Die Ergotherapie spielt eine entscheidende Rolle in der Rehabilitation und Behandlung von Patienten mit neurologischen Erkrankungen. Dieses Fachgebiet zielt darauf ab, Menschen mit neurologischen Störungen dabei zu unterstützen, ihre Selbstständigkeit im Alltag wiederzuerlangen oder zu erhalten und ihre Lebensqualität zu verbessern. Das vorliegende Werk bietet einen umfassenden Einblick in die ergotherapeutische Praxis im Bereich der Neurologie und richtet sich an Ergotherapieschüler, Berufsanfänger, Wiedereinsteiger sowie erfahrene Therapeuten, die ihr Wissen aktualisieren möchten.
Grundlagen der Ergotherapie in der Neurologie
Die Ergotherapie in der Neurologie konzentriert sich auf die Behandlung von Menschen, die aufgrund von neurologischen Erkrankungen oder Verletzungen in ihrenHandlungsfähigkeiten eingeschränkt sind. Zu den häufigsten neurologischen Störungsbildern, die ergotherapeutisch behandelt werden, gehören Schlaganfall (Hemiplegie), Schädel-Hirn-Trauma, Multiple Sklerose, Parkinson-Syndrome, Querschnittlähmung sowie verschiedene Sensibilitätsstörungen. Ziel ist es, die Patienten in ihren alltäglichen Aktivitäten zu unterstützen, ihre motorischen, sensorischen, kognitiven und psychischen Fähigkeiten zu fördern und ihnen somit eine grösstmögliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.
Ergotherapeutische Behandlungsprozesse
Der ergotherapeutische Behandlungsprozess in der Neurologie umfasst mehrere Schritte. Zunächst erfolgt eine umfassende ergotherapeutische Befunderhebung und Evaluation, um die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Patienten zu ermitteln. Dabei werden verschiedene Assessments eingesetzt, um die motorischen Funktionen, die Sensibilität, die kognitiven Fähigkeiten, die Wahrnehmung und die Alltagsaktivitäten zu beurteilen. Auf Grundlage der Befunderhebung werden gemeinsam mit dem Patienten und gegebenenfalls seinen Angehörigen realistische Therapieziele festgelegt. Die Therapieplanung berücksichtigt die spezifischen Störungsbilder und die individuellen Bedürfnisse des Patienten.
Internationale ergotherapeutische Modelle
In der Ergotherapie werden verschiedene Modelle und Konzepte angewendet, die den therapeutischen Prozess leiten und strukturieren. Zu den wichtigsten internationalen ergotherapeutischen Modellen gehören das Canadian Model of Occupational Performance (CMOP), das Model of Human Occupation (MOHO) und das Occupational Performance Model (Australia) (OPMA). Diese Modelle bieten einen Rahmen für die klientenzentrierte Arbeit und berücksichtigen die Bedeutung von Betätigung, Umwelt und Person für die Handlungsfähigkeit des Menschen. Sie helfen Therapeuten, die komplexen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Faktoren zu verstehen und die Therapie entsprechend anzupassen.
Relevante Störungsbilder und ihre ergotherapeutische Behandlung
Die Ergotherapie in der Neurologie befasst sich mit einer Vielzahl von Störungsbildern, die jeweils spezifische Herausforderungen für die Patienten darstellen. Zu den häufigsten Störungsbildern gehören:
Lesen Sie auch: Aktiver Alltag trotz MS durch Ergotherapie
- Hemiplegie: Halbseitige Lähmung, meist nach einem Schlaganfall, die zu motorischen Einschränkungen, Sensibilitätsstörungen und kognitiven Beeinträchtigungen führen kann.
- Erworbene Hirnschädigungen: Schädigungen des Gehirns, die durch Unfälle,Entzündungen oder andere Ereignisse verursacht werden und zu vielfältigen Beeinträchtigungen führen können.
- Multiple Sklerose: Chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die zu motorischen, sensorischen und kognitiven Beeinträchtigungen führen kann.
