Das Gehirn, ein faszinierendes und komplexes Organ, ist die Schaltzentrale unseres Gedächtnisses und unserer Persönlichkeit. Seine Fähigkeit, sich ständig neu zu strukturieren, begleitet uns ein Leben lang. Die Neurowissenschaften enthüllen immer detaillierter, wie unser Gehirn funktioniert und wie es sich auf unsere Psyche auswirkt. Dieser Artikel beleuchtet die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Gehirn und Psychologie, von den neuronalen Grundlagen des Lernens bis hin zu den Auswirkungen zwischenmenschlicher Beziehungen auf die Hirnstruktur.
Neuroplastizität: Die dynamische Anpassungsfähigkeit des Gehirns
Unser Gehirn ist keine statische Struktur, sondern ein dynamisches Organ, das sich ständig verändert und anpasst. Diese Fähigkeit zur Umstrukturierung wird als Neuroplastizität bezeichnet. Beim Lernen werden neue Reize gesetzt, die das neuronale Netz verändern. Es bilden sich neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen, das Netzwerk wird dichter und größer.
Ein anschauliches Beispiel für Neuroplastizität ist das Erlernen eines Instruments wie der Geige. Psychologe und Neurowissenschaftler Nicolas Schuck vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin erforscht, wie das Gehirn Informationen verarbeitet. Er fand heraus, dass sich die Struktur des Gehirns durch das Geigelernen über Wochen und Monate hinweg verändert. Bestimmte Verbindungen zwischen den Nervenzellen und Hirnarealen, die für das Geigespielen notwendig sind, werden aktiver.
Die Neuroplastizität ermöglicht es uns auch, uns in unbekannten Umgebungen zu orientieren und mit neuen Situationen zurechtzukommen. Diese Anpassungsfähigkeit hilft uns, bei komplexen Zusammenhängen den Durchblick zu bewahren, schnell zu reagieren und abzuwägen, was neu und wichtig ist.
Neurogenese: Die Neubildung von Nervenzellen
Neben der Neuroplastizität spielt auch die Neurogenese, die Neubildung von Nervenzellen, eine wichtige Rolle für die Anpassungsfähigkeit des Gehirns. Diese findet hauptsächlich im Hippocampus statt, einem Hirnareal, das für das Gedächtnis, das Lernen und die räumliche Orientierung zuständig ist. Bis ins hohe Alter können sich im Hippocampus Nervenzellen erneuern. Dies ist besonders wichtig für Menschen, die aufgrund eines Schlaganfalls viele Dinge neu lernen müssen.
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Routinen und Gewohnheiten: Der Autopilot des Gehirns
Das Gehirn spielt auch bei der Bildung von Routinen und Gewohnheiten eine wichtige Rolle. "Sind wir einmal an eine Verhaltensweise gewöhnt, schalten wir gewissermaßen auf Autopilot", sagt Lars Schwabe, Professor für Psychologie an der Universität Hamburg. Das Gehirn spart dadurch Arbeit. Dies zeigt sich auch bei der Ernährung: Essen wir Lebensmittel mit sehr viel Zucker und Fett, gewöhnt sich unser Gehirn daran und verlangt nach mehr. Wissenschaftler fanden heraus, dass Bereiche im Gehirn an Signale des Magens gekoppelt sind, die vermutlich das menschliche Hunger- und Sättigungsgefühl beeinflussen. Die Effekte von Zucker und Fett auf das Gehirn sind sogar auf MRT-Bildern zu sehen.
Die Dauer, die es braucht, um neue, gesunde Gewohnheiten aufzunehmen, variiert je nach Studie und Routine zwischen 18 und 245 Tagen.
Bildgebende Verfahren: Ein Blick ins Gehirn
Mit Hilfe der Neurowissenschaften können die Fähigkeiten unseres Gehirns immer genauer erklärt werden. Ein Blick ins Gehirn ist mit bildgebenden Verfahren, wie der Magnetresonanztomographie (MRT), möglich. Damit kann man Veränderungen von Hirnarealen untersuchen und das neuronale Netz in seiner Dichte erfassen. Es bietet Möglichkeiten immer besser zu verstehen, wie unser Gehirn tatsächlich lernt. Allerdings reicht das MRT-Verfahren nicht aus, um die neuronalen Aktivitäten im Detail zu erkennen.
