Das menschliche Gehirn ist ein komplexes Organ, das aus verschiedenen Gewebetypen besteht, die jeweils spezifische Funktionen erfüllen. Neurowissenschaftler betrachten das Gehirn als ein Gebilde, das aus zwei grundlegenden Gewebetypen zusammengesetzt ist: der grauen und der weißen Substanz. Diese beiden Substanzen unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung, Struktur und Funktion und spielen eine entscheidende Rolle für die Informationsverarbeitung und -übertragung im Gehirn.
Zusammensetzung und Struktur
Graue Substanz
Die graue Substanz, auch Substantia grisea genannt, ist ein wichtiger Bestandteil des Zentralnervensystems und sowohl im Gehirn als auch im Rückenmark zu finden. Sie bildet eine dünne Schicht an der Hirnoberfläche, den Kortex, der aus Milliarden von Neuronen besteht. Im Sagitalschnitt des Gehirns ist die graue Substanz im äußeren Bereich des Gehirns zu finden, wohingegen die weiße Substanz den Innenraum erfüllt. Die graue Substanz besteht hauptsächlich aus:
- Nervenzellkörpern (Perikaryen): Diese Zellkörper sind für die Biosyntheseleistungen der Neuronen verantwortlich.
- Neuropilem: Der Nervenfilz zwischen Nerven- und Gliazellen, der die Verknüpfung aller Zellen miteinander ermöglicht.
- Gliazellen: Diese Zellen erfüllen Hilfs- und Unterstützungsfunktionen der Nerven, sind aber nicht an der Erregungsleitung beteiligt.
- Kapillaren: Kleine Blutgefäße, die Organe mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgen.
Die graue Substanz erscheint aufgrund der hohen Dichte an Nervenzellkörpern grau bis rötlich. Im Inneren ist sie jedoch eher rosa.
Weiße Substanz
Die weiße Substanz (Substantia alba) umfasst alle Bereiche des zentralen Nervensystems, die überwiegend aus myelinisierten Axonen bestehen und nur in geringer Anzahl unmyelinisiert vorliegen. Sie liegt im Inneren des Gehirns und umgibt im Rückenmark die zentrale graue Substanz. Die weiße Substanz besteht hauptsächlich aus:
- Myelinisierten Axonen: Nervenfasern, die von einer Myelinscheide umgeben sind, die aus Lipiden und Proteinen besteht und eine elektrische Isolation bewirkt.
- Gliazellen: Oligodendrozyten, die für die Bildung der Myelinscheide verantwortlich sind, sowie Astrozyten und Mikroglia.
Das Myelin verleiht der weißen Substanz ihre helle Farbe, die im Vergleich zur grauen Substanz auffällt.
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Funktionen
Graue Substanz
Die graue Substanz ist hauptsächlich für die Verarbeitung und Integration von Informationen zuständig. Sie enthält die Nervenzellkörper, Dendriten und Synapsen, die für die Signalübertragung und -verarbeitung verantwortlich sind. Zu den Funktionen der grauen Substanz gehören:
- Sensorische Wahrnehmung: Verarbeitung von Informationen aus den Sinnesorganen. Parietal-, Temporal- und Occipitallappen dienen hauptsächlich der Verarbeitung von Signalen der Sinnesorgane. Die Sensibilität sowie alle Berührungsreize werden jedoch vom Parietallappen gesteuert. Die optischen Reize werden im Occipitallappen interpretiert. Der Temporallappen verarbeitet alle eingehenden akustischen Informationen.
- Motorische Steuerung: Steuerung von willkürlichen Bewegungen. Der Frontallappen übernimmt die Aufgaben der Steuerung motorischer Vorgänge.
- Kognitive Funktionen: Denken, Lernen, Gedächtnis und Sprache. Zudem ist er aber auch an der Steuerung von Antrieb, Motivation und weiterer psychischer Leistungen beteiligt.
- Emotionale Verarbeitung: Verarbeitung von Emotionen und sozialem Verhalten.
