maßnahmen sind, die die Lebensqualität von Brustkrebspatient:innen verbessern können.
Kältetherapie bei anderen Formen von Polyneuropathie
Neben der CIPN kann die Kältetherapie auch bei anderen Formen von Polyneuropathie Linderung verschaffen.
Eisbaden und Nervenbeschwerden
Kälte beruhigt die Nerven, mindert deren Schmerzweiterleitung und ist deswegen eine ernstzunehmende Therapie für Menschen mit Polyneuropathie, MS oder RLS. Auch Sportler profitieren vom regelmäßigen Sprung in die Eistonne, da Schadstoffe wie Milchsäure etc. abgebaut werden.
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Für Menschen mit Polyneuropathie, MS oder RLS kann Kälte Wunder wirken. Studien haben gezeigt, dass regelmäßige Kälteexposition die Schmerzweiterleitung in den Nerven dämpft und Entzündungen reduziert. Eine Studie der Universität Oulu in Finnland (2020) mit 50 Probanden zeigte, dass regelmäßiges Eisbaden die Symptome von Polyneuropathie signifikant lindern kann.
Nerven und Kälte
Kälte bewirkt, dass die Nervenzellen weniger empfindlich auf Reize reagieren. Wenn du ins kalte Wasser gehst, verengen sich die Blutgefäße in den peripheren Nerven, wodurch die Schmerzweiterleitung reduziert wird. Besonders bei Polyneuropathie, bei der die Nervenenden in den Gliedmaßen beschädigt sind, kann Eisbaden Linderung bringen. Bei RLS-Patienten hat sich gezeigt, dass ein kaltes Tretbecken vor dem Schlafengehen die Symptome reduzieren kann.
Weitere Vorteile von Eisbaden
Neben den bereits erwähnten Studien gibt es zahlreiche weitere Forschungsarbeiten, die die Vorteile der Kältetherapie belegen. Eine Studie der Universität Cambridge (2018) untersuchte die Auswirkungen von Kälte auf das Immunsystem und fand heraus, dass regelmäßiges Eisbaden die Anzahl der weißen Blutkörperchen und damit die Abwehrkräfte erhöhen kann. Eine Langzeitstudie der Universität von Tromsø in Norwegen (2019) untersuchte über 20 Jahre die Auswirkungen von Kälteexposition auf die Lebenserwartung. Die Ergebnisse waren erstaunlich: Teilnehmer, die regelmäßig Eisbaden praktizierten, zeigten eine signifikant geringere Sterblichkeitsrate und ein geringeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Aktualisierte Leitlinien und Empfehlungen
Eine Nervenschädigung gilt als gefürchtete Nebenwirkung der Chemotherapie. Die aktualisierte Supportiv-Leitlinie rät bei einer Taxan-Therapie zur Vorbeugung. Kryotherapie mit Kühlhandschuhen und Kühlsocken sowie Kompression mit Handschuhen und Strümpfen werden empfohlen.
Kryotherapie und Kompression
Kälteanwendungen an Händen und Füßen verengen die Gefäße. Man geht davon aus, dass eine Kryotherapie, die zeitgleich zur Gabe der Chemotherapie durchgeführt wird, die Aufnahme des Chemotherapeutikums in Fingern und Zehen verringert. Dies beugt Schädigungen feinster Strukturen in den Händen und Füßen vor. Eingesetzt werden für die Kryotherapie zum Beispiel aufwendig vorbereitete Kühlhandschuhe und Kühlsocken. Patientinnen und Patienten tragen diese nicht nur während der Chemotherapie-Gabe, sondern auch 15 bis 30 Minuten davor und danach. Um die notwendige niedrige Temperatur zu halten, ist im Verlauf der Behandlung ein Wechsel auf ein weiteres Paar vorgekühlter Handschuhe und Socken notwendig.
Ein weiterer Ansatz ist die mechanische Kompression, die praktisch leichter umsetzbar ist. Dabei tragen Betroffene eng anliegende chirurgische Handschuhe (kleiner als die eigentliche Handgröße) und Kompressionsstrümpfe. Durch die Verengung der Gefäße soll auch mit dieser Methode die neurotoxische Schädigung minimiert werden.
Studien, in denen Kryotherapie direkt mit Kompression verglichen wurde, zeigen eine ähnlich gute Verringerung der neurologischen Beschwerden. Aktuell laufen weitere Studien zur Kälte- und Kompressionstherapie.
Empfehlungen bei speziellen Tumorerkrankungen
- Gastrointestinale Tumoren: Studien zur Anwendung von Kryotherapie und Kompressionsbehandlung liegen nicht nur für Brustkrebspatientinnen unter einer Taxan-Therapie vor. Es gibt auch Daten zur Behandlung mit Oxaliplatin bei gastrointestinalen Tumoren. Die Datenlage wird in der Leitlinie Supportivtherapie 2025 jedoch als nicht ausreichend für eine Empfehlung beschrieben.
- Harnblasenkarzinom: Die deutsche S3-Leitlinie Harnblasenkarzinom, veröffentlicht im März 2025, geht noch weiter: Auch wenn zur Wirksamkeit einer Handkühlung bei Behandlungen des Harnblasenkarzinoms, wie mit Vinblastin, Cisplatin, Carboplatin oder Enfortumab Vedotin, bisher keine aussagekräftigen Studiendaten vorliegen, kann diese dennoch erwogen werden. Laut der Leitlinie ist eine Kompressionsbehandlung mit chirurgischen Handschuhen aufgrund der einfachen und kostengünstigen Durchführung ebenfalls möglich.
- Brustkrebs: Auch die Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie (AGO), Kommission Mamma, beurteilt die Kryotherapie (mit Kühlhandschuhen und Kühlstrümpfen) sowie die Kompressionstherapie (mit chirurgischen Handschuhen und Kompressionsstrümpfen) als Maßnahmen mit begrenztem Nutzen, die durchgeführt werden können (+ Empfehlung). Sie setzt diese mit den Empfehlungen zum Funktionstraining von Händen und Füßen gleich.
Mögliche Nebenwirkungen
Die Kryotherapie wurde von den meisten Patientinnen gut vertragen. Zwar klagten 8,2 Prozent über Schmerzen, 0,4 Prozent über sensible Anomalien und 4,2 Prozent über eine unangenehme Kälte. Doch keine Patientin habe die Handschuhe oder Socken deswegen vorzeitig ausgezogen.
Chan et al. 2022 geben an, dass als häufigste Nebenwirkung von Kälte und Kompression Hautrötungen und -irritationen sowie Taubheitsgefühle und Kribbeln bei etwa einem Viertel der Patientinnen und Patienten beobachtet wurden. Erfrierungen und Blasen durch Kälte traten deutlich seltener auf.
Vorsichtsmassnahmen beim Eisbaden
Obwohl Eisbaden viele Vorteile bietet, ist Vorsicht geboten. Beginne langsam und erhöhe die Dauer der Kälteexposition schrittweise. Menschen mit Herz-Kreislauf-Problemen oder Bluthochdruck sollten vor dem Eisbaden unbedingt ihren Arzt konsultieren. Vermeide es, alleine ins kalte Wasser zu gehen, und achte darauf, dich danach gründlich aufzuwärmen. Ein guter Tipp ist, zuerst die Extremitäten an die Kälte zu gewöhnen. Beginne mit Händen und Füßen, bevor du den ganzen Körper ins kalte Wasser tauchst.
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