Zwischenmenschliche Beziehungen: Die soziale Konstruktion des Gehirns
Joachim Bauer betont, dass das Gehirn aus Psychologie Biologie macht. Zwischenmenschliche Beziehungen beeinflussen das Gehirn und formen neuronale Strukturen. Beziehungserfahrungen legen neuroendokrinologische Reaktionsmuster des Gesamtorganismus fest.
Gene formen die grobe Struktur des Gehirns, aber die Erfahrungen des Kindes bestimmen die Feinregulierung bei den Nervenverbindungen, von der die Funktionsweise des Gehirns abhängt. Diese Feinregulierung durch Erfahrungen in der Umwelt setzt sich auch im Erwachsenenalter fort.
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Die Nervenzell-Anatomie verändert sich unter dem Einfluss von Erfahrungen mit der Umwelt. Nach dem Prinzip "Benütze es oder Du verlierst es" kommt es unter dem prägenden Einfluss individueller Umwelterfahrungen zum "Imprinting", d.h. zur Herausbildung und Stabilisierung von Nervenzell-Netzwerken.
Störungen zwischenmenschlicher Beziehungen können Seele und Gehirn krank machen. Stimulusdeprivation, wie sie z. B. Säuglinge erleiden, deren Mütter an einer postpartalen Depression erkrankt sind, hat bei den betroffenen Kindern psychobiologische Beeinträchtigungen zur Folge, die sich in neuropsychologischen Defiziten äußern können. Kinder, die unter benachteiligten Bedingungen aufgewachsen sind oder von Misshandlungen betroffen waren, zeigen Beeinträchtigungen des seelischen Erlebens und Verhaltens sowie Störungen biologischer Hirnfunktionen.
Traumatisierungen in der Kindheit können verheerende Gesundheitsschäden verursachen. Mindestens 10 % der Bevölkerung sind während Kindheit und Jugend von massiven und anhaltenden Gewalterfahrungen betroffen, deren Folgen depressive Erkrankungen, körperliche Beschwerden, dissoziative Störungen und Borderline-Störungen sein können.
Psychotherapie: Heilung für Seele und Gehirn
Psychotherapie heilt seelische Erkrankungen und hat positive Effekte auf Gehirn und Körper. Seelische Erkrankungen bilden sich nicht von selbst zurück. Psychotherapie hilft nicht nur der Seele, sondern auch dem Körper, denn in einem lebenden Organismus sind alle biologischen Funktionen zutiefst "beseelt".
Das Rätsel Bewusstsein: Was kann die Hirnforschung leisten?
Wie Bewusstsein entsteht, wie unser Wahrnehmen, Denken und Fühlen funktioniert, wie wir Entscheidungen treffen und was unser Verhalten bestimmt - all das sind Fragen, die Forscherinnen und Forscher rund um den Globus beschäftigen.
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Gemäß dem Reduktionismus würde es irgendwann eine Weltformel geben, eine “Theorie für Alles”, die jeden nur denkbaren Sachverhalt erklärt. Aber auch bei konkreteren technischen Anwendungen, wie dem “Gedankenlesen”, hat sich nicht viel getan. Solche Anwendungen befinden sich noch in einem sehr frühen Stadium.
Es gibt jedoch große Fortschritte im Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstellen, die manchen gelähmten Patienten die Kommunikation mit Anderen ermöglichen. Ähnliche Systeme könnten in naher Zukunft die Steuerung von Prothesen verbessern.
In den Kognitionswissenschaften spricht sich gerade herum, Kognition müsse gemäß dem 4E-Ansatz erforscht werden: verkörpert (embodied), eingebettet (embedded), in Interaktion mit der Welt (enacted) und erweitert (extended). Wir sind keine reinen Gehirne, die in einer Nährlösung schwimmen, sondern haben einen ganzen Körper, in einer bestimmten Situation für eine bestimmte Interaktion.
Die Phänomenologie hält die Phänomene, das, was uns erscheint, für grundlegend. In der Psychologie halten sich viele Vorurteile, nur das, was sich “objektiv” nachweisen lasse, sei real. Doch lässt sich damit wirklich das Wesen der psychologischen Vorgänge verstehen? Lässt sich Bewusstsein entschlüsseln?
Andere Forscherinnen und Forscher, die Bewusstsein eher als Informationsverarbeitung und Verfügbarmachen von Information für das ganze System auffassen, finden konsistent Aktivierungsmuster im Frontalhirn. Insofern lässt sich die subjektive Komponente nicht aus der Wissenschaft eliminieren.
