Warum können wir uns so tief in ein Buch versenken, dass wir die Welt um uns herum vergessen? Warum bleiben uns Reime ein Leben lang im Gedächtnis, und warum können Metaphern manchmal wie ein Blitz einschlagen? Die Verbindung zwischen Gehirn und Dichtung ist ein faszinierendes Forschungsfeld, das die neuesten Erkenntnisse der Biologie und Wissenschaft nutzt, um die Geheimnisse der Poesie zu entschlüsseln.
Eine interdisziplinäre Annäherung
Das Buch "Gehirn und Gedicht" von Raoul Schrott und Arthur Jacobs unternimmt den Versuch, eine Brücke zwischen Hirnforschung und Poesie zu schlagen. Schrott, ein Lyriker, Literaturwissenschaftler und Übersetzer, führt dabei den "Dialog", während Jacobs, ein Neuropsychologe, gelegentlich Einschübe liefert.
Michael Hagner, ein Mediziner, bewertete das Buch in der FAZ positiv und lobte die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen einem Dichter und einem Psychologen. Er schätzte die kluge Argumentation und den Verzicht auf plumpen biologischen Reduktionismus, der die Komplexität von Dichtung auf die Ausschüttung von Neurotransmittern im Gehirn reduziert. Hagner betonte den konstruktivistischen Ansatz der Autoren und die Überzeugung Schrotts, dass die Poesie selbst ein wesentliches Erkenntnispotential birgt.
Dirk von Petersdorff, ein Dichter, las das Buch ebenfalls mit einigem Gewinn. Er bestätigte, dass die Autoren keiner Biologisierung der Dichtkunst das Wort reden. Er schätzte das umfangreiche Werk als eine informative Reise zu den neurophysiologischen Grundlagen der Dichtung. Besonders deutlich wurde für ihn die körperliche Verankerung ästhetischer Phänomene, beispielsweise bei der Erklärung der biologischen Grundlagen unserer Reaktion auf rhythmisierte Sprache.
Neuronale Prozesse in literarischen Stilmitteln
Schrott und Jacobs zeigen, wie sich in elementaren literarischen Stilmitteln neuronale Prozesse erkennen lassen. Sie greifen auf evolutionsbiologische Erklärungsmuster zurück, die ihrerseits Konstruktionen sind, die in ihrer retrospektiven sprachlichen Darstellung Sinn und Folgerichtigkeit erzeugen sollen.
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Die Spiegelneuronen bilden die Grundlage dafür, dass wir das Gesicht verziehen, wenn wir sehen, wie sich jemand in den Finger schneidet. Sie erlauben generell jene Empathie, mit der wir Handlungen und Gefühle von Artgenossen nachvollziehen. Es ist eine Art virtueller Realitätsschau im Gehirn, bei der wir das simulieren, was wir sehen: eine Form instinktiver Mimesis. Sie löst einen Prozess aus, bei der wir Wahrgenommenes innerlich nachahmen und gewissermaßen imaginär schauspielern - meist, bevor uns noch bewusst wird, was sich da vor unseren Augen abspielt.
So wird Visuelles in Motorisches übersetzt, in einem Akt aktiver Simulation, der es letztendlich auch ermöglicht, uns mit derselben Intensität auch in Filme und Bücher einzuleben. Imitation von Mimik führt nicht nur zu einer Empathie, die die Barriere zwischen Ich und Du aufhebt; sie unterstellt auch jedwedem Gegenüber intuitiv Intentionalität. Das andere wird dadurch zu einem Agierenden, dem wir die unterschiedlichsten Vorsätze und Bestrebungen als zielgerichtetes Verhalten zuschreiben.
Die Forschung nimmt nun an, dass die Gehirnfunktionen, die für diesen Prozess zuständig waren, mit der Zeit okkupiert wurden durch ein sogenanntes "visuelles Wortform-Areal". Eine Art Umformungsprozess muss also wohl stattgefunden haben, der uns dann befähigte, Worte zu identifizieren, ihnen Sinn und Intention zuzuschreiben und uns auf diese Weise schließlich in eine imaginäre, bildhafte Parallelwelt einfühlen zu können. Ein Vorgang, der letztendlich immer auf Körperbewegung und -erfahrung zurückgeht, auf motorisches Erinnerungsvermögen, auf das, was wir "er- und begreifen" können.
