Die steigende Zahl von Menschen mit Demenz erfordert innovative Wohn- und Betreuungsformen. In Potsdam haben sich verschiedene Demenz-Wohngemeinschaften (WGs) etabliert, die eine Alternative zu traditionellen Pflegeheimen bieten. Diese WGs legen Wert auf Individualität, eine familiäre Atmosphäre und die Einbindung von Angehörigen. Ein besonderes Beispiel ist die Demenz-WG in der Heinrich-Mann-Allee 68.
Das Omi-Opi-Haus in der Heinrich-Mann-Allee 68: Ein Modellprojekt
Vor anderthalb Jahren gründeten Angehörige die private Demenz-WG in der Heinrich-Mann-Allee 68. In dem Einfamilienhaus hat sich seitdem viel getan. Von einer Bewohnerin der ersten Stunden musste man Abschied nehmen, neue Bewohner sind eingezogen. Die Warteliste für dieses ungewöhnliche Haus ist lang, und der Terminkalender ist voll.
Im März ist Annemarie eingeschlafen. Ihr Witwer schaut dennoch alle paar Tage in dem Haus vorbei, in dem seine demenzkranke Frau zuletzt daheim war, hält den Kontakt zu denen, die sie gepflegt und dabei geholfen haben, die letzten, nicht ganz einfachen Jahre zu dennoch guten Jahren zu machen. Das Leben geht eben doch irgendwie weiter - auch in dem Haus an der Heinrich-Mann-Allee 68, das so unscheinbar daherkommt und doch etwas Besonderes ist.
Am 30. Oktober 2014 zogen dort Annemarie und vier andere ältere Damen ein - eine private Demenz-WG, wie es sie in Stadt und Land zwar noch nicht allzu häufig gibt, die aber immer beliebter werden, „weil eine Pflege nur auf Pflegediensten basierend einfach nicht funktioniert“, wie Manja Sprdlik sagt. „Es geht nur gemeinsam mit den Angehörigen.“
Das Konzept: Angehörige als Chefs im Haus
Manja Sprdlik ist selbst Angehörige. Unzufrieden mit der Pflege ihrer Schwiegermutter in einem konventionellen Heim, hob sie das Projekt gemeinsam mit der Altenpflegerin Antje Hoffmann aus der Taufe. Sie ist auch die Vorsitzende des Vereins „Lebenswert“, der die WG unterstützt, wenn es zum Beispiel darum geht, Geld für Möbel, Ausflüge oder eine Feuertreppe zu sammeln. Chef im Haus sind derweil die Bewohner und Angehörigen - sie sind die Auftraggeber des Pflegedienstes und beteiligen sich sowohl an der inhaltlichen Arbeit als auch an der Pflege.
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„Wir arbeiten hier mit einer hohen Besetzung“, sagt Manja Sprdlik. „Rund um die Uhr sind mindestens zwei Betreuer im Haus. Meist sind es mehr.“ Die Pflege ruht auf vielen Schultern: auf denen von Angehörigen und von Vereinsmitgliedern, von Pflegedienstlern und von Ehrenamtlern. Zum Team gehören Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung. Und inzwischen gehen auch Kinder im Haus ein und aus, denn die Frauen und Männer des Pflegeteams haben damit begonnen, ihre Kleinen gegenseitig zu betreuen. Deshalb gibt es im Garten zwischen Gemüsebeet und Sitzecke inzwischen auch einen Spielplatz mit einem großen Stelzenhaus mittendrin. „Wir sind hier wirklich wie eine Familie“, sagt Manja Sprdlik. Kein Wunder also, dass die WG eine Warteliste selbst fürs Personal hat und eine zweite WG immer wahrscheinlicher wird. Sowohl Angehörige als auch professionelle Pflegekräfte sind von der Art und Weise angetan, wie sich der Lebensabend für die einen und die Arbeitsbedingungen für die anderen gestalten lassen - und dass ein für alle angenehmer Alltag statt Akkordarbeit am Bett möglich ist.