Hirnforscher können sich nun ewig streiten, ob “das” neuronale Korrelat des Bewusstseins eher im vorderen oder hinteren Teil der Großhirnrinde zu finden ist. So wird deutlich, dass die Hirnforschung Psychologie oder Philosophie weder ablösen noch ersetzen kann.
Persönlichkeit und Hirnstruktur: Geschlechtsspezifische Unterschiede
Bestimmte Hirnstrukturen können darauf hinweisen, ob Männer extrovertiert, gewissenhaft und emotional stabil sind. Das deutet eine aktuelle Studie an, der kürzlich im Fachblatt Cerebral Cortex erschien. Darin hat der Neurowissenschaftler Professor Dr. Simon B. Eickhoff den Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit von Männern und der Menge an grauer Substanz in Teilen des Gehirns untersucht. Bei Frauen fand er einen solchen Unterschied nicht.
Die Ergebnisse könnten zukünftig dabei helfen, Männer und Frauen mit psychischen Erkrankungen besser zu behandeln. Dass sich bei Frauen kein Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und der Menge an grauer Substanz zeigte, führt Eickhoff auf den Einfluss von Geschlechtshormonen zurück.
Eickhoff entdeckte einen Zusammenhang zwischen der Menge an grauer Substanz in der betreffenden Hirnregion und Charaktereigenschaften wie Extrovertiertheit, Pflichtgefühl und emotionaler Stabilität - aber eben nur bei Männern. Da die Region um den Sulcus Parietooccipitalis im Zusammenhang gesehen wird mit Seh- und Wahrnehmungsfunktionen sowie dem Gedächtnis und Impulskontrolle, könnten Männer mit höherem Volumen an grauer Substanz auch in diesen Bereichen bessere Leistungen zeigen.
Emotionale Bewertungen: Unbewusstes Lernen
In einer aktuellen Studie hat Prof. Dr. habil. Carina G. Giesen mit einem Forschungsteam untersucht, wie sich Menschen emotionale Bewertungen unbewusst aneignen und verarbeiten. Die Ergebnisse zeigen, dass das Lernen von emotionalen Bewertungen häufig von bewussten Überlegungen begleitet wird, selbst wenn uns das auf den ersten Blick gar nicht klar ist.
Die Studie liefert neue Belege dafür, dass emotionale Bewertungen sowohl durch unbewusste Wiederholungen als auch durch bewusste Lernprozesse beeinflusst werden.
Speicherung wissenschaftlicher Begriffe im Gehirn
Wie speichert das Gehirn wissenschaftliche Begriffe wie „Angststörung“, „Sucht“ oder „Konditionierung“ - und geschieht das bei Expertinnen und Experten anders als bei Laien? Eine aktuelle Studie um den Ulmer Psychologen und Neurowissenschaftler Professor Markus Kiefer weist darauf hin, dass solche abstrakten Konzepte und wissenschaftlichen Begriffe bei beiden Personengruppen im sinnlich-erfahrungsbasierten Bereich des Gehirns verankert werden.
Die in der Fachzeitschrift Cerebral Cortex publizierten Ergebnisse stellen die traditionelle Annahme der Psychologie in Frage, dass sich die Wissensspeicherung im Lauf der akademischen Bildung hin zu abstrakteren, sprachlich-symbolischen Hirnstrukturen verlagert.
Die Studie der Ulmer Forscherinnen und Forscher baut auf der neueren Theorie der „Verkörperten Kognition“ auf. Ihr zufolge sind wissenschaftliche Begriffe selbst bei Expertinnen und Experten in den sinnlich-erfahrungsbasierten Systemen des Gehirns gespeichert. Akademische Expertise stärkt demnach sogar die Verankerung psychologischer Begriffe in den sozio-emotionalen Schaltkreisen des Gehirns.
Diese Forschung unterstreicht, wie wichtig in der akademischen Bildung auch Lehreinheiten mit sinnlichem Bezug und direkten Erfahrungswerten sind, wie praktische Übungen, Museumsbesuche, Feld-Exkursionen oder Laborexperimente, aber auch Veranschaulichung abstrakter Inhalte in der Lehre.
