Heinrich Heines Krankheit: Ein medizinisches Rätsel zwischen Multipler Sklerose, Syphilis und Myasthenie

Das Krankheitsbild von Heinrich Heine, einem der bedeutendsten deutschen Dichter und Journalisten des 19. Jahrhunderts, gibt seit seinem Tod im Jahr 1856 Anlass zu vielfältigen medizinischen Spekulationen. Die Bandbreite der Diagnosen reicht von Multipler Sklerose über Syphilis bis hin zu Bleivergiftung - ein wahres medizinisches Rätsel, das bis heute nicht vollständig gelöst ist.

Vielfältige Diagnosen und Interpretationen

Die Ursache für Heines Leiden ist seit über 160 Jahren Gegenstand medizinischer Diskussionen. Zu den in Betracht gezogenen Erkrankungen gehören:

  • Erbliche Erkrankung des zentralen Nervensystems: Eine generelle Diagnose, die jedoch wenig spezifisch ist.
  • Multiple Sklerose (MS): Eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die zu vielfältigen neurologischen Ausfällen führen kann.
  • Tuberkulose mit Rückenmarks- und Hirnhautentzündung: Eine bakterielle Infektion, die das Nervensystem befallen kann.
  • Neurosyphilis: Eine Spätfolge einer unbehandelten Syphilis-Infektion, die das Gehirn und Rückenmark schädigen kann.
  • Bleivergiftung: Eine Vergiftung durch Blei, die neurologische Symptome verursachen kann.

Die Unsicherheiten in Bezug auf Leiden und Krankheit von Heinrich Heine sind vor allem auf fehlende pathologische Befunde zurückzuführen. Für Heine kamen sowohl Autopsie als auch Abnahme einer Totenmaske nach seinem Ableben nicht in Frage. Letztere wurde dennoch gegen seinen Willen angefertigt und ist heute nebst Abgüssen im Heine-Institut archiviert. Heines Krankheitsverlauf ermöglicht überdies mehrdeutige Interpretationen, besonders im Bezug auf seine Augensymptomatik.

Symptome und Krankheitsverlauf

Heines Gesundheitszustand war bereits während seines Studiums beeinträchtigt. Er litt unter anhaltenden Kopfschmerzattacken und wurde als neurasthenisch, sensibel, reizbar und geräuschempfindlich beschrieben. Diese Verfassung führte häufig zu depressiv-hypochondrischen Stimmungen und einem Gefühl der Vereinsamung.

Im Laufe seines Lebens traten folgende Symptome auf:

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  • Anhaltende Kopfschmerzattacken: Bereits in der Studienzeit.
  • Geschlechtskrankheit: Heine infizierte sich in Göttingen nachweislich mit einer Geschlechtskrankheit.
  • Vorübergehende Lähmungserscheinung der linken Hand (1832).
  • Oculomotorius-Lähmung rechts (1833): Eine Lähmung des Augenmuskelnervs, die zu Doppelbildern führen kann.
  • Beidseitige Lidmuskelschwäche (Ptosis) (1837): Heine war nicht in der Lage, die Augenlider offen zu halten.
  • Lähmung des linken Oberarms (1837).
  • Leichte Faszialisparese (ab 1839): Eine Gesichtslähmung, die die Gesichtsmuskulatur versteifen ließ.
  • Lähmungen in Beinen und Unterleib (ab 1847).
  • Bettlägerigkeit (ab 1848): Die letzten acht Lebensjahre verbrachte Heine in der "Matratzengruft".
  • Weitere Symptome: Krämpfe, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen, Leibschmerzen (Koliken), Kau- und Schluckbeschwerden.

Ab 1847 kamen Lähmungen in Beinen und Unterleib hinzu. Die Ptosis zeigte sich erneut beidseitig, wobei sie links stärker war als rechts. Ende Mai 1848 begann schließlich Heines Bettlägerigkeit in der von ihm so bezeichneten Matratzengruft, die bis zu seinem Tod am 17. Februar 1856 anhielt. Darüber hinaus litt er in diesen 8 Jahren unter schweren Krämpfen und Husten, Kopf- und Gliederschmerzen, Leibschmerzen (Koliken), Kau- und Schluckbeschwerden. Sein Körper zehrte immer mehr aus und krümmte sich. Die verordneten Morphine verabreichte er sich zunehmend selbst und es kam zum Opium-Abusus.

