In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts erlebte die Hirnforschung einen beispiellosen Boom. Die Entwicklung der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) ermöglichte es, Gehirnaktivitäten bei verschiedenen Aufgaben sichtbar zu machen. Das Bewusstsein schien greifbar nahe, und die Entwicklung von Computerchips, die nach dem Vorbild neuronaler Netzwerke funktionierten, versprach eine Revolution in der Informationstechnologie. Es entstanden neue Anwendungsbereiche wie Neuropädagogik, Neuromarketing und sogar Neurotheologie. Die mediale Präsenz der Hirnforschung weckte große Hoffnungen auf wirksame Therapien für neurologische und psychiatrische Erkrankungen, insbesondere Demenzen, die in den kommenden Jahrzehnten immer mehr Menschen betreffen werden.
In diesem Kontext starteten die USA, Japan und China eigene Big-Brain-Projekte. Auch die EU rief das Human Brain Project (HBP) ins Leben, ein Flagship-Projekt, das die europäische Forschungsleistung hervorheben sollte.
Das Human Brain Project: Eine Dekade der Forschung
Das Human Brain Project (HBP), ein ehrgeiziges europäisches Forschungsprojekt, startete im Jahr 2013 unter der Leitung des renommierten Hirnforschers Henry Markram. Markram hatte bereits mit dem Blue Brain Project in Lausanne die Simulation eines winzigen Areals aus dem Rattencortex auf einem Supercomputer realisiert. Die beeindruckenden Bilder, die dabei entstanden, trugen sicherlich zur Vergabe der Fördermittel bei.
Das HBP hatte eine ambitionierte Vision: das menschliche Gehirn in seiner Gesamtheit zu simulieren. Markram spekulierte, dass eine solche Simulation möglicherweise sogar zu eigenem Bewusstsein fähig sein könnte. Zusätzlich sollten neuromorphe Chips die europäische Consumer-Industrie vorantreiben. Eine zentrale Aufgabe war die Schaffung einer Plattform, die neurowissenschaftliche Daten sammeln, bündeln und allgemein verfügbar machen sollte.
Kritik und Neuausrichtung
Die Umsetzung des HBP verlief jedoch nicht reibungslos. Es gab Kritik aus der wissenschaftlichen Community, die die Versprechungen als unrealistisch und die Lücken im Wissen über Neurone und Netzwerke als zu groß ansah. Ein Großteil der Hirnforscher befürchtete, dass das Projekt Forschungsgelder für kleinere Projekte blockieren würde.
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Auch innerhalb des HBP gab es Konflikte, da die Drittmittel nicht so freigiebig flossen wie erwartet. Dies führte zu Spannungen zwischen den ambitionierten Zielen und der Realität des Machbaren. Henry Markram erwies sich als wenig talentierter Diplomat, und bereits 2014 gab es einen offenen Brief, der die Führung und Entscheidungsfindung im HBP kritisierte.
Daraufhin wurde das HBP unter der Leitung von Katrin Amunts strategisch und strukturell neu ausgerichtet. Die Datentechnik rückte in den Vordergrund, die Simulation wurde zu einem Werkzeug von vielen, und die kognitive Neurowissenschaft wurde stärker berücksichtigt.
Ziele und Errungenschaften
Vergleicht man die ursprünglichen Ziele des HBP - die Schaffung technischer Grundlagen für ein neues Modell der IT-gestützten Hirnforschung, die Integration von Daten und Wissen aus verschiedenen Disziplinen und die Katalysierung einer Gemeinschaftsanstrengung - mit den tatsächlichen Ergebnissen, so wurden viele davon erreicht.
Die Neuausrichtung des HBP führte zur Initiierung von Projekten, die über das Projekt hinausgehen und über die Plattform EBRAINS zukunftstauglich angeboten werden. EBRAINS ist ein umfassender Werkzeugkasten für Neurowissenschaftler, der einige bemerkenswerte Instrumente enthält.
Ein Beispiel ist The Virtual Brain, eine Simulationsplattform, die von Chirurgen zur Vorbereitung von Operationen bei Epilepsie-Patienten in einer groß angelegten klinischen Studie eingesetzt wird. Durch die Eingabe von Patientendaten kann die Plattform helfen, die Operationsplanung zu verbessern.
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Ein weiteres wichtiges Erbe des HBP ist der Julich Brain Atlas, der von Katrin Amunts entwickelt wurde. Dieser Atlas basiert auf 24.000 hauchdünnen Schnitten von 23 menschlichen Gehirnen, die digital wieder zusammengesetzt wurden. Er ist umfangreicher und detaillierter als alles bisher Dagewesene und ermöglicht es Forschern, von der Zellebene bis zu Netzwerken und Arealen zu navigieren. Alle Daten im Julich Brain Atlas sind öffentlich zugänglich, und Forscher können ihre eigenen Daten hochladen und bearbeiten.
Die Bedeutung von Datenmanagement und Vergleichbarkeit
Das HBP hat die Bedeutung von professionellem Datenmanagement und allgemeiner Vergleichbarkeit der Forschungsergebnisse erkannt. Durch die Erfassung von funktionellen, genetischen, molekularen und Metadaten wird die Entwicklung von Standards in den verschiedenen Disziplinen der Hirnforschung gefördert.
Eine Vision für die Zukunft
Die Vision von Henry Markram war nicht ganz falsch: Eine große Community, eine gemeinsame Sprache, eine tragfähige Theorie des Gehirns und eine gemeinsame Plattform sind notwendig, um das Gehirn zu entschlüsseln. Dazu gehört auch der Blick über den Tellerrand des rein Neuronalen hinaus, beispielsweise auf Gliazellen oder die Systeme Herz-Hirn und Darm-Hirn.