Kognitive Delfine: Bewusstsein und Unterbewusstsein
Die spielerische und gleichzeitig effektive Akrobatik der Delfine ist eine fruchtbare Metapher für das, was passiert, wenn wir denken. Was die meisten von uns immer noch als "unsere eigenen bewussten Gedanken" bezeichnen, sind in Wirklichkeit eher so etwas wie kognitive Delfine in unserem Kopf, die für kurze Zeit aus dem Ozean unseres Unterbewusstseins auftauchen, bevor sie wieder abtauchen.
Die kognitive Verarbeitung im Gehirn verläuft parallel auf vielen Ebenen und es gibt einen ständigen Wettlauf zwischen unseren Gedanken, einen inneren Wettbewerb um den Fokus der Aufmerksamkeit.
Eines der interessantesten aktuellen Forschungsgebiete in den Neurowissenschaften und der experimentellen Psychologie ist der anscheinend ziellos umherschweifende Geist, das Tagträumen, die ungebetenen Erinnerungen und das automatische Planen.
Die empirischen Ergebnisse haben große Bedeutung für Politik, Bildung und Moral. Stabile kognitive Kontrolle ist die Ausnahme, während ihr Fehlen die Regel ist. Das autonome "Selbst" als Initiator oder Ursache unserer kognitiven Handlungen ist ein weit verbreiteter Mythos.
Wer kritische Rationalität will, muss geistige Autonomie wollen. Wenn uns die Forschung zunehmend mehr darüber sagt, was die einschränkenden Faktoren für mentale Autonomie wirklich sind, dann muss sich dies auch in der akademischen Lehre widerspiegeln. Rationalität kann man genauso trainieren wie innere Bewusstheit.
Dynamische Netzwerkeigenschaften des Gehirns und Intelligenz
Verschiedenste Annahmen existieren zu der Frage, warum sich kognitive Fähigkeiten zwischen Menschen unterscheiden. Auch neurobiologische Theorien wurden zur Erklärung dieses grundlegenden Phänomens der Psychologie herangezogen.
Dr. Kirsten Hilger und Prof. Dr. Christian Fiebach werteten fMRT-Hirnscans von 281 Personen aus, um zu erforschen, wie dynamische Netzwerkeigenschaften des menschlichen Gehirns mit Intelligenz zusammenhängen.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die modulare Organisation der Hirnnetzwerke von Intelligenteren über die Dauer der fMRT-Messung geringeren Schwankungen unterworfen war. Die Ergebnisse legen jedoch nahe, dass Prozesse kontrollierter Aufmerksamkeit, also die Fähigkeit, sich gut konzentrieren zu können, für Intelligenz eine wichtige Rolle spielen.
Soziale Landkarten im Gehirn: Orientierung in Beziehungen
Neuronale Schaltkreise, die zur Orientierung in Raum und Zeit dienen, helfen auch, um uns im Dickicht menschlicher Beziehungen zurechtzufinden. Das Gehirn navigiert uns durch die physische Welt, indem es sich an geografischen Punkten orientiert. Doch es verortet auch soziale Beziehungen räumlich - auf mentalen Landkarten.
Mit jeder neuen räumlichen Erfahrung setzt ein gesundes Gehirn eine Art Landmarke darauf. Über neuronale Verbindungen zwischen dem Hippocampus und den benachbarten Hirnregionen entsteht ein hirneigenes Navigationssystem.
Nachum Ulanovsky forscht seit mehreren Jahren zum räumlichen Orientierungsvermögen bei Fledermäusen. In Laborversuchen haben Ulanovsky und sein Team neben den sogenannten "place cells", also Ortszellen im Hippocampus auch "social place cells", Soziale Ortszellen gefunden. Es zeigt: Geografische und soziale Informationen überschneiden sich im Hippocampus.
Ähnlich wie uns das Gehirn durch die physische Welt navigiert, kann der Hippocampus unsere sozialen Beziehungen verarbeiten und diese auf einer mentalen Landkarte verorten.
Die Neurowissenschaftlerin Daniela Schiller entwickelte dafür ein interaktives Computer-Rollenspiel, in dem die Teilnehmenden anhand ihrer Reaktionen und Antworten in ihrem eigenen sozialen Koordinatensystem bewegt und ihre Mitmenschen darin verortet werden - entlang der Achse Macht und der Achse Nähe.
Die Forschung von Daniela Schiller und Nachum Ulanovsky zeigen: Räumliche Darstellungen und unser Verständnis unserer Umgebung scheinen eine wichtige Grundlage für weitere Denkprozesse zu sein.
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