Gammel-Oase Demenz: Eine Definition und ein neuer Ansatz in der Demenz-Care

Der „Demenzmarkt“ ist unübersichtlich geworden. Neben Medikamentenforschung gibt es eine Vielzahl nicht-medikamentöser Therapieansätze, die den Verlauf der Erkrankung verlangsamen sollen. Doch selten werden die Betroffenen gefragt, ob sie diesen Wildwuchs benötigen und ob es ihnen gefällt. Es gibt kaum Begleitforschung zu diesen Ansätzen. Es kommen zunehmend technische oder manifeste Scheinwelten zum Einsatz, die wenig Personalaufwand erfordern, z.B. Bushaltestellen, an denen nie ein Bus hält, und Plüschtier-Roboter. Die Not im Feld der Demenz ist groß, nicht nur die der Erkrankten, sondern auch die der Angehörigen und Mitarbeiter. Zerfällt die Sprache der Menschen mit Demenz, muss ihre emotionale Lage intuitiv und mithilfe von „Verstehenshypothesen“ erfasst werden. In dieser Not bietet der Markt eine Unmenge an „Demenz-Produkten“ an, wie überteuerte Plüschtiere, Püppchen, bunte Bälle, Tastsäckchen, Holzwürfel mit Schließmechanismen und ähnlicher Plunder. Diese Produkte werden mit einem illusorischen Versprechen verbunden.

Was bedeutet "Gammeln"?

Gemäß dem etymologischen Wörterbuch finden sich verschiedene Erläuterungen zum Begriff Gammeln. Dort steht, dass Gammeln vom althochdeutschen gaman abstammt und so viel wie „Lust“ bedeutet. Auch im Urgermanischen finden wir das Wort gamaną. Hier wäre die Ableitung: Spaß, Fröhlichkeit oder Genuss.

Das Attribut „Therapeutisch“ soll in Kombination mit dem Begriff des „Gammelns“ einen Widerspruch darstellen, der Aufmerksamkeit generiert und zum Innehalten mahnt.

Das Therapeutische Gammeln: Ein Paradigmenwechsel in der Demenz-Care

Vom Ansatz her stammt die im „Therapeutischen Gammeln“ angewendete Haltung aus der Palliative Care. Hier werden die Wünsche und Bedürfnisse des Betroffenen radikal in den Mittelpunkt der Sorgekultur gestellt. Und genau diese Haltung bewährt sich auch im Bereich der Demenz. Das Therapeutische Gammeln versteht sich somit als Gegenentwurf zu den vielen vermeintlichen Trainings und Therapien in der Demenz-Care. Sie besteht aus einer gewährenden, suchenden und reagierenden Haltung. Es versucht eine Lanze zu brechen für den Person-zentrierten Ansatz (Tom Kitwood), der sich an der Lebensqualität und dem Wohlbefinden der*des Betroffenen orientiert. Hierüber erhalten Demenzerkrankte ihre Autonomie zurück. Nicht Aktivieren, Mobilisieren und Training stehen hier im Mittelpunkt, sondern Ansätze, die Freude, Lust und Eigenständigkeit unterstützen.

Deutschlands erste Gammel-Oase

Seit Mai 2023 entsteht in Marl (Nordrhein-Westfalen, Deutschland) im Julie-Kolb-Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt eine erste „Gammel-Oase“. In einem segregierten Bereich für 14 Bewohnerinnen mit Demenz wird hier ein Schutzraum für diese besonders vulnerablen Personen geschaffen. Seit Juni 2023 gibt es Deutschlands erste Gammel-Oase für 14 Bewohnerinnen mit Demenz, in der das Therapeutische Gammeln radikal gelebt wird.

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Das „Therapeutische Gammeln“ ist somit ein 24-Stunden-Konzept für Menschen mit fortgeschrittener Demenz.

