Die Vorstellung, dass die Gehirngröße ein direkter Indikator für Intelligenz ist, ist weit verbreitet. Das Gehirn ist eines der komplexesten Organe des menschlichen Körpers: Es verbraucht 20 bis 25 Prozent unserer gesamten Energie, besteht aus über 86 Milliarden Nervenzellen und befähigt uns zu kognitiven Leistungen, zu denen kein anderes Lebewesen in der Lage ist. Unterschiede in diesen Leistungen werden vor allem auf unterschiedlich ausgeprägte Intelligenz zurückgeführt. So haben Menschen mit 1,3 bis 1,5 Kilogramm deutlich kleinere und leichtere Gehirne als Pottwale (8,5 Kilogramm) und Elefanten (5 Kilogramm), doch bezogen auf die Körpermasse liegen sie auf den ersten Blick weit vorn im Tierreich: Das Denkorgan macht rund zwei Prozent ihres Gewichts aus.
Allerdings ist die Beziehung zwischen Gehirngröße und Intelligenz komplexer als es scheint. Die Spitzmaus, mit einem relativen Gehirngewicht von vier Prozent, ist kein Paradebeispiel für intellektuelle Höchstleistungen. Dieses Paradoxon verdeutlicht, dass das absolute oder relative Gehirngewicht allein kein ausreichendes Maß für Intelligenz darstellt.
Die Komplexität des Gehirn-Körper-Verhältnisses
Eine neue Studie von Forschern um den Anthropologen Jeroen Smaers vom University College London analysierte Daten zu Gehirngröße und Körpergewicht von Hunderten lebenden und ausgestorbenen Fledermausarten, Raubtieren und Primaten. Dabei zeigten sich über die Millionen von Jahren unterschiedliche Trends.
Bei Fledermäusen beispielsweise verkleinerte sich das Gehirn in evolutionären Schrumpfphasen sehr viel langsamer als der Körper, was zu einem erhöhten relativen Gehirngewicht führte. Die Autoren vermuten, dass adaptive Vorteile dahinterstecken: Mit kleinerem Körper konnten die Tiere leichter in der Luft manövrieren, verfügten aber weiter über ausreichend kognitive Leistungsfähigkeit, um in unübersichtlichem Gelände zu navigieren und zu jagen. Bei Primaten hingegen schrumpft das Gehirn in solchen Phasen ein bisschen schneller als der Körper.
"Änderungen in der Körpergröße geschehen häufig unabhängig von Änderungen in der Gehirngröße - und umgekehrt", sagt Jeroen Smaers.
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Gehirngröße vs. Intelligenz: Was sagt die Forschung?
Die Frage, ob ein großes Hirn mit großer Intelligenz einhergeht, bewegt die Menschen seit Jahrhunderten. Forscher der Universität Wien und der Universität Göttingen haben dazu Testergebnisse Dutzender Studien in eine neue Auswertung einbezogen. Ihr Ergebnis: Bei Menschen spielt für die IQ-Testleistung die Hirngröße unabhängig von Geschlecht und Alter nur eine untergeordnete Rolle. Der Zusammenhang wurde zuletzt deutlich überschätzt.
Die Forscher ließen sich auch unveröffentlichte Testreihen zusenden. So sollte ein Problem umgangen werden, das in der Forschung häufig eine Rolle spielt: Veröffentlicht werden vor allem Ergebnisse, die das erhoffte Resultat oder ein besonders deutliches zeigen. Das Gehirnvolumen erklärt der neuen Auswertung zufolge nur etwa sechs Prozent der beobachteten Unterschiede. „Vielmehr scheinen Struktur und Integrität des Gehirns als biologische Grundlage von Intelligenz zu fungieren“, erklärt Forscher Jakob Pietschnig. So haben auch Männer um zehn Prozent größere Gehirne - die kognitiven Fähigkeiten unterscheiden sich aber nicht von denen der Frauen.
Alternative Faktoren für Intelligenz
Die Forschung deutet darauf hin, dass andere Faktoren als die reine Gehirngröße eine entscheidende Rolle für die Intelligenz spielen. Dazu gehören:
- Gehirnstruktur und -organisation: „Die Gehirne intelligenterer Menschen unterscheiden sich von denen weniger intelligenter Menschen im Hinblick auf ihre Struktur und ihre Funktion”, sagt Dr. Ulrike Basten von der Goethe-Universität Frankfurt. „Allerdings legt die aktuelle Forschung nahe, dass es nicht einen einzigen Faktor gibt, der die Leistungsfähigkeit bestimmt. Dr.
- Vernetzung von Hirnregionen: „Das Netzwerk aus Verbindungen zwischen den verschiedenen Gehirnregionen ist bei intelligenteren Menschen anders organisiert als bei weniger intelligenten”. Dr. Allerdings zeigte eine Studie aus dem Jahr 2017 von Basten und ihren Kollegen, dass intelligentere Personen nicht generell kürzere Verbindungen im ganzen Gehirn haben. Vielmehr konnten die Forscher zeigen, dass bei intelligenteren Menschen zwei bestimmte Regionen über kürzere Pfade mit dem Rest des Gehirns verknüpft waren, während eine andere Region mit dem restlichen Nervennetzwerk schwächer verbunden war.