- Parkinson-Syndrome: Neurodegenerative Erkrankungen, die zu Bewegungsstörungen, Muskelsteifigkeit und Zittern führen können.
- Querschnittlähmung: Schädigung des Rückenmarks, die zu Lähmungen und Sensibilitätsstörungen unterhalb der Verletzungshöhe führt.
- Sensibilitätsstörungen: Beeinträchtigungen derSensibilität, die zu Taubheit, Kribbeln oder Schmerzen führen können.
- Schluckstörungen (Dysphagie): Beeinträchtigungen des Schluckakts, die zuAspiration und Mangelernährung führen können.
- Probleme der Awareness: EingeschränkteRealitätswahrnehmung des eigenen Zustandes.
- Neglect und Extinktion: Aufmerksamkeitsstörungen, die dazu führen, dassReize auf einer Körperseite oder im Raum vernachlässigt werden.
- Probleme der visuellen Wahrnehmungsleistungen: Beeinträchtigungen derFähigkeit, visuelle Informationen zu verarbeiten und zu interpretieren.
- Pusher-Symptomatik: Störung der Körperwahrnehmung, die dazu führt, dassPatienten sich aktiv zur gelähmten Seite schieben.
- Störungen der visuellen Raumwahrnehmung und Raumkognition: Beeinträchtigungen der Fähigkeit, sich im Raum zu orientieren und räumliche Beziehungen zu verstehen.
- Apraxien: Störungen derHandlungsplanung und -ausführung, die dazu führen, dass PatientenHandlungen nicht mehr korrekt ausführen können, obwohl die motorischenFähigkeiten vorhanden sind.
- Störung der Exekutivfunktionen: Beeinträchtigungen derFähigkeit,Handlungen zu planen, zu organisieren und zu überwachen.
- Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen: Beeinträchtigungen derFähigkeit, sich zu konzentrieren, Informationen zu speichern undabzurufen.
- Aphasie: Sprachstörungen, die die Fähigkeit beeinträchtigen, Sprache zuverstehen oder zu produzieren.
Die ergotherapeutische Behandlung dieser Störungsbilder umfasst verschiedene Massnahmen, die darauf abzielen, dieFunktionsfähigkeit des Patienten zu verbessern, seine Selbstständigkeit im Alltag zu fördern und seine Lebensqualität zu steigern. Dazu gehören unter anderem:
- Motorisches Training: Übungen zur Verbesserung derKraft, Ausdauer, Koordination und Beweglichkeit.
- Sensibilitätstraining: Übungen zur Verbesserung derSensibilität und zur Desensibilisierung bei Schmerzen.
- Kognitives Training: Übungen zur Verbesserung derAufmerksamkeit, des Gedächtnisses, der Exekutivfunktionen und derWahrnehmung.
- Alltagstraining: Übungen zur Verbesserung derFähigkeiten in alltäglichen Aktivitäten wieWaschen, Anziehen, Essen, Kochen und Einkaufen.
- Hilfsmittelberatung: Beratung zur Auswahl und Anpassung vonHilfsmitteln, die die Selbstständigkeit des Patienten unterstützen können.
- Umweltanpassung: Anpassung derWohnumgebung an die Bedürfnisse des Patienten, um Barrieren zu reduzieren und dieSelbstständigkeit zu fördern.
Behandlungselemente in der Ergotherapie
Die ergotherapeutische Behandlung setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen, die je nach Bedarf des Patienten individuell kombiniert werden. Zu den wichtigsten Behandlungselementen gehören:
- Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL): Training von alltäglichen Aktivitäten wieWaschen, Anziehen, Essen, Kochen und Einkaufen.
- Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL): Training von komplexerenAlltagsaktivitäten wie Telefonieren,Bedienen vonHaushaltsgeräten,Verwalten vonFinanzen und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.
- Handwerkliche und gestalterischeTechniken: Einsatz vonhandwerklichen und gestalterischenTechniken zur Förderung der motorischen, sensorischen,kognitiven undpsychischen Fähigkeiten.
