Gehirn unter Strom: Wirkung und Anwendung der Hirnstimulation

Beeinträchtigungen von Hirnfunktionen sind die Ursache vieler neuropsychiatrischer Erkrankungen wie Demenz oder Schlaganfall. Die elektrische Hirnstimulation ist eine neue Methode zur Behandlung dieser Erkrankungen. Ziel ist es, Bereiche des Gehirns zu reaktivieren, die geschädigt wurden oder durch eine Krankheit nicht mehr optimal zusammenarbeiten.

Die Grundlagen der elektrischen Hirnstimulation

Die elektrische Hirnstimulation umfasst verschiedene Techniken, bei denen elektrische Ströme eingesetzt werden, um die Aktivität des Gehirns zu beeinflussen. Diese Methoden reichen von nicht-invasiven Ansätzen wie der transkraniellen Gleichstromstimulation (tDCS) bis hin zu invasiven Verfahren wie der tiefen Hirnstimulation (DBS).

Transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS)

Die tDCS ist eine nicht-invasive Methode, bei der Elektroden auf die Kopfhaut aufgesetzt werden, um das Gehirn mit schwachem Gleichstrom zu stimulieren. Dieser Strom fließt durch die Schädeldecke und beeinflusst die Erregbarkeit von Neuronen. Die tDCS erfordert keinen operativen Eingriff und ist schmerzfrei.

Eine neue Forschungsgruppe an der Universitätsmedizin Greifswald und der Universität Greifswald wird in den nächsten vier Jahren mit mehr als fünf Millionen Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert, um die Wirkungsweise der tDCS genauer zu untersuchen. Im Fokus steht die systematische Weiterentwicklung der Elektrostimulation, zunächst bei gesunden Personen. Ziel ist es, Gehirnnetzwerke von Patientinnen mit Funktionsstörungen nach Schlaganfall, Demenz, Depression oder Schizophrenie gezielt und optimiert an die Bedürfnisse einzelner Patientinnen positiv zu beeinflussen. Die Forschungsgruppe „Modulation neuronaler Netzwerke für Lernen und Gedächtnis durch transkranielle Gleichstrom­sti­mu­lation: Systematische Unter­suchung über die menschliche Lebensspanne - MemoSlap“ startet im Januar 2023.

Tiefe Hirnstimulation (DBS)

Die tiefe Hirnstimulation (DBS) ist ein invasives Verfahren, bei dem Elektroden in bestimmte Bereiche des Gehirns implantiert werden. Diese Elektroden senden elektrische Impulse aus, die die Aktivität der Zielgebiete modulieren. Die DBS hat sich als wirksame Behandlungsmethode bei Parkinsonpatienten etabliert.

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Bei der DBS werden zwei 5 Cent große Löcher in den Schädel gebohrt, um die Elektroden präzise im Gehirn zu platzieren. Unter der Haut verläuft der Strang der Elektrode bis zu einem Schrittmacher, der ähnlich wie eine Fernbedienung für einen Fernseher gesteuert werden kann. Mit Stromstößen können Teile des Gehirns reguliert, an- oder abgestellt werden.

Anwendungsbereiche der Hirnstimulation

Die Hirnstimulation wird in verschiedenen Bereichen der Medizin und Forschung eingesetzt.

Behandlung neuropsychiatrischer Erkrankungen

Die Hirnstimulation bietet vielversprechende Therapieansätze für neuropsychiatrische Erkrankungen wie Depressionen, Zwangsstörungen, Demenz und Schlaganfall.

Depressionen

Bei Depressionen ist die Aktivität verschiedener Hirnareale verändert. Die tiefe Hirnstimulation kann in diesem Fall helfen. Die Bonner Neurochirurgen implantierten die Elektroden im sogenannten Nucleus Accumbens. Dieser Hirnteil liegt tief innen im vorderen Teil des Gehirns und gilt als eine Art Belohnungssystem. Die Fähigkeit, Freude zu empfinden wird ganz zentral diesem Hirngebiet zugeschrieben. Eine Pilotstudie zeigte, dass sieben von acht Patienten erstaunlich stark und schnell auf die Behandlung ansprachen. Weltweit sind in den letzten 10 Jahren etwa 200 Patienten mit einer schweren Depression mit tiefen Hirnelektroden behandelt worden.

