Die COVID-19-Pandemie hat nicht nur akute gesundheitliche Auswirkungen, sondern auch langfristige Folgen, die als Long COVID oder Post-COVID-Syndrom bekannt sind. Ein wachsendes Forschungsfeld widmet sich den neurologischen Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion. Studien zeigen, dass ein erheblicher Teil der Infizierten mit anhaltenden neurologischen und neuropsychiatrischen Symptomen zu kämpfen hat.
Neurologische Symptome und ihre Häufigkeit
Eine Metaanalyse hat die häufigsten neurologischen und neuropsychiatrischen Symptome des Post-COVID-19-Syndroms bei Erwachsenen identifiziert. Dazu gehören:
- Fatigue (Erschöpfung): Mit 37 % das am häufigsten berichtete Symptom.
- Gehirnnebel (Brain Fog): Kognitive Beeinträchtigungen, die das Denken trüben (32 %).
- Gedächtnisprobleme: Schwierigkeiten, sich Dinge zu merken (28 %).
- Aufmerksamkeitsstörungen: Konzentrationsschwierigkeiten (22 %).
- Muskelschmerzen: (17 %).
- Kopfschmerzen: (15 %).
- Geruchsverlust: (12 %).
- Geschmacksstörungen: (10 %).
Diese Symptome können die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen und den beruflichen Alltag erschweren.
Ursachenforschung: Das Spike-Protein im Fokus
Die Ursachen für die Langzeitsymptome sind vielfältig und noch nicht vollständig geklärt. Eine zentrale Rolle scheint das sogenannte Spike-Protein des Coronavirus SARS-CoV-2 zu spielen.
Persistenz des Spike-Proteins im Gehirn
Forschende von Helmholtz Munich und der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) haben einen Mechanismus identifiziert, der möglicherweise die neurologischen Symptome von Long COVID erklärt. Ihre Studie zeigt, dass das SARS-CoV-2-Spike-Protein in den schützenden Schichten des Gehirns, den Hirnhäuten, und im Knochenmark des Schädels bis zu vier Jahre nach der Infektion verbleiben kann.
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Diese dauerhafte Präsenz des Spike-Proteins könnte bei den Betroffenen chronische Entzündungen auslösen und das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen erhöhen. Das Team um Prof. Ali Ertürk, Direktor des Instituts für Intelligente Biotechnologien bei Helmholtz Munich, nutzte eine neuartige KI-gestützte Bildgebungstechnik, um bisher nicht feststellbare Ablagerungen des Spike-Proteins in Gewebeproben von Menschen mit COVID-19 und Mäusen nachzuweisen.
Die Studie, veröffentlicht im Fachjournal Cell Host & Microbe, zeigte signifikant erhöhte Konzentrationen des Spike-Proteins im Knochenmark des Schädels und in den Hirnhäuten, selbst Jahre nach der Infektion. Das Spike-Protein bindet an sogenannte ACE2-Rezeptoren, die in diesen Regionen besonders häufig vorkommen. „Das könnte diese Gewebe besonders anfällig für die langfristige Ansammlung des Spike-Proteins machen“, erklärt Dr. Zhouyi Rong, Erstautor der Publikation. Ertürk ergänzt: „Unsere Daten deuten auch darauf hin, dass das persistierende Spike-Protein an den Grenzen des Gehirns zu den langfristigen neurologischen Effekten von COVID-19 und Long COVID beitragen könnte."
mRNA-Impfstoffe reduzieren die Anreicherung des Spike-Proteins
Das Team um Ertürk entdeckte, dass der mRNA-COVID-19-Impfstoff von BioNTech/Pfizer die Anreicherung des Spike-Proteins im Gehirn signifikant reduzieren konnte. Mit dem mRNA-Impfstoff geimpfte Mäuse zeigten niedrigere Spike-Protein-Werte sowohl im Gehirngewebe als auch im Knochenmark des Schädels im Vergleich zu ungeimpften Mäusen. Die Reduktion betrug jedoch nur etwa 50 Prozent, sodass ein Rest des Spike-Proteins weiterhin ein toxisches Risiko für das Gehirn darstellt.
