Der Begriff Homunkulus, lateinisch für „Menschlein“, hat im Laufe der Geschichte unterschiedliche Bedeutungen erlangt. Ursprünglich ein Konzept der Alchemie des Spätmittelalters, fand er seinen Weg in die Literatur, Philosophie und schließlich in die Neurowissenschaften. In diesem Artikel werden die verschiedenen Facetten des Homunkulus-Begriffs beleuchtet, insbesondere seine Bedeutung im Zusammenhang mit dem Gehirn.
Der Homunkulus in Alchemie und Literatur
In der Alchemie des Spätmittelalters bezeichnete der Homunkulus einen künstlich geschaffenen Menschen, oft als dämonischer Helfer bei magischen Praktiken. Paracelsus, ein Arzt, Alchemist und Mystiker des frühen 16. Jahrhunderts, beschrieb in seiner Schrift De natura rerum detailliert die angebliche Herstellung eines Homunkulus. Demnach müsse man menschliche Spermien 40 Tage lang in einem Gefäß im (wärmenden) Pferdemist verfaulen lassen. Was sich dann rege, sei "einem Menschen gleich, doch durchsichtig".
Das Homunkulus-Motiv wurde auch in der Literatur aufgegriffen, um die Ambivalenz der modernen Technik zu illustrieren. Robert Hamerling nutzte die Figur des Homunkulus in seinem satirischen Epos Homunculus (1888), um eine scharfe Kritik an einer zunehmend materialistisch orientierten Weltanschauung zu üben. Auch Goethe griff das Motiv in seinem Faust II auf, wo Famulus Wagner einem künstlichen Menschen zur Existenz verhilft.
Der Homunkulus in der Philosophie
In der Philosophie der Wahrnehmung und des Geistes wird der Begriff „Homunkulus“ verwendet, um auf die Vorstellung hinzuweisen, dass es im Kopf ein weiteres Wesen gibt, das Reize wahrnimmt und Erlebnisse hat. Diese Idee wird meist kritisch betrachtet, da sie zu einem infiniten Regress führen würde: Wenn ein Homunkulus im Kopf ein Bild betrachtet, müsste es einen weiteren Homunkulus geben, der das Bild im Kopf des ersten Homunkulus betrachtet, und so weiter.
Daniel Dennett argumentiert, dass viele Theorien des Geistes unbewusst die Existenz eines Homunkulus annehmen, insbesondere wenn davon ausgegangen wird, dass alle Informationen an einem Ort im Gehirn zusammengeführt werden müssen, um zu Bewusstsein zu kommen. Er kritisiert dieses Konzept als "cartesianisches Theater" und schlägt stattdessen das "Modell der verschiedenen Entwürfe" vor, demzufolge in verschiedenen Gehirnregionen unterschiedliche Interpretationen eines Inputs entwickelt werden, die miteinander konkurrieren, aber nie an einer zentralen Stelle verglichen werden.
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Gilbert Ryle argumentiert ähnlich und spricht von einem "Gespenst in der Maschine" anstelle eines Homunkulus. Er kritisiert die Vorstellung, dass mentale Zustände wie Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Empfindungen als innere Zustände begriffen werden, die im Körper lokalisiert sind. Stattdessen schlägt er einen methodologischen Behaviorismus vor, demzufolge Menschen bestimmte Wahrnehmungen, Gedanken oder Empfindungen zugesprochen werden können, wenn sie ein bestimmtes Verhalten oder zumindest eine Verhaltensdisposition zeigen.
Der Homunkulus in den Neurowissenschaften
In den Neurowissenschaften hat der Begriff Homunkulus eine metaphorische Bedeutung erlangt. Hier bezeichnet er schematische Darstellungen des menschlichen Körpers im Gehirn, die sogenannten somatosensorischen und motorischen Homunculi. Diese Darstellungen befinden sich auf den primären Rindenfeldern im Bereich der Zentralfurche und sind entscheidend für das Verständnis, wie das Gehirn sensorische Informationen verarbeitet und Bewegungen steuert.
