Das menschliche Gehirn ist ein komplexes Organ, das für unser Bewusstsein und unsere kognitiven Fähigkeiten von entscheidender Bedeutung ist. Es lässt sich grob in Stammhirn, Kleinhirn und Großhirn unterteilen, wobei die feinere Analyse dieser Strukturen zwei farblich unterscheidbare Substanzen offenbart: die graue Substanz (Substantia grisea) und die weiße Substanz (Substantia alba). Die graue Substanz, um die es in diesem Artikel hauptsächlich gehen soll, spielt eine zentrale Rolle in der Informationsverarbeitung und Steuerung verschiedener Körperfunktionen.
Was ist die graue Substanz?
Die graue Substanz ist ein wesentlicher Bestandteil des zentralen Nervensystems (ZNS), das aus dem Gehirn und dem Rückenmark besteht. Sie findet sich sowohl im Gehirn als auch im Rückenmark. Im Sagittalschnitt des Gehirns ist die graue Substanz im äußeren Bereich des Gehirns zu finden, wohingegen die weiße Substanz den Innenraum erfüllt. Der Begriff "graue Substanz" leitet sich von der gräulichen Farbe ab, die diese Hirnregion bei der Präparation mit Formalin annimmt. Beim lebenden Menschen erscheint die Hirnrinde aufgrund der blutgefüllten Gefäße eher rosafarben.
Bestandteile der grauen Substanz
Die graue Substanz besteht hauptsächlich aus:
- Nervenzellkörpern (Perikarya): Diese enthalten den Zellkern und sind für die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen verantwortlich.
- Neuropilem: Ein Nervenfilz, der zwischen Nerven- und Gliazellen liegt und die Vernetzung der Zellen ermöglicht.
- Gliazellen: Diese Zellen übernehmen unterstützende Funktionen für die Nervenzellen, sind aber nicht direkt an der Erregungsleitung beteiligt.
- Kapillaren: Kleine Blutgefäße, die die Versorgung der Zellen mit Sauerstoff und Nährstoffen gewährleisten.
Wo befindet sich die graue Substanz im Gehirn?
Die graue Substanz befindet sich hauptsächlich an der Oberfläche des Gehirns und bildet die Hirnrinde (Cortex) des Groß- und Kleinhirns. Es gibt aber auch zentral im Gehirn gelegene Areale grauer Substanz. Diese abgegrenzten sogenannten Kerngebiete sind eigenständig funktionale Regionen wie die Hirnnervenkerne und die Kleinhirnkerne. Weitere Regionen, die aus der sogenannten grauen Substanz gebildet bzw. von ihr umgeben sind, stellen die Basalganglien, Necleus ruber, Formatio reticularis und die sogenannte Substantia nigra dar.
Funktionen der grauen Substanz
Die graue Substanz steuert eine Vielzahl von Funktionen im Gehirn und im zentralen Nervensystem. Diese Funktionen sind je nach Hirnregion unterschiedlich:
Lesen Sie auch: Graue Substanz: Aufbau und Aufgaben
- Hirnrinde (Cortex): Steuert alle Funktionen des Gehirns und des zentralen Nervensystems. Der Frontallappen steuert motorische Vorgänge sowie Antrieb, Motivation und psychische Leistungen. Der Parietallappen verarbeitet Berührungsreize, der Okzipitallappen ist für das Sehen zuständig, und der Temporallappen verarbeitet akustische Informationen.
- Kleinhirn (Cerebellum): Regelt die körperliche Koordination und das Gleichgewicht.
- Zwischenhirn: Die Kernregionen aus grauer Substanz stellen Verbindungen zum Großhirn her.
- Rückenmark: Im Inneren des Rückenmarks bildet die graue Substanz eine schmetterlings- oder h-förmige Struktur. Die Vordersäule steuert die Motorik, während die Hintersäule für die Sensibilität zuständig ist.
Die Rolle der grauen Substanz bei der Intelligenz
Einer Studie zufolge bestimmt die Menge der grauen Substanz die Intelligenz eines Menschen zum Teil. Deshalb kommen im Sprachgebrauch bei Unterhaltungen über Intelligenz oftmals auch die Wörter „graue Zellen“ auf.
Unterschiede zwischen grauer und weißer Substanz
Die graue und weiße Substanz unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung und Funktion:
- Graue Substanz: Besteht hauptsächlich aus Zellkörpern und wenigen myelinisierten Axonen. Sie ist für die Verarbeitung von Informationen zuständig.
