Die erstaunliche Fähigkeit des Gehirns zur Selbstheilung: Aktuelle Forschungsergebnisse

Das menschliche Gehirn ist ein komplexes und faszinierendes Organ mit einer bemerkenswerten Fähigkeit zur Anpassung und Selbstheilung. Lange Zeit ging man davon aus, dass Schäden im Gehirn irreversibel sind. Doch die moderne Hirnforschung hat gezeigt, dass das Gehirn viel flexibler ist, als man einst dachte und in der Lage ist, sich nach Verletzungen oder Erkrankungen selbst zu reparieren. Dieser Artikel beleuchtet die neuesten Forschungsergebnisse zu diesem Thema und zeigt, wie das Gehirn durch verschiedene Mechanismen Schäden kompensieren und Funktionen wiederherstellen kann.

Neuroplastizität: Die Grundlage der Selbstheilung

Die Grundlage der Selbstheilung des Gehirns ist die Neuroplastizität, die Fähigkeit des Gehirns, sich ständig neu zu organisieren und das komplexe Netzwerk aus Nervenzellen veränderten Gegebenheiten dynamisch anzupassen. Diese Fähigkeit ermöglicht es Nervenzellen, sich neu zu verknüpfen, beschädigte Funktionen zu kompensieren und neue Lerninhalte zu speichern.

Wie Neuroplastizität funktioniert

Nach einem Schlaganfall oder einer anderen Hirnschädigung beginnen die überlebenden Nervenzellen, sich anders zu verknüpfen. Sie bilden Fortsätze, sogenannte Axone, die aussprießen und sich über Synapsen mit anderen Nervenzellen verbinden. So entstehen neue Verbindungen, die die Funktion der beschädigten Bereiche übernehmen können. Man kann sich das Gehirn wie ein Netzwerk aus Kabeln vorstellen. Wenn eins davon kaputt geht, bilden Ersatzkabel Umgehungskreisläufe.

Die Rolle der Neurogenese

Neben der Reorganisation bestehender Nervenzellen spielt auch die Neurogenese, die Neubildung von Nervenzellen, eine Rolle bei der Selbstheilung des Gehirns. Lange Zeit ging man davon aus, dass im erwachsenen Gehirn keine neuen Nervenzellen entstehen. Doch die Forschung hat gezeigt, dass auch im Erwachsenenalter in bestimmten Bereichen des Gehirns, den sogenannten Stammzellnischen, neue Neuronen gebildet werden können. Diese neuen Nervenzellen können in beschädigte Bereiche wandern und dort die Funktion verloren gegangener Zellen übernehmen.

Schlaganfall: Ein Paradebeispiel für die Selbstheilungskräfte des Gehirns

Ein Schlaganfall ist ein typisches Beispiel für die Selbstheilungskräfte des Gehirns. Bei einem Schlaganfall fallen Millionen von Nervenzellen aus, entweder durch eine Hirnblutung oder einen Hirninfarkt, bei dem ein Blutgefäß verstopft wird und das Gehirnareal dahinter von der Sauerstoffversorgung abschneidet. Doch ein Großteil der Betroffenen erholt sich im Laufe einiger Wochen oder Monate wieder. Sie können bald wieder gehen oder lernen das Sprechen neu. Und das, obwohl das betroffene Hirnareal womöglich weiterhin geschädigt ist.

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Die Bedeutung von Training und Rehabilitation

Die Erholung nach einem Schlaganfall hängt maßgeblich von intensivem und richtig organisiertem Training ab. Durch gezielte Übungen können Patienten die Beweglichkeit wieder steigern, Sprachausfälle kompensieren und andere verloren gegangene Fähigkeiten wiedererlangen. Die Hirnforscher verstehen immer besser, nach welchen Regeln solche Prozesse ablaufen und vor allem, wie sie durch Lernen wieder rückgängig gemacht werden können. Selbst Jahre nach einem Schlaganfall lässt sich durch massives und richtig organisiertes Training die Beweglichkeit wieder steigern. Intensive Lernstrategien gibt es inzwischen auch für den Sprachausfall nach einem Schlaganfall, für die verkrampfen Hände von Datentypisten und Musikern, für Phantomschmerzen, vielleicht sogar für autistische Kinder.