Der Betroffene als Experte seiner Demenz

Die Mitarbeiter*innen begleiten den Menschen mit Demenz. Dieser ist der Experte für seine Demenz. Hieraus entsteht eine Pflegebeziehung auf Augenhöhe, die den Betroffenen nicht bevormundet, ihn erwachsenengerecht behandelt und keine pädagogisch-erzieherischen Ansprüche an ihn richtet. In diesem Verhältnis begreift sich Pflege und Betreuung als Aushandlungsprozess zwischen dem Hilfegeber und dem Hilfeempfänger. In letzter Konsequenz bedeutet das auch für den Betroffenen, dass sein Recht auf Verwahrlosung (ohne medizinische Komplikationen) geschützt bleiben soll.

Zielgröße ist das Wohlbefinden der Betroffenen

Das Wohlbefinden der Betroffenen ist die zentrale Zielgröße aller Handlungen und Angebote! Dieses wird situationsbezogen erfasst und entsprechend als Orientierungsgröße herangezogen. Kleine über den Tag verteilte Fallbesprechungen helfen dabei entsprechende Verstehenshypothesen zu entwickeln. Hierüber wird versucht sich das oftmals unverständliche Verhalten der Betroffenen interpretativ zu erschließen.

Rückzug ist nicht immer pathologisch

Oftmals kann bei zu Pflegenden mit Demenz beobachtet werden, dass diese sich gern „verkriechen“. Im Pflegeheim ist der Rückzugsort etwa das Bewohnerzimmer und zu Hause die sogenannte „Lieblingsecke“. In diesem Verhalten soll erst einmal der Wunsch nach Schutz und Sicherheit in einer fragilen Welt gesehen werden. Daran ist nichts pathologisch, sondern dies ist völlig normal.

Mitarbeiter müssen geschult und begleitet werden

Dem zu Pflegenden mit Demenz die Regie zu überlassen, bedeutet für Mitarbeiter*innen (der Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft) eine gewährende Haltung einzunehmen. Diese muss erst einmal erlernt werden, denn in vielen Einrichtungen sind die Mitarbeiter die „Macher“. Menschen mit Demenz fühlen sich hierbei dann oftmals ausgeliefert und überfahren. Entsprechende Schulungen und Praxisbegleitung erhalten die Mitarbeiter der „Gammel-Oase“ im Julie-Kolb-Seniorenzentrum in Marl seit März 2023.

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Segregation schützt den Betroffenen

Gerade in gemischten Einrichtungen (Integratives Modell) lässt sich beobachten, dass orientierte Mitbewohner sich von den Demenz-Betroffenen, mitunter sehr kategorisch, distanzieren, mitunter durch kränkende Äußerungen. Hier kann das segregierte Modell, wie die „Gammel-Oase“ ein sinnvoller Ansatz sein. Bei diesem Konzept geht es nicht darum, Menschen mit Demenz auszuschließen, sondern ihnen einen Schutzraum anzubieten. Die Praxiserfahrung zeigt, dass Demenz-Betroffene recht gut miteinander klarkommen, wenn denn das Demenzstadium ungefähr ähnlich ist.

Angehörige müssen eng begleitet werden

In der Palliative Care hat sich in den letzten Jahren vermehrt durchgesetzt, den Angehörigen als „Patienten 2. Ordnung“ zu sehen. Das meint, dass Angehörige ebenfalls einen Betreuungs- und Unterstützungsbedarf haben. Diese Haltung pflegen auch die Mitarbeiter*innen des Julie-Kolb-Seniorenzentrums den Angehörigen der Bewohner mit Demenz gegenüber. Angehörigenarbeit ist somit eine der tragenden Säulen dieses Konzepts.