- Effizienz der Informationsverarbeitung: „Die unterschiedlich starke Einbettung der von uns identifizierten Regionen ins Gesamtnetzwerk des Gehirns könnte dafür sorgen, dass intelligentere Menschen besser zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen unterscheiden können”, sagt Basten.
- Gehirnaktivität und Energieverbrauch: Während intelligentere Menschen bei leichten und mittelschweren Aufgaben weniger Energie verbrauchen, steigt der Energieverbrauch bei schwierigen Aufgaben im Vergleich zu weniger intelligenten Menschen stärker an. „Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass intelligentere Menschen bei diesen Aufgaben länger am Ball bleiben und sich stark auf die Lösung der Aufgabe konzentrieren, während andere früher aufgeben und quasi abschalten, weil sie ohnehin nicht denken, dass sie die Aufgabe lösen können”, sagt Basten.
- Flexibilität des Gehirns: Die Netzwerkorganisation im Gehirn verändert sich von Sekundenbruchteil zu Sekundenbruchteil, weil unterschiedliche Verbindungen mehr oder weniger genutzt werden.
Das Gehirn als dynamisches Organ
Das menschliche Gehirn ist das komplizierteste Organ, das die Natur je hervorgebracht hat: 100 Milliarden Nervenzellen und ein Vielfaches davon an Kontaktpunkten verleihen ihm Fähigkeiten, an die kein Supercomputer bis heute heranreicht. Eine der wichtigsten Eigenschaften ist seine Lernfähigkeit.
Bis vor wenigen Jahren galt unter Wissenschaftlern als ausgemacht: Das Gehirn eines Erwachsenen verändert sich nicht mehr. Heute weiß man jedoch, dass das Gehirn bis ins hohe Alter laufend umgebaut wird. Manche Neurobiologen vergleichen es sogar mit einem Muskel, der trainiert werden kann. Die Vorstellung, dass das Gehirn ein Leben lang lernfähig bleibt, ist aus wissenschaftlicher Sicht unbestritten. Anders hätte der Mensch die vielfältigen Herausforderungen, denen er im Laufe eines Lebens begegnet, auch gar nicht bewältigen können. So können wir bis ins hohe Alter eine Fremdsprache und Yoga lernen, uns Gesicht und Stimme eines neuen Arbeitskollegen merken oder den Weg zu einer neuen Pizzeria.
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Lernen und synaptische Plastizität
Lernen findet an den Synapsen statt - also den Orten, an denen die elektrischen Signale von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass Synapsen die Effektivität der Übertragung variieren können. Man bezeichnet dieses Phänomen auch als synaptische Plastizität. So kann eine Synapse durch einen Vorgang namens Langzeitpotenzierung (LTP) verstärkt werden, indem sie mehr Botenstoff ausschüttet oder mehr Botenstoffrezeptoren bildet.
Die Übertragung von Signalen kann aber nicht nur verstärkt oder abgeschwächt werden, sie kann auch überhaupt erst ermöglicht oder völlig gekappt werden. So wissen Neurowissenschaftler heute, dass Synapsen selbst im erwachsenen Gehirn noch komplett neu gebildet oder abgebaut werden können. An wenigen Stellen wie zum Beispiel im Riechsystem können sogar zeitlebens neue Nervenzellen gebildet werden. Es ist also nicht übertrieben, wenn man sagt: Unser Gehirn gleicht zeitlebens einer Baustelle.
Stärkung und Schwächung, Auf- und Abbau - die Stärke, mit der Signale zwischen Nervenzellen übertragen werden, wird laufend angepasst. Etwas vereinfacht könnte man sich also vorstellen, dass die Signalübertragung verstärkt wird, wenn das Gehirn etwas speichert - und abgeschwächt wird, wenn es vergisst. Ohne die Plastizität würde dem Gehirn folglich etwas Fundamentales fehlen: seine Lernfähigkeit.
Die Bedeutung der Verschaltung
Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld ist die Verschaltung innerhalb des Gehirns. Das menschliche Gehirn lässt sich nach verschiedenen Kriterien untergliedern. Entwicklungsgeschichtlich beispielsweise besteht es wie das aller Wirbeltiere aus dem End-, Zwischen-, Mittel-, Hinter- und Markhirn, auch als Tel-, Di-, Mes-, Met- und Myelencephalon bezeichnet.