Einbindung in das Gemeinwesen
Dieser Alltag bietet viel Raum für gemeinsame Erlebnisse wie Grillabende und Dampferfahrten. Einmal in der Woche findet in der WG ein Kunstprojekt mit dem Kuze statt. Einmal im Monat nimmt die WG am Flohmarkt im Jugendkulturzentrum Freiland teil. Und zu jeder Jahreszeit kommen die Kinder der Kita „Kichererbsen“ zu Besuch und singen. Auch zum Pflanzenmarkt und Siedlungsfest in der Siedlung Eigenheim war man eingeladen.
Ziele und Wünsche
„Miteinander reden, sich stützen, sich schützen - darum geht’s“, sagt Manja Sprdlik. „Wir haben eine WG aufgebaut, in der sich alle, auch die Pflegenden, wohlfühlen können. Ein Zuhause, in dem ein Leben und Arbeiten ohne Druck, Mobbing, Unsicherheit und Angst möglich ist.“ Ihr Traum sei es nun, dass sich viele Potsdamer das Modell abschauen. Wer ein privates Wohnprojekt aufbauen möchte, kann sich vom Verein „Lebenswert“ unterstützen und begleiten lassen. „Auf dass es in zehn Jahren zehn Omi-Opi-Wohlfühl-Häuser in Potsdam gibt“, sagt Manja Sprdlik. „Nehmt eure Alten in die Mitte!“
Eckdaten der "Lebenswert"-WG
Die Senioren-WG in der Heinrich-Mann-Allee 68 gründete sich Ende Oktober 2014, nachdem ein Brand die Vorgänger-WG in Babelsberg im April 2014 zerstört hatte. Derzeit leben in der WG fünf Damen und drei Herren. Die Bewohner, von denen die meisten demenzkrank sind, werden rund um die Uhr betreut. Das 180-Quadratmeter-Haus hat zwei Etagen und einen Garten. Der Verein „Lebenswert” spart für eine Feuertreppe, die um die 10000 Euro kosten wird.
Neue Mitbewohner gesucht: Ein Zuhause für Omi und Opi
Die Demenz-WG sucht ab sofort neue Mitbewohner für das Wohnprojekt in der Heinrich-Mann-Allee 68, gleich vier neue Bewohner können einziehen. Demenzkranke können in Potsdam ein liebevolles neues Zuhause finden. Die freien Plätze der besonderen Wohngemeinschaft sind vorrangig für Demenzkranke vorgesehen. Trotzdem finden auch altersschwache Menschen einen Platz in der Wohngemeinschaft. Der Unterschied zu anderen Seniorenheimen: Hier arbeiten professionelle Pfleger und Angehörige von Anfang an zusammen, ein individueller Alltag für die Bewohner wird möglich. Während die meisten Pflegeheime strengere Zeitpläne einhalten müssen, wird sich in der Wohngemeinschaft Zeit genommen, um die persönlichen Bedürfnisse zu erfüllen.
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Hand in Hand mit den Angehörigen
Die Gemeinschaft im Haus entsteht nicht zuletzt durch die Beteiligung und das Vertrauen der Angehörigen. Eine der Angehörigen bewundert im Gespräch mit der MAZ die Inklusion aller. Sie sagt: „Wir können alleine über die Betreuung unserer Liebsten bestimmen und uns aktiv in den individuellen Pflegebestimmungen einbringen.“ Dazu gehört eine Regelung über die Mindestbeteiligung der Angehörigen. „Jeder beteiligt sich mindestens zwölf Stunden im Monat an der Gemeinschaft und unterstützt so auch das Pflegepersonal.“ Die Angehörigen übernehmen alltägliche Aufgaben wie beispielsweise Planung und Organisation, Reparaturen oder Arzttermine.