Der sensorische Homunkulus
Der sensorische Homunkulus repräsentiert die rezeptiven Felder im somatosensorischen Kortex, also die Sensoren zum Tasten oder Fühlen. Er ist ein sogenannter umgekehrter Homunkulus, da die Darstellung der Areale von kaudal nach kranial erfolgt, also in entgegengesetzter Richtung zur Anordnung der Körperteile. Die Größe der einzelnen Bereiche im Homunkulus entspricht nicht der tatsächlichen Größe der Körperteile, sondern der Dichte der Sensoren in diesem Bereich. So nehmen beispielsweise das Gesicht und die Hände einen vergleichsweise großen Abbildungsraum ein, da sie über besonders viele Sensoren verfügen.
Die Nervenzellen im Gyrus postcentralis (primär sensorischer Cortex im Parietallappen) repräsentieren die sensorischen Bereiche, die sich überall auf der Haut, den Schleimhäuten und auch in den Organen befinden. Ihre Anordnung ergibt den sensorischen Homunculus, der sich besonders durch ausgeprägte Füße, Hände und Gesicht auszeichnet. Obwohl die Genitalien besonders empfindlich sind, ist ihre Repräsentation im Gehirn sehr klein und liegt am weitesten medial. Richtung apikal folgt die untere Extremität, der Stamm, die Hände (vor allem der Zeigefinger) und schließlich das Gesicht mit Fokus auf Lippen und Zunge.
Die Repräsentation der Körperteile im Gehirn entspricht der Sensorendichte im jeweiligen Bereich. Diese lässt sich praktisch mit der Überlegung nachvollziehen, wie gut sich eine Berührung oder ein Schmerzreiz an diesem Körperteil örtlich eingrenzen lässt. Um dieses Phänomen auch klinisch testen zu können, gibt es in der Medizin die sogenannte Zweipunktschwelle.
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Der motorische Homunkulus
Der motorische Homunkulus ist das Äquivalent im Gyrus präcentralis (primär motorischer Cortex im Frontallappen). Hier werden angesteuerte Skelettmuskeln repräsentiert, wobei Genitalien und Eingeweide kein Teil davon sind. Auch der motorische Homunkulus ist ein umgekehrter Homunkulus. Man unterscheidet zwischen grob angesteuerten Muskeln an Rumpf, Armen und Beinen und feingesteuerten Muskeln der Hände und des Gesichts.
Neuroplastizität und der Homunkulus
Die somatotope Karte im Gehirn ist nicht starr, sondern kann sich im Laufe der Zeit verändern. Diese Fähigkeit des Gehirns, sich in seiner Struktur und Funktion zu verändern und sich äußeren Bedingungen anzupassen, wird als Neuroplastizität bezeichnet. Sie ermöglicht das Lernen von neuen Dingen, die Rehabilitation von Hirnschädigungen und vieles mehr.
Nach einer Amputation reorganisiert sich beispielsweise der somatosensorische Kortex, der die Repräsentation des amputierten Körperteils enthält. Diese neuronale Umstrukturierung kann zu Fehlinterpretationen von Signalen und zur Entstehung von Schmerz führen.
Der sensorische und der motorische Homunculus können beide in ihrer Lage von einem Schlaganfall betroffen sein. Hierbei kommt es meist zu motorischen und sensorischen Ausfällen in den Körperregionen, die im betroffenen Cortexbereich repräsentiert werden.
Geschlechterunterschiede beim Homunkulus
Lange Zeit wurde in der Forschung vor allem der "männliche" Homunkulus betrachtet, während der "weibliche" Homunkulus vernachlässigt wurde. Mittlerweile gibt es jedoch Bestrebungen, auch das neuronale Abbild des weiblichen Körpers genauer zu untersuchen. Susana Lima vom Champalimaud Centre for the Unknown in Lissabon geht davon aus, dass es Unterschiede in den Hirnkarten männlicher und weiblicher Körper geben muss, allein schon wegen der offensichtlichen Diskrepanzen in der Anatomie der Geschlechtsorgane.
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Christine Heim von der Berliner Charité hat in einer Studie gezeigt, dass die Genitalien tatsächlich in somatotopischer Abfolge neben der Hüfte verortet sind, also analog zur Anatomie des Körpers. Sie fand auch heraus, dass die Dicke des Genitalfelds in der Hirnrinde mit der Anzahl der Sexualkontakte im vergangenen Jahr zusammenhängt. Bei Frauen, die als Kinder sexuell missbraucht wurden, fand sie hingegen eine Ausdünnung der Hirnrinde an den Stellen, die die Klitoris und den umgebenden Genitalbereich im Gehirn repräsentieren.
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