Erlernter Nichtgebrauch vermeiden

Ein Problem bei der Rehabilitation nach einem Schlaganfall ist der sogenannte "erlernte Nichtgebrauch". Bis die Nerven ihre gewohnte Arbeit wieder aufnehmen, hat der Patient es in der Regel längst aufgegeben, etwa seinen vorübergehend gelähmten Arm einzusetzen. Durch gezieltes Training muss dieser Teufelskreis durchbrochen werden, damit das Gehirn lernt, die betroffenen Körperteile wieder zu aktivieren.

Die Rolle der Gliazellen bei der Reparatur des Gehirns

Im Gehirn arbeiten viele verschiedene Zellarten zusammen. Bei Menschen machen die Nervenzellen (Neuronen) weniger als die Hälfte der Zellen aus. Der Rest wird als „Glia“ bezeichnet. Die häufigsten Gliazellen sind Astrozyten. Sie versorgen die Neuronen mit Nährstoffen, bilden einen Teil der Blut-Hirn-Schranke, regulieren die Synapsen und unterstützen die Abwehrzellen. Ein kleiner Anteil der Astrozyten ist jedoch in der Lage, Nervenzellen und andere Arten von Gehirnzellen hervorzubringen. Diese speziellen Astrozyten werden daher auch als Hirnstammzellen bezeichnet.

Astrozyten und Hirnstammzellen

Hirnstammzellen und gewöhnliche Astrozyten unterscheiden sich kaum in ihrer Genexpression, also in der Aktivität ihrer Gene. Wie sie so unterschiedliche Funktionen ausüben können und was die Stammzell-Eigenschaften ausmacht, war bislang völlig unklar. Neueste Forschungen haben jedoch gezeigt, dass die DNA-Methylierung eine wichtige Rolle bei der Funktion von Astrozyten und Hirnstammzellen spielt.

DNA-Methylierung als Schlüssel zur Umprogrammierung von Astrozyten

Die DNA-Methylierung ist ein chemischer Prozess, bei dem bestimmte Abschnitte der DNA mit Methylgruppen markiert werden. Diese Markierungen können die Aktivität von Genen beeinflussen und so die Identität und Funktion von Zellen bestimmen. Forschende haben herausgefunden, dass Hirnstammzellen ein besonderes DNA-Methylierungsmuster aufweisen, das sie von anderen Astrozyten unterscheidet. Anders als bei gewöhnlichen Astrozyten sind in Hirnstammzellen bestimmte Gene demethyliert, die sonst nur von Nervenvorläuferzellen verwendet werden. Dadurch ist es den Hirnstammzellen möglich, diese Gene zu aktivieren, um selbst Nervenzellen hervorzubringen.

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Mangeldurchblutung löst Umprogrammierung von Astrozyten aus