Janine Hausknecht-Hackert spricht überdies von einem so starken Familiengefühl, dass die Angehörigen nicht nur zum Besuch ihrer eigenen Verwandten, sondern zur Fürsorge aller Bewohner kommen. So lebt die Gemeinschaft vom gemeinsamen Gestalten und der Teilhabe aller. Durch die Arbeit der festangestellten Präsenzpflegekräfte und eines Pflegediensts wird den Angehörigen aber zugleich ein sorgenfreies nach Hause gehen ermöglicht - eine wichtige Entlastung für pflegende Angehörige, oftmals die Kinder der Bewohner. „Man muss auch kein schlechtes Gefühl mehr haben und ständig auf der Hut sein“, sagt eine Angehörige, die selbst noch voll im Berufsleben steht. Abgesehen davon könne man seine Liebsten ja auch zu jeder Zeit besuchen.
Den Schritt ins Omi-Opi-Haus wagen
Oftmals fällt es nicht nur den Pflegebedürftigen, sondern auch ihren Angehörigen sehr schwer, den Schritt vom eigenen Heim in eine betreute Wohngemeinschaft zu wagen. Doch zu langes Zögern ist auch nicht der richtige Weg. Janine Hausknecht-Hackert sagt, es sei umso schwieriger, den Betroffenen einen möglichst schönen Lebensalltag zu ermöglichen, desto weiter die Einschränkungen ohne Rundum-Pflege vorangeschritten seien. Als Beispiel nennt sie einen Fall, bei dem die Erkrankung so weit fortschritt, dass die sprachlichen Fähigkeiten so weit eingeschränkt waren, dass sich die Betreuung erschwerte.
Auch die Sorge der Finanzierung versucht die Pflegerin den Angehörigen zu nehmen. Für die Unterbringung der Senioren fallen wie in einem privaten Haushalt Miete, Haushaltsgelder und Verpflegungsbeiträge an. „Die jeweiligen Pflegekosten werden über den Pflegegrad mit dem Pflegedienst abgerechnet“, sagt sie. Zusätzlich sei ein Antrag für die Hilfe zur Pflege beim Sozialamt möglich, um eine Kostendeckung zu vereinfachen.
Teil der Potsdamer Demenz-Wohngemeinschaft werden
Um sich und seinen Liebsten einen Platz im Omi und Opi Haus zu sichern, kann man jederzeit den Kontakt zu den Pflegern aufnehmen. Vor Ort kann man dann mit dem Team ins Gespräch kommen und alle weiteren Fragen zur Betreuung, zu Kosten und, wenn gewünscht, zum Umzug klären.
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Weitere Demenz-WGs in Potsdam
Neben dem Omi-Opi-Haus gibt es in Potsdam weitere Demenz-WGs, die unterschiedliche Konzepte verfolgen.
Wohngemeinschaft in der Jochen-Klepper-Straße
Noch ist es ein bisschen leer in der 366 Quadratmeter großen Wohnung in der Jochen-Klepper-Straße: Erst zwei Bewohnerinnen leben in der Wohngemeinschaft für demenzkranke Senioren, Platz ist für insgesamt elf Menschen. Doch schon jetzt scheint es den beiden Damen in der hellen Wohnung mit den bodentiefen Fenstern sehr zu gefallen: "Ein paar Tage nach dem Einzug haben wir Musik angemacht und für den Karneval geschmückt, sie sind richtig aufgeblüht", sagt Oliver Anderle, der Leiter der Gemeinschaftswerke in Potsdam, die die Einrichtung ins Leben gerufen hat. "Viele spüren: Das ist kein Ende, sondern ein neuer Anfang. Ähnliches habe ich auch schon in anderen Senioren-WGs von uns erlebt."
Selbstbestimmung im Fokus
Die gemeinnützigen Gemeinschaftswerke sind vor allem im Havelland, Oberhavelland und Potsdam aktiv und betreuen hier insgesamt 14 Wohngemeinschaften. Die neue Einrichtung im Bornstedter Feld ist die erste Demenz-WG der Gemeinschaftswerke in Potsdam: Senioren:innen sollen hier anders als in Pflegeheimen ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben führen, nur eine Präsenzkraft begleitet die WG-Bewohner im Alltag, hilft bei Problemen und passt auf, dass sich niemand verläuft. "Wir sind nur Gäste in der WG", sagt Anderle. "Wir betreuen nach Bedarf." Im selben Haus in der Jochen-Klepper-Straße befindet sich auch eine Tagespflege und eine Begegnungsstätte. Pflegefachkräfte unterstützen ambulant bei der körperlichen Pflege und der medizinischen Versorgung, im Haus selbst befinden sich auch noch eine Tagespflegeeinrichtung und eine Begegnungsstätte der Gemeinschaftswerke.