Einzug und Umzug müssen gut vorbereitet werden

Die Zielgruppe der Gammel-Oase sind Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz. Diese sollte vor Einzug in die Einrichtung ärztlich (möglichst fachärztlich) diagnostiziert sein. Durch intensive psychosoziale Betreuung werden jegliche Formen an fixierenden Maßnahmen gänzlich vermieden. Das Umziehen ist im Julie-Kolb-Seniorenzentrum kein Tabu. Grundsätzlich soll ein sanftes Umziehen ermöglicht werden. Das kann bedeuten, dass zukünftige Bewohner probeweise für einige Stunden am Tag die Gammel-Oase besuchen sollten. Der eigentliche Umzug wird mithilfe eines Umzugs- und Überleitungsbogen begleitet und geregelt.

Mehrbettzimmer ist kein Teufelszeug

Vor einigen Jahren ist in stationären Einrichtungen in Deutschland damit begonnen worden, 2-Bettzimmer in Einzelzimmer umzuwandeln. Dieses veränderte Angebot bedient den Wunsch der Angehörigen - Menschen mit fortgeschrittener Demenz profitieren hingegen eher von Mehrbettzimmern. Aus diesem Grund bietet die Gammel-Oase des Julie-Kolb-Seniorenzentrums in Marl aus ausschließlich 2-Bettzimmer für die hier wohnenden Senioren mit fortgeschrittener Demenz an. Im Bedarfsfall (Krisensituationen) werden in der Einrichtung aber auch Kriseninterventionszimmer vorgehalten, die auch den Bewohner der Gammel-Oase zur Verfügung stehen.

Kein Aktivierungsterror

In der Gammel-Oase gibt es keine Gruppenangebot und keinen „Aktivierungs-Terror“. Das Miteinander-Leben, begleitet durch Alltagsaktivitäten und Utensilien mit Aufforderungscharakter (z.B. Kramkisten, Zeitschriften, Prospekte oder Kataloge) verleiten die Bewohner*innen erst einmal zum Beobachten (aktive Passivität). Fühlt sich nun einer der Betroffenen intrinsisch motiviert zu einem Handeln, so wird dieses unterstützt - hingegen nicht pädagogisch initiiert.

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Auch Menschen mit Demenz trauern

Die Mitarbeiter*innen der Gammel-Oase sind geschult im Themenfeld „Trauerarbeit für Menschen mit Demenz“. Trauerreaktionen werden hier nicht „weg-geschunkelt“, sondern durch mitmenschliche Solidarität beantwortet und begleitet. Das wiederum schafft Nähe und Verständnis für manch „herausforderndes Verhalten“.

Die "Haus(un)ordnung" der Gammel-Oase

Das Team und die Angehörigen orientieren sich hierbei an der sogenannten Haus(un)ordnung. Im Küchenbereich hängt ein Poster: „Du tust genug, du hast genug, du bist genug.“ Dieser Slogan ist Programm: In der Gammel-Oase gibt es keinen Druck und keine Erwartungen. „Einige Bewohner frühstücken um 13 Uhr, andere essen dann schon zu Mittag und der nächste Bewohner, für den es gefühlt Abend ist, möchte ein Bier zu seinem Brot trinken.“ Jeder Tag sei irgendwie gleich, aber auch total anders.

Das Besondere an der Gammel-Oase: Hier dürfen die Bewohner wirklich tun und lassen, was sie möchten. Eine feste Tagesstruktur oder Gruppenangebote - wie Basteln, Zeitungsrunde oder Sitzgymnastik - gibt es nicht. Das bedeutet aber nicht, dass die Bewohner sich einfach selbst überlassen sind und nichts tun. Stattdessen wird individuell geschaut: Was möchte der Bewohner? Woran zeigt er Interesse? Dafür haben alle Mitarbeitenden einen „imaginären Bauchladen“, den sie anbieten können, wie Löbel sagt - von der grundpflegerischen Versorgung über einen Spaziergang bis zum Singen, Klatschen oder Tanzen. Zusätzlich finden sich im ganzen Wohnbereich sogenannte Materialien mit Aufforderungscharakter. Auf den Tischen finden sich Magazine, Sonnenhüte, Malstifte oder auch laminierte Fotos von bekannten Persönlichkeiten. Manchmal findet der Bewohner auch eine Beschäftigung, die man auf den ersten Blick erstmal gar nicht so deuten würde, erzählt der Leiter der Gammel-Oase. Vielleicht hat er eine Tasse Kaffee verschüttet und ist nun damit beschäftigt, den Tisch mit seiner Hand zu säubern und dabei den Kaffee weiter zu verteilen. „Warum sollte ich ihn dabei stören, wenn ihm die Beschäftigung gerade guttut?“, fragt er.