- Weiße Substanz: Besteht hauptsächlich aus myelinisierten Axonen und wenigen Zellkörpern. Sie dient der Weiterleitung von Nervenimpulsen zwischen verschiedenen Hirnregionen.
Myelinisierte Axone haben im Gegensatz zu nicht myelinisierten Axonen eine Markscheide. Die Markscheide hat eine mehrschichtige Struktur und umschließt damit die im Zentrum sitzende Nervenfaser des Axons.
Veränderungen der grauen Substanz im Laufe des Lebens
Das Volumen der grauen Substanz in der Hirnrinde nimmt von der Kindheit bis zur Pubertät zunächst zu. Anschließend nimmt sie wieder ab, wird gleichzeitig aber effizienter miteinander vernetzt.
Einfluss von Alter und Erkrankungen
Die Abnahme der grauen Substanz der Hirnrinde kann altersbedingt sein, aber auch eine Folge degenerativer Erkrankungen im Gehirn. Zu den typischen Symptomen dabei gehören eine Minderung der Gedächtnisleistungen, des Denkens, der Konzentration und der Orientierung.
Lesen Sie auch: Funktion der grauen Substanz
Schwangerschaft und graue Substanz
Eine Schwangerschaft ist eine Zeit schneller und drastischer Veränderungen, die nahezu jeden Teil des Körpers erfassen. Vergangene Studien mit menschlichen Probandinnen vermaßen das Gehirn häufig nur vor und nach, nicht aber während der Schwangerschaft, um unnötige Untersuchungen zu vermeiden. Diese Arbeiten zeigten erstmals, dass Frauen nach der Geburt weniger Graue Substanz in der Großhirnrinde besaßen als zuvor. In dieser dünnen, aufgefalteten Schicht unseres Gehirns, auch Kortex genannt, sind höhere Denkleistungen angesiedelt. Eine große Studie aus dem Jahr 2023 fand heraus, dass die Spuren der Schwangerschaft im Gehirn noch zwei Jahre nach der Entbindung deutlich zu erkennen waren. Besonders vom Schwangerschaftsschwund betroffen zu sein schien ein Netzwerk, das für Selbstreflexion, soziale Kognition und Empathie zuständig ist. Wichtig zu wissen ist: Ein schrumpfendes Gehirn oder eine dünnere Großhirnrinde bedeuten mitnichten, dass die geistigen Fähigkeiten nachlassen. Weniger Graue Substanz macht nicht dümmer. Im Gegenteil: Die gezielte Ausdünnung kann die Effizienz unseres Gehirns steigern und den Fokus auf Funktionen legen, die für den kommenden Lebensabschnitt besonders wichtig sind. Etwa die Signale des Babys stets im Blick zu haben, richtig zu deuten und umgehend darauf zu reagieren.
Schädigungen der grauen Substanz
Schädigungen im Bereich der grauen Substanz im Gehirn führen oft zu Ausfallerscheinungen. Diese unterscheiden sich nach dem jeweiligen Ort der Schädigung im Gehirn. Es kann zu Wegfall der Sinnesfunktionen, trotz intakter Sinnesorgane, führen.
Neue Erkenntnisse durch Bildgebungsverfahren
Moderne Bildgebungsverfahren ermöglichen es Forschern, die graue Substanz genauer zu untersuchen und neue Erkenntnisse über ihre Funktion und Bedeutung zu gewinnen.
Die oberflächliche weiße Substanz
Die oberflächliche weiße Substanz (OWS), eine dünne Schicht unterhalb des Kortex, enthält die kurzen U-Fasern, die eine tragende Rolle bei der Vernetzung des Gehirns spielen. Neuartige Bildgebung machte diese dünne Schicht sichtbar und zeigte, dass sie unerwartet hohe Mengen an Eisen enthält, das vermutlich für die Myelinbildung an den kurzen Fasern notwendig ist.
Psychotherapie und die graue Substanz
Psychotherapie wirkt nicht nur auf die Seele - sie hinterlässt auch sichtbare Spuren im Gehirn. Forschende konnten nachweisen, dass eine kognitive Verhaltenstherapie tatsächlich Veränderungen in der Hirnstruktur bewirkt: Unter ihrem Einfluss bildet sich in zwei entscheidende Hirnregionen mehr Nervensubstanz.
Lesen Sie auch: Gehirnstruktur: Weiß vs. Grau