Weltweit haben sich 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung mit COVID-19 infiziert. Davon leiden fünf bis zehn Prozent unter Long COVID. Das entspricht etwa 400 Millionen Menschen, die möglicherweise signifikante Mengen an Spike-Proteinen in sich tragen. „Das ist nicht nur ein individuelles Gesundheitsproblem - es ist eine gesellschaftliche Herausforderung“, sagt Ertürk: „Unsere Studie zeigt, dass mRNA-Impfstoffe das Risiko langfristiger neurologischer Folgen erheblich senken können und somit einen entscheidenden Schutz bieten. Aber auch nach Impfungen kommt es zu Infektionen, die zu persistierenden Spike-Proteinen im Körper führen können."
Auswirkungen auf Diagnose und Therapie
„Unsere Ergebnisse eröffnen neue Möglichkeiten zur Diagnose und Behandlung der langfristigen neurologischen Effekte von COVID-19“, sagt Ertürk. Im Gegensatz zu Gehirngewebe sind das Knochenmark des Schädels und die Hirnhäute für medizinische Untersuchungen leichter zugänglich. Kombiniert mit Protein-Panels - Tests zum Nachweis spezifischer Proteine in Gewebeproben - könnte dies ermöglichen, Spike-Proteine oder Entzündungsmarker im Blut oder der Gehirnflüssigkeit zu identifizieren. „Solche Marker sind für eine frühzeitige Diagnose von COVID-19-bedingten neurologischen Komplikationen wichtig", so Ertürk: „Darüber hinaus könnte die Charakterisierung dieser Proteine die Entwicklung gezielter Therapien und Biomarker unterstützen, um neurologische Beeinträchtigungen durch COVID-19 besser zu behandeln oder sogar zu verhindern.“
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Prof. Ulrike Protzer, leitende Virologin bei Helmholtz Munich und an der Technischen Universität München, betont die weitreichende Bedeutung der Studie: „Angesichts der anhaltenden globalen Auswirkungen von COVID-19 und des zunehmenden Interesses an Langzeitfolgen ist diese Studie, die neue Erkenntnisse über Invasionswege ins Gehirn und unerwartete langfristige Wechselwirkungen mit dem Wirt liefert, besonders relevant."
Weitere Forschungsergebnisse und Erkenntnisse
Neben der Rolle des Spike-Proteins gibt es weitere Forschungsansätze, die neue Erkenntnisse über die Mechanismen und Auswirkungen von Long COVID liefern.
Veränderungen im Gehirn nachweisbar
Eine neuere Studie aus Oxford gibt konkrete Hinweise auf Unregelmäßigkeiten im Gehirn durch eine Covid-19-Erkrankung. Die Forscher:innen konnten anhand von Hirnscans Veränderungen im Gehirn messen. Prof. Steinbrecher erklärt dazu: „Interessant ist, dass diese Veränderungen vor allem die sogenannten limbischen Hirnregionen betreffen. Dies könnte mit den häufig bei COVID-19 beobachteten Riechstörungen zusammenhängen."
Eine aktuelle Studie des Universitätsklinikums Freiburg, veröffentlicht im Fachjournal Nature Communications, zeigt, dass bei Post-Covid-Patientinnen die Mikrostruktur im Gehirn im Vergleich zu Gesunden verändert ist. Die betroffenen Gehirnareale standen in Zusammenhang mit den Symptomen der jeweiligen Patientinnen. Dabei ging das Ausmaß der zerebralen Veränderung einher mit der Schwere der Infektion und der Stärke der Beschwerden.
Aktivierung des Immunsystems im Gehirn
Freiburger Forscherinnen haben wichtige Fortschritte im Verständnis der immunologischen Veränderungen im Gehirn von COVID-19-Genesenen gemacht. Im Gehirn von Personen, die eine SARS-CoV-2-Infektion überstanden haben, fanden sie Anzeichen einer anhaltenden Aktivierung des angeborenen Immunsystems. Diese Erkenntnisse könnten entscheidend für die Entwicklung neuer Therapien für Patientinnen mit langfristigen neurologischen Symptomen nach COVID-19 sein.
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Im Vergleich zu ebenfalls untersuchten Personen ohne vorherige SARS-CoV-2-Infektion fanden die Forscher*innen in den Gehirnen von Genesenen zahlreiche sogenannte Mikrogliaknötchen. Diese charakteristischen Immun-Zellansammlungen weisen auf eine chronische Immunaktivierung hin, ähnlich einer Narbe, die nicht vollständig ausheilt. „Die Mikrogliaknötchen könnten eine zentrale Rolle bei den neurologischen Veränderungen spielen, die bei einigen Genesenen beobachtet werden“, erklärt Dr. Marius Schwabenland, Erstautor der Studie.