Helles Licht fällt durch die bodentiefen Fenster in den Wohnraum. Eine weißhaarige zierliche Dame mit Kurzhaarschnitt steuert mit ihrem Rollator das gelbe Sofa an. Ausruhen ist in der Gammel-Oase ausdrücklich erwünscht. Neben dem großen Wohnraum befindet sich ein kleineres Zimmer mit einem XXL-Sofa, ausgestattet mit zahlreichen Kissen und Wolldecken. „Manchmal liegen zwei oder drei Leute gleichzeitig darauf“, erzählt Löbel.

Überhaupt ist die Kunst der Langsamkeit gefragt - vor allem im direkten Kontakt mit den Menschen mit Demenz. „Vieles läuft bei uns über Körperkontakt“, erläutert Löbel. „Wir setzen uns zum Beispiel zum Bewohner und reichen ihm erstmal unsere Hand. Wenn der Bewohner unsere Hand von sich aus ergreift, braucht er vielleicht gerade körperliche Nähe. Wir bleiben bei ihm sitzen, reden mit ihm oder sagen auch mal gar nichts. Grundsätzlich wird in der Gammel-Oase korrigierendes Verhalten - wie „Essen Sie nicht mit den Fingern“, „Ihr T-Shirt ist verkehrt herum“ - so weit wie möglich vermieden. Leiter Christian Löbel ist überzeugt, dass ständiges Korrigieren und Verbessern zu Stress, Wut und Aggressionen führen kann. Die mögliche Folge sind sogenannte herausfordernde Verhaltensweisen - ein häufiges Problem bei fortgeschrittener Demenz. Das können ständiges Rufen, Schreien, Weg- oder Hinlaufen, das Verweigern von Nahrung, Medikamenten oder pflegerischen Maßnahmen, aber auch Apathie und Teilnahmslosigkeit sein.

Statt die Bewohner medikamentös „ruhigzustellen“, macht sich das Team in Marl gezielt auf die Suche nach den Ursachen, die hinter dem herausfordernden Verhalten stehen. Hat der Bewohner vielleicht Schmerzen? Hat er Hunger oder Durst? Ist es ihm zu warm oder zu laut? Braucht er mehr Aufmerksamkeit? Hat er einen beginnenden Infekt? Die Ursache zu finden, geht meist nur durch Ausprobieren. Im Fachjargon spricht man von Verstehenshypothesen. Eine solche wäre zum Beispiel: „Der Bewohner ist unruhig, weil er Durst hat.“ Darauf aufbauend macht man ein Angebot oder ändert eine äußere Bedingung. Und dann wird geschaut, wie der Bewohner darauf reagiert. Klappt das nicht, versucht man eine andere Maßnahme, zum Beispiel einen gemeinsamen Spaziergang auf dem Flur, eine Massage oder Ähnliches. Wenn verschiedene Maßnahmen nicht greifen, kann auf Verdacht ein Schmerzmedikament verabreicht werden. Manchmal sind die Lösungen für ein Problem alles andere als naheliegend: „Wir hatten eine Bewohnerin, die plötzlich nicht mehr allein gegessen hat. Bis wir herausgefunden haben: Wenn wir beim Essenanreichen singen, öffnet die Bewohnerin wieder ihren Mund. Jetzt wird bei den Mahlzeiten immer gesungen“, schmunzelt Löbel.