Die Rolle von Rhythmus, Reim und Metaphern
Der Zugang zu einem Gedicht wird vom Rezipienten immer zuerst über Rhythmus und Reim gesucht. Ähnliche Klang- und Schriftbilder können aber nicht lange über die inhaltlichen Mehrdeutigkeiten hinwegtäuschen. Ob ein Gedicht mit ästhetischen Mitteln wie Gleichklängen oder inhaltlichen Mehrdeutigkeiten, mit Unvereinbarkeiten oder mit assoziativen Bedeutungsfeldern spielt, ob es mit Nachsetzungen oder Vertauschungen arbeitet - immer wird damit unser neurologisches Worterfassungsprogramm ausgebremst, das auf das Erwartbare abzielt. Der Blick geht wieder zurück, wir verharren bei einer Zeile, versuchen uns "einen Reim" auf das Gelesene zu machen, eine Assoziationsmaschine kommt in Gang, die abgelagerte Bilder, Erinnerungen, Sinneseindrücke aktiviert, wobei unsere Emotionen eine wichtige Rolle spielen.
Wenn die Kognitionsforscher und Neuropsychologen recht haben mit ihrer Erkenntnis, dass der Wahrnehmungsprozess an sich etwas Stimulierendes hat, wenigstens soweit damit Erwartungshaltungen aktiviert werden, dann sind Abweichungen vom Gewohnten und schon Bekannten notwendiges Futter für unser Gehirn. Wird beispielsweise eine Metapher erfolgreich entschlüsselt, sorgt das für Wohlbehagen, war der Aufwand entsprechend unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten zu gering, langweilen wir uns. Offensichtlich eine Grundbedingung für weiteres Lernen und Interesse.
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Metaphern oder bildhafte Mehrdeutigkeiten sind Grundelemente der Dichtung und von Literatur überhaupt, bestimmen aber auch unsere Alltagssprache, die Schlager, die wir im Radio hören und - in nicht zu unterschätzender Wirkungsweise - die Werbung. Wie wir eine Metapher verstehen, mit welchen Bildern wir sie assoziieren, ist individuell und kulturell unterschiedlich.
Gehirnaktivität beim Lesen
Um die Vorgänge im Gehirn beim Lesen zu untersuchen, konfrontierten Peter Hagoort und seine Kollegen von der Universität Nijmegen ihre Versuchspersonen mit verschiedenen Satzbeispielen. Sie maßen die Hirnströme der Probanden per Elektroenzephalogramm (EEG). Wenn die Semantik des Satzes verletzt war, trat eine N400-Welle im EEG der Versuchspersonen auf. Überraschenderweise reagierte das Gehirn ebenso, wenn es eine semantisch richtige, aber inhaltlich falsche Aussage verarbeiten musste. Die Frequenzen der EEG-Oszillationen unterschieden sich jedoch: Bei Verletzung des Wahrheitsgehaltes traten sie im niederfrequenten Bereich als so genannte Theta-Peaks auf, während Verletzungen in der Bedeutung der Aussage Gamma-Antworten mit höherer Frequenz auslösten.
Die funktionelle Kernspinresonanztomographie lieferte die Antwort, wo diese Verarbeitung im Gehirn stattfindet: im unteren Bereich des linken präfrontalen Cortex, und zwar in der Nähe der so genannten Brodmann-Areale 45 und 47. Von diesen Rindenfeldern war bereits bekannt, dass sie an der semantischen Verarbeitung von Sprache beteiligt sind.
Kritik und Perspektiven
Manfred Koch konnte die Studie "Gehirn und Gedicht" von Raoul Schrott und Arthur Jacobs nicht überzeugen. Er bemängelte, dass der angestrebte "Dialog" eher einen Monolog Schrotts mit gelegentlichen Einschüben Jacobs darstellt. Der Versuch einer "allumfassenden Neuropoesie" warte nicht mit so besonders tiefen Erkenntnissen auf. Koch gewann nicht viel Neues aus dieser Perspektive auf die Wirkung von Lyrik auf den Menschen und hatte das meiste schon bei Kant lesen können. Er vermutete, dass es Schrott um eine "totale Durchleuchtung des Gehirns" geht, um die Produktion und Rezeption von Kunst transparent zu machen.
Trotz dieser Kritik bietet die Forschung an der Schnittstelle von Gehirn und Dichtung wertvolle Einblicke in die komplexen Prozesse, die beim Lesen und Verstehen von Literatur ablaufen. Sie verdeutlicht die körperliche Verankerung ästhetischer Erfahrungen und zeigt, wie neuronale Mechanismen unsere Wahrnehmung und Interpretation von Texten beeinflussen. Zukünftige Studien könnten sich darauf konzentrieren, die spezifischen Auswirkungen verschiedener literarischer Stilmittel auf die Gehirnaktivität zu untersuchen und die individuellen und kulturellen Unterschiede bei der Rezeption von Literatur besser zu verstehen.
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