Ausstattung und Individualität
Die gesamte Wohnung ist barrierefrei und verfügt neben einer großzügigen Küche, einem Wohn- und Esszimmer und vier geräumigen Bädern auch über eine Gemeinschaftsdachterrasse. Der reichliche Platz sei elementar für den Alltag der Senior:innen, sagt Jana Loitz, die die Demenz-Beratungsstelle im selben Haus leitet: "Für Menschen mit Demenz ist das extrem wichtig. Sie haben eine Hin- und Weglauf-Tendenz." Jeder bringt eigene Möbelstücke mit, sein eigenes Stück Heimat: "Es war schön, mit anzusehen, wie sie angekommen sind und sich sofort zuhause gefühlt haben", sagt Loitz. "Jeder kann sich zurückziehen, es gibt keine Anweisungen, wie der Tag abzulaufen hat", so Oliver Anderle.
Biographiearbeit und Passgenauigkeit
Vor dem Einzug wird zusammen mit den Angehörigen eine Biographie erstellt und nach besonderen Vorlieben oder Bedürfnissen gefragt: "Im Alltag können wir so auf bestimmte Verhaltensweisen oder Tagesrhythmen eingehen und das Verhalten unserer Bewohner in verschiedenen Situationen besser verstehen", sagt Loitz. Vor dem Einzug neuer Mitbewohner:innen wird genau geschaut, ob der "Neuzugang" auch in die WG passt.
Herausforderungen und Chancen
Viele Angehörige stünden dem Konzept der Demenz-WG zunächst einmal skeptisch gegenüber, sagt Anderle: "Natürlich ist es eine Herausforderung, aber dank geteilter Verantwortung kann das gelingen. Viele haben hinterher zu uns gesagt, ‚Ein Glück, dass wir das gemacht haben!'" Für Anderle geht gar kein Weg an Demenz-WGs vorbei: "Da gibt es einen Riesenbedarf, die Menschen werden immer älter und die Pflegeheime sind oft überlastet."
Weitere Initiativen und Planungen
"Tatsächlich ist das Konzept nicht neu: Bereits 2009 wurde in Babelsberg eine Demenz-WG für acht Bewohner:innen auf Initiative von Angehörigen gegründet, 2014 eröffnete das privat geführte „Omi und Opi-Haus“ in der Heinrich Mann-Allee. Auch die Gemeinschaftswerke planen neue WGs: Im März 2022 sollen in der Großbeerenstraße nahe dem Filmpark zwei weitere Demenz-WGs für jeweils neun Bewohner:innen entstehen, zum gleichen Zeitpunkt sollen weitere vier Demenz-WGs für jeweils fünf Bewohner:innen und eine Tagespflege in der Roten Kaserne eröffnen. Als Angehörige haben wir in 2009 den Verein „Leben wie ich bin - Selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit Demenz“ gegründet und eine Wohngemeinschaft mit dem Ziel aufgebaut, ein selbstbestimmtes Wohnen für unsere betroffenen Mütter, Väter und Partner zu organisieren.
Mit sehr viel persönlichem Engagement ist es uns gelungen, für unsere demenzerkrankten Ehepartner, Mütter und Väter einen abwechslungsreichen Alltag mit einer Rund-um-die-Uhr-Pflege zu verbinden. Durch diese verantwortliche Übernahme der Organisation von uns Angehörigen und der geteilten Verantwortung mit dem ambulanten Pflegedienst ist die Zufriedenheit mit der Wohn- Lebenssituation sehr hoch.