Funktionelle Elektrostimulation (FES) in der Schlaganfalltherapie: Ein umfassender Überblick

Ein Schlaganfall stellt eine der häufigsten Ursachen für langfristige Behinderungen in den Industrieländern dar. Allein in Deutschland erleiden jährlich etwa 250.000 Menschen einen Schlaganfall, was nicht selten zu motorischen Beeinträchtigungen führt, wobei meist eine Körperhälfte von Lähmungen (Paresen) betroffen ist. Trotz intensiver Rehabilitationsmaßnahmen bleibt etwa ein Drittel der Betroffenen dauerhaft behindert, was den Bedarf an neuen Verfahren und technischen Hilfsmitteln zur Beschleunigung der Genesung unterstreicht. Die funktionelle Elektrostimulation (FES) hat sich als vielversprechende Therapieoption etabliert, um die motorische Erholung nach einem Schlaganfall zu unterstützen.

Was ist ein Schlaganfall?

Ein Schlaganfall ist ein plötzlicher Ausfall von Hirnfunktionen, verursacht durch eine Durchblutungsstörung oder Blutung im Gehirn. Er kann zu Lähmungen, Sprach- und Bewegungsstörungen führen. Innerhalb von Sekunden entscheidet sich, wie die nächsten Wochen, Monate oder Jahre aussehen werden. Ein Schlaganfall entsteht, wenn das Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird - entweder, weil ein Gefäß verstopft ist (ischämischer Schlaganfall), oder weil es zu einer Blutung kommt (hämorrhagischer Schlaganfall). Beide Varianten führen dazu, dass Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen absterben. Je nachdem, welche Areale betroffen sind, kann das unterschiedlichste Auswirkungen haben: von Sprachstörungen bis hin zu halbseitigen Lähmungen.

Gerade die motorischen Ausfälle stellen viele Betroffene vor eine fast surreale Erfahrung. Der Wille zur Bewegung ist da, doch der Körper reagiert nicht. Manchmal ist die Muskulatur schlaff und kraftlos, manchmal verkrampft sie sich unwillkürlich. In beiden Fällen ist das Zusammenspiel zwischen Gehirn, Nerven und Muskulatur gestört.

Grundlagen der funktionellen Elektrostimulation (FES)

Die FES ist eine therapeutische Methode, bei der elektrische Impulse gezielt eingesetzt werden, um Muskeln zu aktivieren, deren natürliche Steuerung durch das Nervensystem beeinträchtigt ist. Ziel ist es, funktionelle Bewegungen wie Gehen, Greifen oder Stehen wiederherzustellen oder zu verbessern. Die Stimulation erfolgt indirekt über Klebeelektroden auf der Haut, wobei die Nerven, die die gelähmten Muskeln versorgen, stimuliert werden, da diese eine geringere Reizschwelle besitzen als die Muskelfasern selbst.

Wie funktioniert FES?

Bei einer Schädigung am Zentralen Nervensystem (ZNS) - am häufigsten hervorgerufen durch einen Schlaganfall, ein Schädel-Hirn-Trauma, Multiple Sklerose sowie eine infantile Zerebralparese - ist oft die Reizleitung der Nerven vom Gehirn zu Fuß und/oder Hand gestört. Die Muskeln sind in den Extremitäten zwar noch funktionsfähig, können aber nicht mehr zielgerichtet angesteuert werden. Die Folge: Der Patient ist in der Bewegung eingeschränkt und kann die Füße - oder die Hände - nicht mehr benutzen.

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Abhilfe schafft in vielen Fällen eine Funktionelle Elektrostimulation (FES). Mit der FES kann ein direkter Behinderungsausgleich bewirkt werden, sodass der Patient die eingeschränkte Extremität wieder im Alltag einsetzen kann. Durch die FES-Systeme kann ein Betroffener das Laufen wieder erlernen oder verbessern, oder aber auch das Greifen.

Angesprochen werden über die elektrischen Impulse die noch funktionierenden Nerven in den Gliedmaßen. Diese lösen eine Muskelkontraktion aus, so dass zum Beispiel der Fuß angehoben wird, um entweder das Gangbild der Patienten erheblich zu verbessern oder im besten Fall überhaupt wieder gehen zu können. Dieser Stromimpuls wird bei jedem Betroffenen individuell auf seine Bedürfnisse eingestellt. So kann zum Beispiel die Stromstärke oder auch die Stromlänge reguliert werden. Auch der Schrittzyklus wird hier individuell erfasst und eingestellt.

