Die Frage, warum manche Menschen sich zu Männern und andere zu Frauen hingezogen fühlen, beschäftigt die Wissenschaft seit Langem. Trotz gesellschaftlicher Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften bleibt die Ursachenforschung umstritten. Sucht man nach einem "Defekt" oder nach einer natürlichen Variation des Menschseins? Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der sexuellen Orientierung ist komplex und vielschichtig, wobei biologische, psychologische und soziale Faktoren eine Rolle spielen.
Genetische Aspekte: Auf der Suche nach dem "Schwulen-Gen"
Schon in den 1980er Jahren suchten Wissenschaftler*innen nach genetischen Ursachen für Homosexualität. Im Jahr 1993 verkündete der US-Amerikaner Dean Hamer die Entdeckung des sogenannten "Schwulen-Gens", doch sein Experiment konnte nicht repliziert werden.
Neue Hinweise aus der Genomforschung
Genetikerinnen und Psychiaterinnen des NorthShore University HealthSystem Research Institute in Illinois haben in einer genomweiten Vergleichsstudie weitere Indizien dafür gefunden, dass die erbliche Komponente bei der Entstehung von Homosexualität eine Rolle spielt. Sie untersuchten die DNA-Proben von 1.077 homosexuellen und 1.231 heterosexuellen Männern und entdeckten zwei Genvarianten, die die sexuelle Orientierung beeinflussen sollen. Eine davon liegt auf dem Chromosom 13 zwischen den Genen SLITRK5 und SLITRK6. Genfamilien wie SLITRK gelten als potenziell relevant für die sexuelle Orientierung. Auch frühere Studien deuteten auf einen Zusammenhang zwischen bestimmten Schilddrüsenstörungen und Homosexualität hin, so erkranken homosexuelle Männer häufiger an Morbus Basedow als heterosexuelle.
Grenzen der genetischen Forschung
Trotz dieser vielversprechenden Ergebnisse betonte der Leiter der Studie, Alan Sanders, dass keine vollständige Antwort gefunden wurde. Die Wissenschaftler*innen räumten ein, dass die Probandenzahl zu gering war, um mehr als erste Hinweise zu liefern. Es gibt also kein einzelnes "Schwulen-Gen". Die sexuelle Orientierung wird nicht von einem oder wenigen Genen beeinflusst, sondern von vielen sich überschneidenden. Genetische Varianten sind so verstreut, dass eine gesicherte Vorhersage einer homosexuellen Entwicklung nicht möglich ist.
Eine große Studie analysiert genetische Marker für gleichgeschlechtliches Verhalten
Eine Studie im Fachblatt "Science" analysierte Erbgutinformationen und Angaben zur Partnerwahl von 477.522 Menschen. Das Ergebnis: Es gibt fünf Genabschnitte, die mit gleichgeschlechtlicher Partnerwahl korreliert sind. Zwei davon sind an der Regulation von Sexualhormonen wie Testosteron und Östrogen beteiligt. Der Einfluss dieser Genvarianten ist jedoch sehr gering und erklärt kaum ein Prozent des gleichgeschlechtlichen Verhaltens in der Bevölkerung. Die Forscher betonen, dass anhand dieser Gene keine Vorhersage über die sexuelle Orientierung eines Menschen möglich ist.
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Epigenetik: Genetische Schalter in der Schwangerschaft
Da die Suche nach einem einzelnen "Homosexualitätsgen" erfolglos blieb, konzentriert sich die Forschung zunehmend auf epigenetische Faktoren. Homosexualität wäre demnach nicht direkt genetisch bedingt, sondern epigenetisch. Das heißt, unter bestimmten Umständen werden bestimmte genetische Schalter während der Schwangerschaft ein- oder ausgeschaltet.
Immunreaktion der Mutter
Eine mögliche Erklärung dafür fanden Forscher Ende 2017 anhand von Blutuntersuchungen bei Müttern. Sie vermuten, dass männliche Embryos bei der Mutter eine Immunreaktion auslösen, wodurch der mütterliche Körper Antikörper bildet. Es ist jedoch klar, dass dieser Mechanismus Homosexualität nicht allein erklären kann.
Vererbung epigenetischer Informationen
Ein weiterer Erklärungsansatz basiert auf der Erkenntnis, dass epigenetische Informationen unter bestimmten Umständen vererbt werden können. Demnach wird das, was wir als "Geschlecht" bezeichnen, aus mehreren Komponenten zusammengesetzt: körperliche Geschlechtsmerkmale, soziales Geschlecht und sexuelle Präferenz. Homosexualität entsteht, wenn ein heterosexueller Vater an seine Tochter genau den Schalterzustand vererbt, der im Gehirn des Embryos eine sexuelle Vorliebe für Frauen anlegt. Dann entwickelt sich die Tochter zur Lesbe.
Hirnstrukturen und sexuelle Orientierung
Bei der Suche nach biologischen Wurzeln der sexuellen Neigung stützt man sich auch auf Befunde der Hirnforschung.
Geschlechtstypische Hirngebiete
Wissenschaftler suchen seit Langem nach einem anatomischen Korrelat im Gehirn für die Geschlechtszugehörigkeit. Eine Untersuchung von Roger A. Gorski aus dem Jahr 1978 am Hypothalamus von Ratten zeigte, dass eine bestimmte Zellgruppe im vordersten Bereich des Hypothalamus bei männlichen Tieren um ein Mehrfaches größer ist als bei weiblichen. Diese Struktur spielt eine Rolle beim Instinktverhalten, auch bei Sexualfunktionen.