- Spiele: Einsatz von Spielen zurFörderung der motorischen, sensorischen,kognitiven und sozialen Fähigkeiten.
- Beratung und Schulung: Beratung undSchulung vonPatienten und Angehörigen zu Themen wieKrankheitsbild,Therapiemöglichkeiten,Hilfsmittel undUmweltanpassung.
Gängige Konzepte und Methoden in der neurologischen Ergotherapie
In der neurologischen Ergotherapie werden verschiedene Konzepte und Methoden angewendet, die auf unterschiedlichen theoretischen Grundlagen basieren. Zu den gängigsten Konzepten und Methoden gehören:
- Bobath-Konzept: Ein ganzheitlicher Ansatz, der die Förderung der normalenBewegungsmuster und die Hemmung pathologischer Bewegungsmuster zum Ziel hat.
- Perfetti-Konzept: Ein Ansatz, der die Bedeutung der Wahrnehmung für die Bewegung betont und die Patienten dazu anleitet, ihre Bewegungen bewusst zu steuern.
- Johnstone-Konzept: Ein Ansatz, derHilfsmittel und Lagerungstechniken einsetzt, um dieBewegung zu erleichtern undSpastik zu reduzieren.
- F.O.T.T. (FunktionelleOrga-nisationstherapie): Ein Ansatz zur Behandlung vonSchluckstörungen, der dieFunktionsfähigkeit der beteiligtenMuskeln und Nerven verbessern soll.
- Affolter-Modell: Ein Ansatz, der die Bedeutung der sensorischenInformationen für dieHandlungsplanung und -ausführung betont und diePatienten dazu anleitet, ihreUmwelt aktiv zu erkunden.
- H.O.D.T. (Handlungs-orientierteDiagnostik und Therapie): Ein handlungsorientierter Ansatz, bei dem derPatient im Mittelpunkt steht und seine individuellenBedürfnisse und Ziele berücksichtigt werden.
- A.O.T. (AlltagsorientierteTherapie): Ein Ansatz, der dieTherapie in den Alltag desPatienten integriert und dieFähigkeiten in realen Situationen trainiert.
- Neurotraining nach V. Schweizer: Ein Ansatz, der auf denPrinzipien derNeuroplastizität basiert und dieFähigkeit des Gehirns nutzt, sich anzupassen und neueVerbindungen zu bilden.
Neben diesen etablierten Konzepten werden auch andereAnsätze wie LiN ( лечение методом нейростимуляции), FBL (Funktionelle Bewegungslehre), PNF (Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation), Spiraldynamik, Feldenkrais, NLP (Neurolinguistisches Programmieren), Forced Use, Repetitives Üben, Arm-Basis-Training und Spiegeltherapie eingesetzt. Die Auswahl der geeigneten Methode hängt von den individuellen Bedürfnissen und Zielen des Patienten ab.
Die Rolle von Clinical Reasoning und evidenzbasierter Praxis
Clinical Reasoning, also das klinische Denken, spielt eine entscheidende Rolle in der ergotherapeutischen Behandlung. Es umfasst die Fähigkeit, Informationen zu sammeln, zu analysieren und zu interpretieren, um fundierte Entscheidungen über die Therapie zu treffen. Evidenzbasierte Praxis bedeutet, dass die Therapieentscheidungen auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz getroffen werden. Ergotherapeuten sollten sich daher kontinuierlich über die neuesten Forschungsergebnisse informieren und ihre Therapie entsprechend anpassen. Cochrane-Reviews zu Themen wie Schlaganfall, erworbene Hirnschädigung, Multiple Sklerose sowie M. Parkinson können dabei eine wertvolle Unterstützung bieten.
Lesen Sie auch: Handgelenk Ganglion
Lesen Sie auch: Bedeutung der Ergotherapie bei Demenz
tags: #ergotherapie #im #arbeitsfeld #neurologie