Zwangsstörungen

Die tiefe Hirnstimulation kann auch bei schweren Fällen von Zwangsstörungen eingesetzt werden, wenn keine andere Therapie anschlägt. Es scheint auch eine Struktur zu sein, die so eine gewisse Funktion hat in der Sortierung von Informationen, die für Bewegungsinitiierung für Verhalten, für Verhaltensfunktionen - all das ist ja bei Patienten mit einer Zwangsstörung nicht so, wie wir es erwarten. In jeder Hirnhälfte sitzen mehrere Elektroden im Nucleus accumbens, für jede Elektrode kann der Strom und die Frequenz der Impulse variiert werden. Herauszufinden welche Einstellung für welchen Patienten am besten ist, dauert oft Monate. Etwa Dreiviertel der so behandelten Patienten erfährt eine Besserung der Symptome um 25 bis 35 Prozent. Das bedeutet, dass sie mehrere Stunden am Tag frei von ihren Zwängen sind und dadurch in der Lage sind, Alltagstätigkeiten auszuführen oder Therapeuten aufzusuchen.

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Demenz

Bei Alzheimerpatienten bilden sich Eiweißablagerungen im Gehirn, die nach und nach zum Absterben von Nervenzellen führen. Die tiefe Hirnstimulation könnte möglicherweise Nervenzellen anregen, die Nervenwachstumsfaktoren bilden, die ein Gegengewicht zu dem Abbauprozess bei degenerativen Erkrankungen wie der Demenz darstellen könnten. Jens Kuhn entschied sich, in den sogenannten Nucleus Basalis Meynert einzugreifen. Das ist ein Bündel von Nervenzellen, deren Fortsätze Signale in die Großhirnrinde senden und die den Botenstoff Acetylcholin produzieren. Eine Pilotstudie zeigte, dass vier von sechs Patienten über das erste Behandlungsjahr relativ stabil waren, was einen Hoffnungsschimmer darstellt, zwei Patienten haben sich allerdings auch verschlechtert.

Schlaganfall

Die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) soll in der Zukunft helfen, Bereiche des Gehirns zu reaktivieren, die geschädigt wurden.

Schmerztherapie

Die Hirnstimulation kann auch zur Behandlung chronischer Schmerzen eingesetzt werden. Bei der Rückenmarksstimulation werden Elektroden millimetergenau an dem Ort der maximalen Wirksamkeit im Rückenmarkskanal eingebracht und mit einem Schrittmachersystem verbunden. Über diese Kontakte können Stromimpulse von 10.000 Hertz, die sog. Hochfrequenz- oder „HF-10“-Therapie, abgesetzt werden. Die chronische Hochfrequenz-Stimulation mit 10.000Hz (HF-10) unterbricht die Schmerzweiterleitung vom Ort der Entstehung (z.B. Rücken) zum Gehirn und unterdrückt damit die Schmerzwahrnehmung für den Patienten. Besonders geeignet ist die HF-10 für den chronischen neuropathischen Schmerz, er durch eine Erkrankung oder Schädigung des Nervensystems ausgelöst wird.

Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten

Einige Studien deuten darauf hin, dass die Hirnstimulation die kognitiven Fähigkeiten verbessern kann, wie z.B. Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Sprachfähigkeit.

Gedächtnis

Die elektrischen Impulse förderten offensichtlich die Gedächtnisleistung des Patienten. Und die Intelligenz. In den Wochen nach der OP durchläuft er immer neue Tests. Sein IQ verbessert sich durch die Stimulation um 9 Punkte von 125 auf 134. Noch nie zuvor war es gelungen, durch eine Behandlung die geistige Leistungsfähigkeit eines Menschen innerhalb kürzester Zeit so dramatisch zu steigern.

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Sprachfähigkeit

Wenn Iyer aber vor dem Sprachtest Strom durch das Gehirn der Probanden fließen ließ, fielen den Teilnehmern plötzlich im Schnitt 20 Prozent mehr Wörter ein. Möglicherweise verändere der Strom ja die Eigenschaften der Nervenzellen im so genannten präfrontalen Cortex. Diese Gehirnregion an der Stirnseite verarbeitet sensorische Signale und liefert dem Mensch eine Übersicht über sein momentanes Umfeld. Die Hirnforscherin Iyer glaubt, dass die unter Strom gesetzten Nervenzellen nach der Behandlung leichter Impulse abgeben können.