Vorteile der FES

Im Gegensatz zu anderen Maßnahmen zur Bewegungsunterstützung wird bei der FES die betroffene Muskulatur aktiv einbezogen. Dies wirkt sich in zweierlei Hinsicht positiv aus:

  1. Förderung der motorischen Bahnung: Körpereigene Sensoren für Muskelkraft und -länge senden verstärkt Signale an das Rückenmark und Gehirn, was den Prozess der motorischen Bahnung fördert.
  2. Muskelaufbau und -erhalt: FES kann Muskeln aufbauen bzw. dem Abbau von Muskeln als Folge der Lähmung entgegenwirken.

Einsatzbereiche und Ziele der FES nach Schlaganfall

Die Elektrotherapie passt sich diesen Situationen an - sie ist kein starres Programm, sondern ein flexibles Werkzeug. Wo sie konkret helfen kann:

  • Aktivierung bei schlaffen Lähmungen: Wenn Muskeln „vergessen“ haben, wie sie sich bewegen sollen, kann Reizstrom ihnen einen ersten Impuls geben - manchmal reicht das, um den Funken wieder zu entzünden.
  • Spastikreduktion: Bestimmte Stromformen wirken entspannend auf überaktive Muskeln. Sie helfen, den Tonus zu regulieren und Bewegungen geschmeidiger zu machen.
  • Funktionelles Training mit Strom: Bei der funktionellen Elektrostimulation (FES) werden gezielt Bewegungen angesteuert - z. B. das Anheben des Fußes beim Gehen. Der Strom kommt genau im richtigen Moment und unterstützt das Bewegungsmuster.
  • Training in der Frührehabilitation: Gerade in der Akutphase, wenn Eigenbewegung noch nicht möglich ist, kann Elektrotherapie einen ersten Zugang schaffen - eine Einladung an das Gehirn, wieder Kontakt aufzunehmen.

Ziele, die erreichbar sind:

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  • Verbesserung der Muskelkraft
  • Förderung der Durchblutung und Geweberegeneration
  • Unterstützung der motorischen Lernprozesse
  • Stärkung der Selbstwirksamkeit: „Ich kann etwas bewirken.“

Anwendungsbeispiele der FES

  • Fußheberschwäche: Viele Patienten leiden nach einem Schlaganfall an einer Fußheberschwäche, auch „Fallfuß” genannt. Die Sicherheit beim Gehen - vor allem auf unebenen Flächen - ist dadurch erheblich eingeschränkt. Das Bioness L300 Go bewirkt durch einen am Bedienfeld integrierten Stimulator eine sofortige Hebung des Fußes während des Gehens, sodass die Gefahr des Stolperns minimiert wird. Im Falle einer zusätzlichen Schwächung der Oberschenkelmuskulatur verfügt das L300 Go zusätzlich über eine Oberschenkelstimulationsmanschette.
  • Armrehabilitation: Ein frühzeitiger Einsatz einer speziellen Kombinationstherapie aus Gehirnsignalerkennung und elektrischer Muskelstimulation kann die Erholung der Armbeweglichkeit nach einem Schlaganfall deutlich verbessern. Zu diesem Ergebnis kommt das Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Dr. Catherine Sweeney-Reed, Leiterin der Arbeitsgruppe Neurokybernetik und Rehabilitation an der Universitätsklinik für Neurologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

Brain-Computer-Interface (BCI) und FES

Eine innovative Weiterentwicklung der FES stellt die Kombination mit einem Brain-Computer-Interface (BCI) dar. Diese Technologie erfasst Gehirnsignale und übersetzt sie in Befehle, die von einem Gerät ausgeführt werden. In einer Studie der Universitätsmedizin Magdeburg untersuchten Forschende eine Therapie, die eine Gehirn-Computer-Schnittstelle (BCI) mit Funktioneller Elektrostimulation (FES) kombiniert. Das BCI-System überwacht die Hirnaktivität und steuert gezielt die FES-Vorrichtung, die elektrische Impulse an die Muskeln der Teilnehmenden sendet, um Bewegungen zu unterstützen und die Erholung zu fördern.