Die Erkenntnisse über die Rolle der DNA-Methylierung eröffnen neue Möglichkeiten für die regenerative Medizin. Die Frage ist, ob sich durch Methylierung auch in anderen Regionen des Gehirns, außerhalb der vSVZ, Astrozyten zu Hirnstammzellen umwandeln lassen. Das wäre ein wichtiger Schritt für die regenerative Medizin, um geschädigte Hirnareale wieder zu reparieren. Ältere Studien hatten bereits gezeigt, dass Durchblutungsmangel, wie er beispielsweise bei Hirnverletzungen oder Schlaganfällen auftritt, die Anzahl der neugeborenen Nervenzellen steigert. Spielen dabei veränderte Methylierungsprofile eine Rolle? Um das zu untersuchen, unterbrachen die Forschenden bei Mäusen für kurze Zeit die Blutversorgung des Gehirns. Wenig später ließen sich auch außerhalb der vSVZ Astrozyten mit dem typischen Stammzell-Methylierungsprofil nachweisen, außerdem eine erhöhte Anzahl von Nervenvorläuferzellen. Die Theorie ist, dass normale Astrozyten im gesunden Gehirn keine Nervenzellen bilden, weil ihr Methylierungsmuster sie daran hindert. Techniken zur gezielten Veränderung des Methylierungsprofils könnten einen neuen therapeutischen Ansatz darstellen, um neue Neuronen zu erzeugen und Nervenerkrankungen zu behandeln. Der Durchblutungsmangel bewirkt offenbar, dass Astrozyten in bestimmten Bereichen des Gehirns die Methylmarkierungen auf ihrer DNA so umverteilen, dass ihr Stammzellen-Programm zugänglich wird. Daraufhin beginnen sich die umprogrammierten Zellen zu teilen und Vorläufer für neue Neuronen zu bilden. Wenn wir diese Vorgänge besser verstehen, können wir möglicherweise in Zukunft die Bildung neuer Neuronen gezielt stimulieren. So könnten wir z.B. nach einem Schlaganfall die Selbstheilungskräfte des Gehirns, die im Normalfall einfach nicht genügend zum Einsatz zu kommen scheinen, so stärken, dass der Schaden repariert werden kann.

Therapieansätze zur Unterstützung der Selbstheilung des Gehirns

Neben dem klassischen Training und der Rehabilitation gibt es eine Reihe von Therapieansätzen, die die Selbstheilung des Gehirns unterstützen können.

Magnetstimulation

Die Stimulation mit Magnetfeldern ist ein technologisches Verfahren, um die Reparatur des Gehirns nach einem Schlaganfall oder einer Hirnblutung zu unterstützen. Das magnetische Feld einer Magnetspule bewirkt im Nervensystem einen Stromfluss. Damit lassen sich ausgewählte Areale aktivieren oder hemmen, was die Hirnregeneration in die richtigen Bahnen lenkt. Denn manchmal reagiert das Gehirn falsch auf einen Defekt: Es kann nach einem Schaden auch zu fehlgeleiteten Neuorganisationen kommen, bei denen sich Hirnregionen falsch vernetzen oder überaktiv werden und die Wiederherstellung der Funktion sogar stören.

Intelligente Orthesen

Am Universitätsklinikum Tübingen versucht ein Team am Institut für Neuromodulation und Neurotechnologie, die Neuroplastizität mit intelligenten Orthesen zu unterstützen. Sie sollen etwa Menschen mit gelähmten Händen helfen. Ausgelöst durch die versuchte oder nur vorgestellte Bewegung werden Hirnimpulse an die Orthese übertragen, die dann die gelähmten Finger öffnet. Durch die passive Bewegung entsteht eine Feedback-Schleife zurück zum Gehirn, die diesem hilft, sich neu zu organisieren und die Koordination der Hand wieder selbst zu lernen.

Medikamentöse Unterstützung

In einigen Fällen kann auch eine medikamentöse Behandlung die Selbstheilung des Gehirns unterstützen. So hat beispielsweise das Medikament Baclofen, das normalerweise zur Behandlung von Muskelkrämpfen eingesetzt wird, in Studien gezeigt, dass es die Regeneration von Nervenzellen im Rückenmark anregen kann.

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Grenzen der Selbstheilung

Trotz der erstaunlichen Fähigkeiten des Gehirns zur Selbstheilung gibt es auch Grenzen. Wie gut eine Funktion von anderen Regionen übernommen werden kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab: dem Ausmaß der Verletzung, dem Ort des Geschehens und dem zeitlichen Verlauf von Schädigung und Reha. Kleine Schäden könne das Gehirn vor allem dann kompensieren, wenn sie langsam auftreten. Bei größeren Läsionen, die weite Teile einer Hirnhälfte betreffen, ist die Kompensation schwieriger, da es keine direkt benachbarten oder funktionell verwandten Schaltkreise mehr gibt.

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