Nach zwei Jahren Gammel-Oase zieht Löbel eine positive Bilanz: „Die Bewohner sind entspannter und ausgeglichener. Viele ziehen bei uns mit mehreren Psychopharmaka ein, bei einigen sind diese mittlerweile komplett abgesetzt“, sagt er. Dafür sei die Gabe an Schmerzmitteln hochgegangen.

Gibt es Situationen, in denen das Nichts-Müssen an seine Grenzen kommt? „Natürlich“, meint Löbel. „Medikamente müssen verabreicht, Wunden versorgt oder die Haut bei Inkontinenz geschützt werden. Alles, was für den Bewohner nachteilige Folgen haben könnte, müssen wir als Pflegende im Blick haben.“ Manchmal wird nach Rücksprache mit dem Arzt aber auch die Medikation geändert, zum Beispiel einmal statt dreimal pro Tag, oder Tropfen statt großer Kapseln. Ansonsten lässt das Team die Bewohner gewähren. Es gebe auch Kritiker des Konzepts. Die wenden zum Beispiel ein, dass Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz bestimmte Entscheidungen nicht mehr selbst treffen oder auch deren Reichweite nicht einschätzen könnten. „Sie wüssten also nicht, was gut für sie ist und was nicht“, erläutert Löbel. „Wir sehen das anders. Und wir begleiten sie bei der Entscheidungsfindung. Dafür sind wir als Pflegende ja da.

Herausforderungen und Chancen des Therapeutischen Gammelns

Für Pflegende stellt der Ansatz des „therapeutischen Gammelns“ eine besondere Herausforderung dar. Sie sind es meist eher gewohnt, als „Macher:innen“ und „Entscheider:innen“ zu agieren.

Vorteile der Gammel-Oase

Neben einer hohen Arbeitszufriedenheit auf Seiten der Mitarbeiter*innen - bei gleicher Personalbesetzung - kann die Gammel-Oase aber auch darauf verweisen, dass hier die Psychopharmaka - entgegen des bundesweiten Trends (AOK-Studie) - gesenkt und mitunter auch komplett abgesetzt werden können. So konnten in der Gammel-Oase bei 80 Prozent bis 90 Prozent der Bewohner Psychopharmaka abgesetzt oder drastisch reduziert werden. Dafür erhalten sie häufiger individuell abgestimmte Schmerztherapien. Das Ergebnis: Die Seniorinnen und Senioren blühen auf, werden aktiver und bewegen sich mehr.

Mögliche Hürden und Kritik

Das therapeutische Gammeln stößt auf großes Interesse bei Einrichtungs- und Pflegedienstleitungen sowie Trägern. Es wird aber noch mit Vorsicht wahrgenommen. Denn für das Konzept müssen wir die Bewohner mit fortgeschrittener Demenz von den orientierten Bewohnern trennen. Das nennt sich segregiertes Modell. Letztere haben nämlich oft Berührungsängste oder gar Angst vor den Demenzerkrankten. Dies wäre für das therapeutische Gammeln zu konfliktträchtig. Zudem steht in der Gammeloase die Normalität in Frage. Deshalb haben wir im Julie-Kolb-Seniorenzentrum bewusst eine „Hausunordnung“, die den dortigen Alltag regelt. Wir brauchen aber kein zusätzliches Personal. Jedoch müssen die Mitarbeitenden geschult und bei der Umsetzung des Konzepts engmaschig begleitet werden. Denn es ist ein Umdenken nötig, um die Kontrolle abzugeben. Dies verursacht natürlich auch Kosten. Zudem ist das Konzept nicht für alle Beteiligten geeignet. In Marl zum Beispiel haben zwei Pflegekräfte gekündigt, weil sie die Regie über die Abläufe nicht an die Bewohner abgeben konnten.