Studienergebnisse zur BCI-FES-Therapie

Die Ergebnisse einer Studie deuten darauf hin, dass ein früher Start mit BCI-FES die motorische Erholung nach einem Schlaganfall signifikant verbessern kann. Dabei ist entscheidend, ob der Zeitpunkt der Erkennung eines Bewegungsversuchs im Gehirn mit dem Beginn der Muskelstimulation synchronisiert wird. Wenn beides nahezu gleichzeitig erfolgt, wird die Wiederherstellung der Verbindung zwischen Hirnsignalen und Bewegungen unterstützt. Darüber hinaus lieferten auch elektrophysiologische Messungen Hinweise darauf, dass die BCI-FES-Therapie die funktionale Verbindung zwischen Hirnaktivität und Muskelbewegung wiederherstellt.

FES-Ergometer-Training

Das Fahrradfahren mit einem Ergometer gehört mittlerweile zur Standardtherapie eines jeden Schlaganfallpatienten. Mittels spezieller Ergometer können auch schwer betroffene Patienten solche Übungen vom Rollstuhl aus durchführen. Zur optimalen Unterstützung oder Hemmung der Bewegung in Abhängigkeit vom Zustand der Patienten werden häufig Elektromotoren in die Ergometer integriert.

In Zusammenarbeit mit der Firma HASOMED wurde ein motorunterstütztes Ergometersystem mit Elektrostimulation entwickelt. Fahrradfahren mit Elektrostimulation begünstigt einen schnelleren Muskelaufbau und stellt dem zentralen Nervensystem intensivere Bewegungsreize zur Verfügung. Des Weiteren hilft die Stimulation dem Patienten bei der Einübung des korrekten Bewegungsmusters. Mit dem realisierten System können bis zu 8 Muskelgruppen synchron zur Tretbewegung stimuliert werden. In der Regel werden Kniestrecker und -beuger sowie die Hüftstrecker benötigt. Damit die Muskeln zum richtigen Zeitpunkt aktiviert und deaktiviert werden können, wird die Beinstellung fortlaufend über eine Messung des Kurbelwinkels am Ergometer erfasst.

Adaptive Steuerung und Regelung bei FES

Um ungewollte Reflexe zu vermeiden und die gewünschte Bewegung zu unterstützen, ist der Einsatz einer Regelung (Rückkopplung) erforderlich. Hierbei wird das Ergebnis der Stimulation fortlaufend mittels spezieller Messverfahren und Sensoren überwacht und im Falle einer Abweichung vom gewünschten Verhalten eine zielgerichtete Anpassung der Stimulationsparameter vorgenommen.

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Symmetrieregelung beim FES-Fahrradfahren

In Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern wurde eine so genannte Symmetrieregelung entwickelt. Aus Kraftmessungen an beiden Kurbelarmen wird das von jedem Bein erzeugte durchschnittliche Drehmoment pro Tretzyklus ermittelt. Mit einem komplexen Algorithmus werden dann die Stimulationsintensitäten für beide Beine individuell angepasst, sodass sich Symmetrie bei maximal erzielbarem Drehmoment einstellt.

Adaptive Steuerung für Fallfußstimulatoren

Basierend auf einem Inertialsensor am Schuh des Patienten konnte eine adaptive Steuerung realisiert werden, mit der der Winkel des Fußes beim Aufsetzen auf den Boden gezielt angepasst werden kann. Hierbei wird die Amplitude des trapezförmigen Stimulationsverlaufes in der Schwungphase von Schritt zu Schritt adaptiert. Ein anderer innovativer Ansatz ist die Echtzeiterfassung von Änderungen der Bio-Impedanz (BI) des Beines, die nahezu linear mit dem Fußgelenkwinkel korrelieren.

EMG-getriggerte Elektrostimulation

Bei der EMG-getriggerten Elektrostimulation wird der Muskel immer dann elektrisch stimuliert, wenn der Patient eine auch nur geringe Aktivität im Muskel erzeugt. Durch die elektrische Stimulation wird dann ein großer Bewegungseffekt erzielt. Dabei erhält das Gehirn eine größere Rückmeldung über die Bewegung als ohne die Elektrostimulation. Die Wirksamkeit der Behandlungsform konnte nachgewiesen werden.