Elektrokrampftherapie (EKT)

Die Elektrokrampftherapie, EKT, (auch: Elektrokonvulsionstherapie) ist ein modernes und hochwirksames medizinisches Verfahren zur Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen. Dazu gehören beispielsweise schwere Depressionen, die auf andere Therapien nicht gut ansprechen, sowie Psychosen. Die Elektrokrampftherapie beruht auf einer elektrischer Hirnstimulation, die unter Narkose erfolgt. Dabei wird für Sekunden Strom ins Gehirn geleitet, der einen Krampfanfall auslöst. Das kann man sich ähnlich wie bei einem epileptischen Anfall vorstellen, nur dass der Anfall hier gezielt und unter kontrollierten Bedingungen erfolgt.

Wie wirkt eine Elektrokrampftherapie?

Über welche Mechanismen genau ein solcher „Heilkrampf“ eine positive Wirkung entfaltet, ist noch nicht vollständig geklärt. Man hat jedoch beobachtet, dass die Anfälle zahlreiche neurochemische Veränderungen im Gehirn anstoßen. Entscheidend scheint hierfür zu sein, dass ein Teil der Nervenzellen während der Behandlung im gleichen Takt aktiviert wird. Beispielsweise verändert sich die Konzentration verschiedener Hormone und Botenstoffe im Gehirn ebenso die Zahl der Andockstellen (Rezeptoren) für diese Neurotransmitter. Die Masse der sogenannten grauen Substanz, die sich aus den Zellkörpern der Nervenzellen zusammensetzt, nimmt zu. Vor allem vernetzen sich die Neuronen verstärkt untereinander.

Wann wird eine Elektrokrampftherapie angewendet?

Psychiater greifen auf eine EKT bei sehr schweren oder gravierenden, schwer zu behandelnden psychischen Erkrankungen zurück. Eine Indikation für eine Elektrokrampftherapie besteht beispielsweise , wennder psychische Zustand eines Patienten so gravierend ist, dass eine schnelle Entlastung notwendig istder Patient schlecht auf eine vorangegangene Behandlung mit Psychopharmaka angesprochen hat (Therapieresistenz)der Patient Psychopharmaka schlecht verträgtdie Risiken der EKT geringer sind als andere Behandlungsmöglichkeiten

Bei einigen schweren psychischen Erkrankungen ist eine EKT die Therapie erster Wahl. Das bedeutet, man greift direkt auf sie zurück, ohne zuvor andere Heilverfahren zu versuchen. Dazu gehörenDepressionen mit WahnvorstellungenDepressive Erstarrung (Stupor)Psychosen mit Stimmungsschwankungen (schizoaffektive Psychose), darunter schwere depressive Symptomeschwere Depression (Major Depression) mit hoher Suizidalität oder Nahrungsverweigerungakute, lebensbedrohliche (perniziöse) Katatonie

Als Therapie zweiter Wahl - also, wenn vorangegangene Behandlungen nicht ausreichend geholfen haben - setzen Psychiater die EKT in folgenden Situationen ein:schwere Depressionen (Major Depression), bei denen die Betroffenen auf mindestens zwei Antidepressiva möglichst unterschiedlicher Wirkstoffklassen in Kombination mit Schlafentzug nicht ausreichend angesprochen habennicht lebensbedrohliche Katatonien und akute Psychosen nach erfolgloser Behandlung mit NeuroleptikaManien nach erfolgloser Behandlung mit Neuroleptika, Lithium oder Carbamazepin

Die Wirksamkeit der EKT nimmt mit der Dauer der Erkrankung ab.

Risiken und Nebenwirkungen

Wie bei jedem medizinischen Verfahren birgt auch die Hirnstimulation Risiken und Nebenwirkungen. Bei der DBS können Komplikationen wie Blutungen im Gehirn auftreten, die zu schweren Hirnschäden führen können. Die EKT kann zu Gedächtnisproblemen führen. Es ist wichtig, dass Patienten vor der Behandlung über mögliche Risiken aufgeklärt werden.

Personalisierte Hirnstimulation

Die Forschung hat gezeigt, dass die Reaktion auf die Hirnstimulation individuell unterschiedlich sein kann. Daher ist es wichtig, die Behandlung an die Bedürfnisse jedes einzelnen Patienten anzupassen. Faktoren wie die Stimulationsfrequenz und die Zielgebiete im Gehirn müssen individuell angepasst werden, um die bestmöglichen Ergebnisse zu erzielen.

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