Besonders auffällig ist die zum Endhirn gehörende sogenannte Großhirnrinde, der sogenannte Kortex. Sie ist im Laufe der Evolution so stark gewachsen, dass sie fast das gesamte Gehirn umgibt. Die Großhirnrinde ist Sitz vieler höherer geistiger Fähigkeiten. Einzelne Bereiche haben dabei unterschiedliche Aufgaben. So sind manche Areale darauf spezialisiert, Sprache zu verstehen, Gesichter zu erkennen oder Erinnerungen abzuspeichern. In der Regel ist aber keine Region allein für eine bestimmte Fähigkeit verantwortlich, sondern nur im Zusammenspiel mit anderen.
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Welche Gehirngebiete miteinander verbunden sind, untersuchen Wissenschaftler mithilfe der sogenannten Magnetresonanztomografie (MRT). Mit dieser Technik können sie die zu Fasersträngen gebündelten Fortsätze von Nervenzellen sichtbar machen, die die Areale der Großhirnrinde miteinander verbinden.
Evolutionäre Aspekte der Gehirnentwicklung
Vergleicht man das Gehirn des Menschen mit dem einer Maus, sticht ein Unterschied sofort ins Auge: Das menschliche Gehirn ist gefaltet, das Gehirn einer Maus hingegen glatt. Zudem ist das menschliche Gehirn im Verhältnis zum Körper viel größer als bei der Maus. Speziell der Neocortex ist beim Menschen deutlich ausgeprägter - dieser Bereich des Großhirns ist unter anderem dafür verantwortlich, dass wir träumen, sprechen oder komplex denken können.
Noch interessanter fällt ein Vergleich mit unseren nahen Verwandten aus. Mit dem Schimpansen haben wir Menschen beispielsweise rund 99 Prozent der Gene gemeinsam. Trotz dieser großen Gemeinsamkeit liegt ein wichtiger Unterschied wiederum auf der Ebene des Gehirns: Das des Menschen ist dreimal so groß wie das von Schimpansen.
Im Laufe der Evolution müssen also im menschlichen Genom und damit in den zellbiologischen und genetischen Faktoren der Entwicklung des zentralen Nervensystems Veränderungen erfolgt sein, die wiederum zu einem ausgeprägten Gehirnwachstum und zur Expansion des Neocortex geführt haben.
Schlüsselgene der Gehirnentwicklung
Um nach den Faktoren zu suchen, die diese Unterschiede zwischen dem menschlichen Gehirn und dem anderer Lebewesen auslösen und steuern, schafften Forscher um Wieland Huttner, Direktor und Forschungsgruppenleiter am MPI für molekulare Zellbiologie und Genetik, was bisher niemandem gelungen war: Sie entwickelten eine Methode, mit der man spezielle Subpopulationen von Hirn-Stammzellen aus dem sich entwickelnden Großhirn gewinnen kann [1].
Die Wissenschaftler isolierten zunächst verschiedene Stamm- und Vorläuferzelltypen aus fötalem Großhirngewebe von Menschen und Mäusen. Dann verglichen die Forscher die Gene, die in diesen diversen Zelltypen aktiv sind. Dabei fiel auf, dass das Gen ARHGAP11B, das in keinem anderen Primaten als dem Menschen gefunden wurde, insbesondere in den sogenannten basalen Hirn-Stammzellen aktiv ist. Diese Zellen sind für die Expansion der Großhirnrinde im Laufe der Evolution besonders wichtig gewesen.
Um zu testen, ob das Gen ARHGAP11B im Menschen tatsächlich dafür sorgt, dass mehr basale Hirn-Stammzellen gebildet werden und damit das Großhirn wächst, machten die Forscher die Gegenprobe und brachten das Gen in Mausembryonen ein. Das Ergebnis war spektakulär: In der Tat bewirkte das menschenspezifische Gen im kleineren Maushirn, dass sich deutlich mehr basale Hirn-Stammzellen bildeten und in der Hälfte der Fälle sogar Faltungen der sonst glatten Großhirnrinde entstanden - genau so, wie sie beim Menschen besonders ausgeprägt sind (Abb. 1). Somit kommt dem Gen ARHGAP11B eine Schlüsselrolle in der evolutionären Expansion der menschlichen Großhirnrinde zu.
Bemerkenswerterweise existierte das Gen ARHGAP11B auch schon im Genom von Neandertalern und Denisova-Menschen, wie Daten von an der Studie beteiligten Forschern um Svante Pääbo vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie belegen.
Eine wichtige Rolle spielt außerdem die Expression des Transkriptionsfaktors Pax6: Während der Entwicklung eines menschlichen Gehirns ist dieses Gen in den basalen Hirn-Stammzellen sehr aktiv, bei Mäusen hingegen deutlich weniger [2]. Das führt zu einem unterschiedlichen Verhalten dieser Zellen in Menschen und Mäusen: Im Menschen durchlaufen basale Vorläuferzellen mehrere Zellteilungs-Runden, wodurch die Anzahl der Nervenzellen beträchtlich ansteigt und damit auch die Größe des Neocortex. Bei Mäusen hingegen teilen sich diese Vorläuferzellen in der Regel nur ein Mal, was eine geringere Anzahl von Nervenzellen zur Folge hat.
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