Zusatznutzen der EMG-getriggerten Mehrkanal-Elektrostimulation & des Motorischen Lernens

Die Therapie bei zentral-neurologischen Schädigungen erfordert einen individuell auf den Betroffenen zugeschnittenen Behandlungsansatz. In der Neurorehabilitation werden alltagsrelevante Ziele vereinbart und trainiert. Die gezielte Ansteuerung der Muskelgruppen mit der EMG-MES ermöglicht ein ziel- und aufgabenorientiertes Training. Verschiedenste Bewegungen können mit einer hohen Wiederholungszahl geübt werden, was sich positiv auf die Bewegungskontrolle und den Lernprozess auswirkt.

Ablauf einer FES-Versorgung

  1. Beratung: Zunächst werden Sie von FES-Spezialisten zu dem Hilfsmittel beraten.
  2. Erprobung: Dann geht es an die Erprobung, hier wird immer empfohlen den behandelnden Therapeuten mit einzuladen. Eventuell schließt sich eine Testphase mit dem Gerät an.
  3. Antragstellung: Haben Sie das vom Arzt ausgestellte Rezept für das Hilfsmittel, erfolgt die Beantragung bei der Krankenkasse.
  4. Bestellung und Abgabe: Wird das Hilfsmittel genehmigt, bestellen wir es für den Patienten. Sie vereinbaren einen Termin zur Abgabe, wobei Sie in das System eingewiesen werden.
  5. Regelmäßige Kontrolltermine: Anschließend kommen Sie dann für regelmäßige Kontrolltermine.

Grenzen und Kontraindikationen der FES

Die Elektrotherapie kann viel, aber sie kann nicht alles. Sie ist kein Ersatz für gute Therapie, kein Shortcut zur Heilung und schon gar kein Garant für Fortschritt. Nicht jede:r spricht auf Elektrostimulation an. Manche Patient:innen empfinden sie als unangenehm, andere sehen keine Wirkung - oder nur sehr geringe. Der Erfolg hängt von vielen Faktoren ab: vom Schweregrad der Schädigung, vom Zeitpunkt des Einsatzes, von der individuellen Reizleitung, von der Motivation, vom Therapieumfeld.

Auch gibt es klare Kontraindikationen: Bei implantierten Herzschrittmachern, aktiven Hautinfektionen, offenen Wunden oder bei neurologischen Störungen mit erhöhter Krampfneigung muss genau abgewogen werden. Ebenso wichtig ist die saubere Elektrodenplatzierung - falsch aufgebracht, kann der Strom Reize setzen, die mehr schaden als nutzen.

Eine FES-Versorgung ist also nicht immer möglich, aufgrund von verschiedensten Faktoren, zum Beispiel fehlende Nervenleitfähigkeit oder ein Herzschrittmacher. In einem solchen Fall beraten wir gerne, welche für den Betroffenen bestmögliche Alternativ-Versorgung es gibt.

Zwischen Technik und Empathie

Elektrotherapie ist keine Magie. Sie funktioniert nicht, wenn man sie einfach anschaltet und den Rest dem Gerät überlässt. Ihre Wirkung entfaltet sich erst in der Beziehung - zwischen Mensch, Technik und Therapeut:in. Entscheidend ist dabei die Begleitung. Eine Therapeutin, die erklärt, einfühlsam nachfragt, motiviert - ist oft wirkungsvoller als jedes High-End-Gerät. Denn der Strom allein bewegt zwar Muskeln, aber keine Herzen. Es ist die Kombination aus Vertrauen, Sicherheit und klarem therapeutischem Ziel, die dafür sorgt, dass die Therapie mehr ist als Technik.

Was sagt die Forschung?

Zahlreiche Studien zeigen, dass Elektrostimulation helfen kann, Muskelaktivität wieder aufzubauen, Spastiken zu reduzieren und funktionelle Bewegungen zu erleichtern - besonders, wenn sie in ein aktives, therapeutisch begleitetes Gesamtkonzept eingebettet ist. Dabei scheint die Kombination von Reizstrom und willentlicher Bewegung besonders wirksam: Wenn Patient:innen lernen, den Strom als Unterstützung und nicht als Ersatz zu verstehen, steigt der therapeutische Effekt.

Kostenübernahme

In der Regel übernimmt die gesetzliche Krankenkasse die Behandlung mithilfe eines Elektrostimulationsgeräts bei medizinischer Notwendigkeit. Dazu wird nach Beratung ein Kostenvoranschlag bei der Krankenkasse eingereicht.

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