Riechstörungen und ihre Folgen
Bei einer SARS-CoV-2 Infektion tritt häufig ein plötzlicher Geruchsverlust mit begleitender Minderung des Geschmackssinns auf. Einige Erkrankte haben jedoch über längere Zeiträume einen Geruchsverlust. In einer Studie aus dem Jahr 2021 hatten 46 Prozent der COVID-19-Erkrankte mehr als ein Jahr nach ihrer Infektion immer noch Geruchsprobleme. Ein Mangel an "Input" durch den Geruchssinn könnte teilweise die Ergebnisse einer großen Bildgebungsstudie aus Großbritannien erklären, die Gehirnschnittbilder von Personen vor und nach ihrer Corona-Infektion verglich. Dort wiesen Betroffene nach der Infektion mehrere Veränderungen in Bereichen auf, die mit dem Geruchszentrum des Gehirns verbunden sind.
Weitere mögliche neurologische Symptome
Je nach Verlauf zeigt das Corona-Virus unterschiedliche Symptome und neurologische Besonderheiten. Zu den häufigen neurologischen Symptomen von Corona-Patienten zählen:
- Riechstörungen
- Kopfschmerzen
- Muskelschmerzen
- Schwere Muskelentzündungen
- Bewusstseinsstörungen und Delir
- Schlaganfälle (mit typischen halbseitigen Lähmungen sowie Sensibilitäts- und Sehstörungen)
- Entzündungen Gehirn und Rückenmark
- Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
Viele der neurologischen Symptome klingen wieder ab. Studien berichten jedoch, dass ein kleinerer Teil der Betroffenen über anhaltende Riechstörungen, Muskelschmerzen oder Schwächeklagen. Folgen eines Schlaganfalls können hingegen lebenslang spürbar sein und bleiben. Selbiges gilt für die entzündlichen Komplikationen.
Long COVID bei Kindern und Jugendlichen
Wie häufig Kinder und Jugendliche nach einer Corona-Infektion Long COVID entwickeln, ist noch immer sehr schwer zu beziffern. Es sind auch Kinder betroffen, die nicht im Krankenhaus behandelt werden mussten und nur sehr milde Verläufe hatten. Die vorliegenden Auswertungen deuten auf eine Quote von etwa 1,5 bis 5 Prozent der Infizierten hin.
Therapieansätze und Behandlungsmöglichkeiten
Eine unmittelbare Therapie des Long- oder Post-COVID-Syndroms existiert bislang noch nicht. Die Behandlung ist oft komplex und richtet sich nach dem Schwerpunkt der Symptome.
Symptomatische Behandlung
- Schmerzen: Symptomatische Behandlung mit herkömmlichen Schmerzmitteln.
- Lungenbeschwerden: Lungenfachärzte verordnen zum Teil Kortisonspray, um die überschießende Immunreaktion herunterzufahren.
- Sprach- oder Schluckstörungen: Logopädie.
- Kribbeln oder Gefühlsstörungen in Armen und Beinen: Ergotherapie.
Rehabilitation
Die Deutsche Rentenversicherung und die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung raten zu einer interdisziplinär ausgerichteten Rehabilitation. Bei der Long-Covid-Reha werden alle Patientinnen und Patienten zunächst komplett untersucht. Dazu gehören Herz, Lunge, Gehirn und auch die Psyche. Das bedeutet, Betroffene erhalten eine ganzheitliche, aber auch sehr individuelle Behandlung.
Weitere Therapieansätze
- Atemtherapie: Gezielte Atemtherapien in Reha-Kliniken.
- Physiotherapie: Wiederaufbau von Kraft und Kondition.
- Pacing: Vermeidung von Überanstrengung, indem man sich das richtige Tempo vorgibt.
- Neuro-Training: Spezielles Training bei kognitiven Beeinträchtigungen.
- Psychotherapie: Begleitende Psychotherapie kann bei langandauernden und wechselhaften Symptomen sinnvoll sein.
Pacing als wichtiger Bestandteil der Therapie
Expertinnen und Experten raten Betroffenen, ein Tagebuch über ihre Aktivitäten zu führen, damit sie ein Gefühl dafür bekommen, was sie gemacht haben und was zu viel war. Wichtig für die Patientinnen und Patienten: Fühlen sie sich zu erschöpft, können sie Termine absagen, um sich auszuruhen. Die Belastungsintoleranz ist typisch für Long Covid.
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