Weiße Substanz
Die Hauptfunktion der weißen Substanz liegt in der schnellen und effizienten Weiterleitung von Nervenimpulsen. Die myelinisierten Axone ermöglichen eine schnelle Signalübertragung zwischen verschiedenen Nervenzentren. Die weiße Substanz verbindet verschiedene Regionen des Gehirns miteinander und ermöglicht so die Kommunikation und Koordination zwischen ihnen. Die weiße Substanz setzt sich aus Millionen von myelinisierten Nervenfasern zusammen, die je nach ihrer Funktion und Verbindungsmuster in drei Hauptbahnen unterteilt werden:
- Assoziationsfasern: Verbinden verschiedene kortikale Regionen innerhalb einer Gehirnhälfte miteinander.
- Kommissurenfasern: Verbinden die beiden Gehirnhälften miteinander und sorgen für die Kommunikation zwischen entsprechenden Arealen der linken und rechten Hemisphäre. Die größte und bekannteste dieser Faserbahnen ist das Corpus callosum, eine dichte Struktur aus Nervenfasern, auch Balken genannt, verbindet diese Hemisphären miteinander.
- Projektionsfasern: Stellen die Verbindung zwischen dem Gehirn und anderen Bereichen des Nervensystems her, wie z.B. dem Rückenmark.
Oberflächliche weiße Substanz
Eine besondere Rolle in diesem komplexen Netzwerk kommt der sogenannten oberflächlichen weißen Substanz zu, einer weniger als einen Millimeter dicken Grenzschicht zwischen weißer und grauer Substanz. Diese Schicht enthält die U-Fasern, kürzeste Nervenfasern, die über 90 Prozent aller Verbindungen in der weißen Substanz bilden. Die oberflächliche weiße Substanz unterscheidet sich in ihrer Entwicklung und Physiologie sowohl von der grauen als auch von der weißen Substanz. So werden die U-Fasern erst in einem späten Entwicklungsstadium mit isolierendem Myelin umhüllt. In manchen Gehirnregionen geschieht dies sogar bis in das Erwachsenenalter hinein, das weist auf eine besondere Rolle der U-Fasern für die Gehirnplastizität hin. Neuartige Bildgebung machte diese dünne Schicht sichtbar und zeigte, dass sie unerwartet hohe Mengen an Eisen enthält, das vermutlich für die Myelinbildung an den kurzen Fasern notwendig ist. Tatsächlich fand sich die größte Eisenkonzentration in der oberflächlichen weißen Substanz in Regionen des frontalen Kortex, der sich im gesamten Prozess der Hirnreifung am langsamsten entwickelt. Frühere Untersuchungen deuten darauf hin, dass Erkrankungen wie Alzheimer und Autismus mit der sogenannten oberflächlichen weißen Substanz verknüpft sind.
Klinische Bedeutung
Veränderungen oder Schädigungen der weißen Substanz können gravierende neurologische Erkrankungen zur Folge haben:
- Multiple Sklerose (MS): Bei dieser Autoimmunerkrankung greift das Immunsystem die Myelinscheiden der weißen Substanz an, was zu Entzündungen, Vernarbungen (Plaques) und Funktionsausfällen führt.
- Leukoenzephalopathien: Diese Gruppe seltener Erkrankungen betrifft die weiße Substanz und kann genetisch bedingt oder erworben sein.
- Altersbedingte Degeneration: Mit zunehmendem Alter nimmt das Volumen in bestimmten Regionen der weißen Substanz ab, was unter anderem mit einer Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit in Verbindung gebracht wird.
Bildgebung
Mit einem 7-Tesla-MRT-Scanner konnten Wissenschaftler hochauflösende Karten der Grenze zwischen weißer und grauer Substanz über das gesamte lebende Gehirn hinweg erstellen. Die Genauigkeit dieser Submillimeterkarten wurde im Vergleich zu traditionellen und fortgeschrittenen histologischen Methoden beurteilt, die eine physische Untersuchung und Analyse von postmortalen Gehirnen beinhalten.
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Plastizität der weißen Substanz
Während lange Zeit angenommen wurde, dass hauptsächlich die graue Substanz für neuronale Anpassungen verantwortlich ist, zeigen neuere Studien, dass sich auch die weiße Substanz strukturell verändern kann. Myelinisierung, also die Bildung neuer Myelinscheiden um Nervenfasern, kann sich durch Lernen und Training verbessern. Beispielsweise konnten Forscher nachweisen, dass intensives Klavierspielen oder das Erlernen einer neuen Sprache die Dichte und Organisation der weißen Substanz positiv beeinflusst.
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