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INAH3: Ein sexualspezifischer Hirnkern beim Menschen
Auch im menschlichen Gehirn wurde eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche Struktur in der medialen präoptischen Region gefunden, der dritte interstitielle Nucleus des anterioren Hypothalamus (INAH3). Diese Zellgruppe ist bei Männern etwa dreimal so groß wie bei Frauen. Im Jahr 1990 untersuchte LeVay, ob der INAH3 auch bei homo- und heterosexuellen Männern unterschiedlich groß ist. Er fand heraus, dass der INAH3 bei heterosexuellen Männern mehr als doppelt so groß ist wie bei Frauen und auch zwei- bis dreimal so groß wie bei homosexuellen Männern. Es scheint sogar noch weitere anatomische Unterschiede im Gehirn zu geben, die mit der sexuellen Orientierung korreliert sind. So ist die vordere Kommissur bei heterosexuellen Männern am unscheinbarsten, größer bei Frauen und am stärksten ausgebildet bei homosexuellen Männern.
Interpretation der Ergebnisse
Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Erkenntnissen ziehen? Theoretisch gibt es drei Möglichkeiten: Die Strukturunterschiede existieren bereits sehr früh und beeinflussen die spätere sexuelle Orientierung. Die anatomischen Besonderheiten entstehen erst im Erwachsenenalter unter dem Einfluss von sexuellen Empfindungen oder Verhaltensweisen. Ein dritter Faktor prägt sowohl die Richtung des Sexualinteresses als auch die Strukturunterschiede im Gehirn. Derzeit lässt sich nicht entscheiden, welche Erklärung zutrifft. Es wird jedoch vermutet, dass die anatomischen Unterschiede bereits in der Phase der Gehirnausbildung angelegt werden und im späteren Leben das Sexualverhalten mitbestimmen.
Evolutionäre Perspektiven: Wie konnte sich Homosexualität behaupten?
Die Verhaltensforschung hat homosexuelles Verhalten in mehr als 1500 Tierarten dokumentiert. Einige Fachleute sehen darin Hinweise darauf, dass gleichgeschlechtliches Verhalten unabhängig voneinander mehrfach in der Evolution entstanden ist. Evolutionsbiolog:innen beschäftigen sich daher mit der Frage, welchen Nutzen Homosexualität bietet.
Förderung sozialer Bindungen und Vermeidung von Konflikten
Eine Studie aus dem Jahr 2021 verglich, wie stark gleichgeschlechtliche Sexualität in verschiedenen Arten ausgeprägt ist. Demnach findet sich Gleichgeschlechtlichkeit vor allem bei Arten mit komplexem Sozialgefüge. Das Forschungsteam leitet daraus ab, dass Homosexualität entstanden sein könnte, weil sie positive soziale Bindungen fördert und hilft, gewaltsame Konflikte zu vermeiden.
Gruppenzugehörigkeit und Kooperationswillen
Gleichgeschlechtliche Handlungen dienen der Gruppenzugehörigkeit und des Aufrechterhaltens einer Bindung über unterschiedliche Grade körperlicher Intimität. Sexuelle Handlungen sind dann nur eine mögliche weitere Ausprägung dieser Intimität.
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Genetische Merkmale und Reproduktion
Eine molekulargenetische Erklärung dafür, dass Homosexualität evolutionär Bestand haben kann, schlug ein Team um Brendan Zietsch vor. Die Forschenden fanden heraus, dass beim Menschen die gleichen genetischen Merkmale, die mit Homosexualität assoziiert sind, bei heterosexuellen Personen mit vielen Kindern assoziiert sind.
Soziokulturelle Aspekte: Zwischen Diskriminierung und Emanzipation
Die sexuelle Orientierung ist eine mehrdimensionale und individuell flexible Zusammensetzung aus der sexuellen und emotionalen Anziehung zum eigenen, zum anderen oder zu beiden Geschlechtern. Ob ein Mensch überwiegend oder ausschließlich homo- oder heterosexuell empfindet, ist nie soziokulturell beeinflussbar. Man kann weder zur hetero- noch zur homosexuellen Orientierung erzogen, verführt, geworben oder therapiert werden.
Stigmatisierung und Diskriminierung
Trotz steigender Akzeptanz von Homosexualität ist das Coming-out immer noch ein schmerzhafter Prozess. Stigmatisierung und pathologisierende Zuschreibungen aller nichtheterosexuellen Orientierungen sind auch heute noch anzutreffen. Durch direkte oder indirekt erfahrene Diskriminierung kommt es zu einer höheren Prävalenz psychischer Störungen bei Menschen mit homo- oder bisexueller Orientierung. Sie entwickeln häufiger affektive Störungen, Angststörungen und Substanzmissbrauch, und zudem besteht eine erhöhte Suizidrate bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit homo- oder bisexueller Orientierung.
Emanzipation und gesellschaftlicher Wandel
Die Geschichte der Homosexuellen ist eine der Verachtung und Verfolgung, aber auch eine der Emanzipation. Nach Steinigung und Folter, nach Zuchthaus und KZ hatten Homosexuelle zum ersten Mal die Chance, ihre Eigenart kollektiv und öffentlich ohne Gefahr für Leib und Leben zu bekennen und zu einer gewissen Bewusstheit ihrer selbst zu gelangen. Die Schwulen- und Lesbenbewegung ist ein Lehrstück sexueller Emanzipation. Keine Sexualform ist in den vergangenen Jahrzehnten kulturell und individuell so stark verändert worden wie die Homosexualität.
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