Die These der Neurosyphilis

Der Berliner Neurologe Roland Schiffter vertritt die Auffassung, dass Heine an Neurosyphilis litt. Er deutet ein Bild aus dem Jahr 1832, das Heine mit erweiterter Pupille im linken Auge zeigt, als erstes Symptom der Krankheit. Schiffter argumentiert, dass die vielfältigen neurologischen Symptome, die Heine im Laufe der Jahre entwickelte, typisch für eine Spätfolge der Syphilis seien. Dazu gehören Taubheitsgefühle, Lähmungen, Augenmuskelstörungen und Atembeschwerden.

Schiffter betont, dass der Dichter selbst lebenslang davon überzeugt war, an Syphilis erkrankt zu sein. Er verweist auf Heines Briefe und Gedichte, in denen er Andeutungen auf eine Geschlechtskrankheit macht. Schiffter schließt andere Diagnosen wie Multiple Sklerose oder Bleivergiftung aus, da diese nicht mit dem Krankheitsverlauf und den spezifischen Symptomen Heines übereinstimmen würden.

Myasthenie als mögliche Erklärung

Im Heine-Jahrbuch 2019 haben sich die Augenärzte Professor Guido Kluxen und Ronald D. Geste mit einer weiteren Diagnose beschäftigt, die bisher viel zu wenig Beachtung gefunden hat: Myasthenia gravis. Sie berufen sich auf eine Veröffentlichung des französischen Augenarztes Pierre Amalric (1923-1999) aus dem Heine-Jahr 1997. Dieser wertete die Beschreibung der Symptomatik von Heinrich Heines Augenarzt Julius Sichel aus und publizierte seine Erkenntnisse in französischer Sprache (posthum 2015 auch in englisch).

Kluxen und Geste ziehen anhand des reversiblen Krankheitverlaufs und der vorhanden Symptome den Schluss, dass eine Myasthenia gravis (pseudoparalytica) vorlag. Ihrer Ansicht nach wurde das Auftreten, Verschwinden und Wiederauftreten neuro-motorischer Ausfälle über einen Zeitraum von 24 Jahren noch zu wenig beachtet. Das Hauptsymptom sei die doppelseitige Ptosis mit Oculomotorius-Parese. Gleichwohl halten sich die Autoren die Möglichkeit einer anderweitigen neuroophthalmologische Erkrankung offen. Myasthenie ist nur ein Oberbegriff, dem verschiedene Krankheitsbilder zugeordnet werden.

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Multiple Sklerose: Eine weitere Hypothese

Die Möglichkeit, dass Heinrich Heine an Multipler Sklerose (MS) litt, wurde ebenfalls in Betracht gezogen. MS ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die zu vielfältigen neurologischen Symptomen führen kann. Die Symptome können schubweise auftreten und sich im Laufe der Zeit verschlimmern.

Einige der Symptome, die Heine entwickelte, wie z.B. Lähmungen, Sehstörungen und Koordinationsprobleme, können auch bei MS auftreten. Allerdings gibt es auch Unterschiede im Krankheitsverlauf, die gegen eine MS-Diagnose sprechen. So sind beispielsweise Hirnnervenlähmungen und schmerzhafte Verkrampfungen bei MS-Patienten eher ungewöhnlich.

Moderne Forschung zur Multiplen Sklerose

Die Forschung zur Multiplen Sklerose hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Wissenschaftler haben neue Erkenntnisse über die Ursachen und Mechanismen der Erkrankung gewonnen. So wurde beispielsweise ein direkter funktionaler Zusammenhang zwischen der Ausschüttung eines endogenen Retrovirus (HERV-W) und der Verschlechterung von neurodegenerativen Prozessen beschrieben.

Es gibt eine Reihe von Therapien für MS, die sich gegen das Auftreten der aggressiven Immunzellen richten. Allerdings kann das Fortschreiten der Krankheit, das zu irreversiblen Defiziten führt, bislang nicht behandelt werden. Die Forschung konzentriert sich daher auf die Entwicklung neuer Therapien, die das Fortschreiten der MS verlangsamen oder sogar aufhalten können.

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