Es gibt auch Kritiker des Konzepts. Die wenden zum Beispiel ein, dass Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz bestimmte Entscheidungen nicht mehr selbst treffen oder auch deren Reichweite nicht einschätzen könnten.

Umgang mit "herausforderndem Verhalten"

Die Gammeloase ist ein offener Bereich und wir haben auch Bewohner mit einem starken Bewegungsdrang. Diesem sogenannten „herausfordernden Verhalten“ begegnet das Team in Fallbesprechungen mit Verstehenshypothesen. Das heißt, es geht darum, die Ursachen herauszufinden. Denn oftmals liegt das Verhalten nicht an der Demenz an sich, sondern an somatischen Problemen, wie Schmerzen oder einem Juckreiz. Erst dann betrachten wir den psychosozialen Bereich, wie etwa Probleme mit Angehörigen.

Wissenschaftliche Fundierung und politische Implikationen

Empirische Belege

Jüngst hat eine Studentin der Sozialen Arbeit in ihrer Bachelorarbeit bestätigt, dass das therapeutische Gammeln die Autonomie von Menschen mit Demenz fördert. Zudem evaluieren wir das Konzept weiter.

Politische Hürden

Die Rahmenbedingungen sind für alle Pflegeeinrichtungen gleich. Auch die Gammeloase im Julie-Kolb-Seniorenzentrum unterliegt der sogenannten WTG (Wohn- und Teilhabegesetz)-Behörde, also der ehemaligem Heimaufsicht, sowie dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung. Zudem ist auch dort die Personaldecke dünn. Die Schaltstelle bei der Einführung und Umsetzung des Konzepts sind vielmehr die Einrichtungs- und Pflegedienstleitung. Sie müssen es wollen.

Die Zukunft der Gammel-Oasen

Schon gibt es erste Nachahmer: Eine zweite Gammel-Oase hat im Februar 2025 im benachbarten Herten eröffnet. Auch im Julie-Kolb-Seniorenzentrum ist eine weitere Gammel-Abteilung in Planung.

Expertenmeinung

Dr. Stephan Kostrzewa: In meiner Ausbildung zum examinierten Altenpfleger Ende der 1980er-Jahre wurden mir Leitsätze vermittelt wie „Menschen mit Demenz brauchen eine enge Struktur.“ Während meines Studiums der Sozialwissenschaften habe ich damit begonnen, dies zu hinterfragen. Vorgefunden habe ich eine relativ dünne Studienlage, die dies nicht beweist. Vielmehr zeigte sich, dass die Erkrankung sehr individuell erlebt wird. Es gibt also keinen Königsweg. Viel wichtiger ist, was die Betroffenen selbst sich wünschen. Daraus entstand das Konzept des therapeutischen Gammelns. Dabei geben wir Pflegenden die Regie ab und reagieren anstatt zu agieren.

Schlussfolgerung

Die Gammel-Oase und das Konzept des Therapeutischen Gammelns stellen einen radikalen, aber vielversprechenden Ansatz in der Betreuung von Menschen mit fortgeschrittener Demenz dar. Indem sie die Autonomie und das Wohlbefinden der Betroffenen in den Mittelpunkt stellen, bieten sie eine Alternative zu traditionellen, oft überfordernden Therapieansätzen. Trotz einiger Herausforderungen und Kritikpunkte zeigt die Praxis, dass dieser Ansatz zu mehr Lebensqualität und weniger Medikamenteneinsatz führen kann. Es bleibt zu hoffen, dass sich dieses Konzept weiter verbreitet und dazu beiträgt, die Lebensbedingungen von Menschen mit Demenz nachhaltig zu verbessern.

Lesetipp:

Kostrzewa, S. (2023). Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz, GRIN Verlag, München.

Hörtipp:

Podcast „Der Palli-Ticker“, Folge 14: Therapeutisches Gammeln. www.podcast.de/episode/504745580/14-podcast-therapeutisches-gammeln

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