Die Herausforderungen der Hirnforschung
Trotz der Fortschritte in der Hirnforschung gibt es weiterhin große Herausforderungen. Die enormen Hoffnungen, das Verständnis der menschlichen Psyche durch Erkenntnisse zur Funktionsweise des Gehirns zu revolutionieren, haben sich bislang nicht erfüllt. Dies gilt beispielsweise für die Diagnostik psychiatrischer Krankheiten durch bildgebende Verfahren oder Biomarker.
Neurophilosophie und Neuroethik
Parallel zum Boom der Neurowissenschaften hat sich die Neurophilosophie als eigenständige Subdisziplin der Philosophie etabliert. Sie setzt sich kritisch mit Annahmen zum Zusammenhang von Gehirn und Psyche auseinander und weist vereinfachende oder reduktionistische Thesen zurück.
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Ein Beispiel ist die These, die Neurowissenschaften hätten bewiesen, dass es keinen freien Willen gebe. Träfe diese These zu, hätte dies weitreichende Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis und die Ethik.
Die Neuroethik diskutiert ethisch relevante neurowissenschaftliche Konzepte und Interventionsmöglichkeiten, wie neurotechnische Stimulationsverfahren oder die Verbesserung kognitiver Fähigkeiten und der Stimmung mithilfe von Psycho- bzw. Neuropharmaka.
Das Leib-Seele-Problem
Die Neurowissenschaften votieren für den Monismus, der davon ausgeht, dass Geist und Materie im Prinzip identisch sind und materielle Ursachen geistige Wirkungen haben können. Der Dualismus, der von René Descartes geprägt wurde, zieht dagegen einen Trennstrich zwischen geistigen und materiellen Phänomenen.
Es ist jedoch schwierig, die Innenperspektive, also die subjektive Erfahrung, mit den objektiven Messungen der Hirnforschung in Einklang zu bringen. Es fehlt eine mittlere Ebene, die die Mechanismen an und in der einzelnen Zelle mit den Bewusstseinsprozessen verbindet.
Das Bindungsproblem
Ein weiteres ungelöstes Problem ist das Bindungsproblem. An verschiedenen Stellen im Gehirn werden unterschiedliche Prozesse wie Hören, Sehen, Schmecken und der Abgleich mit Erinnerungen verarbeitet. Dennoch empfinden wir das Bewusstsein als einen einzigen Strom, der durch uns hindurchfließt. Es ist unklar, wie diese unterschiedlichen Prozesse zu einem einheitlichen Bewusstseinserlebnis zusammengeführt werden.
Die Suche nach dem Bewusstsein
Die Frage nach dem Wesen des Bewusstseins bleibt eine der größten Herausforderungen der Hirnforschung. Es gibt kein Zentrum im Gehirn, dessen Zerstörung zum Zusammenbruch des Bewusstseins führen würde. Stattdessen scheint das Bewusstsein ein Produkt komplexer, raumzeitlicher Muster von neuronaler Aktivität zu sein, die in verteilten Netzwerken entstehen.
Neue Erkenntnisse und Technologien
Trotz der Herausforderungen hat die Hirnforschung in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. Verbesserte bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomografie (MRT) ermöglichen immer genauere Einblicke in die Struktur und Funktion des Gehirns.
Hochauflösende Bildgebung
An der Magdeburger Universität wird das menschliche Gehirn seit über einem Jahrzehnt mit einem 7-Tesla Ultrahochfeld-Kernspintomographen untersucht. Dieses Gerät ermöglicht die Darstellung präziser Einblicke in die Funktionen des lebenden Gehirns.
Forscher haben eine Technik entwickelt, die lange Messungen von über einer Stunde ohne störende Effekte durch Bewegungen am Menschen ermöglicht. Durch die kontinuierliche Nachführung des Messvolumens entsprechend der Kopfbewegungen und die Verwendung einer Art Zahnspange zur Fixierung des Markers am Schädel konnten sie die bestaufgelöste Darstellung des Gehirns eines lebenden Menschen erstellen.
Diese Daten wurden weltweit anderen Wissenschaftlern für weitere Forschungszwecke frei zugänglich gemacht und stießen auf großes Interesse.
Die 1.000-Gehirne-Studie
Die 1.000-Gehirne-Studie ist ein spektakuläres Projekt, von dem sich die Hirnforscher weitreichende Erkenntnisse versprechen. Es könnte zu einem der Mosaiksteinchen werden, die Wissenschaftler seit Jahrzehnten aufdecken, um das große Ganze zu erkennen.
In dieser Studie wurden ältere Menschen über mehr als anderthalb Jahrzehnte hinweg begleitet und eine Vielzahl von Daten zu ihrem Gehirn, ihrer Lebenssituation, ihrem Beruf, ihrer Freizeitgestaltung und ihrem Verhalten erhoben.
Die Forscher fanden heraus, dass Sport, soziale Kontakte und Alkoholkonsum sich direkt auf die Gehirnstruktur auswirken, während Rauchen eher die Kommunikation der Gehirnregionen untereinander beeinflusst.
Die Studie hat die Tür zu einer ganzen Reihe von Folgeuntersuchungen geöffnet, die sich mit den konkreten Schäden durch verschiedene Faktoren im Gehirn und der Möglichkeit der Kompensation durch gesundes Verhalten befassen.
Navigation und Demenz
Thomas Wolbers sucht nach den Mechanismen, mit denen sich das menschliche Gehirn im Raum orientiert. Er hat herausgefunden, dass der entorhinale Cortex, eine Gehirnregion, die für die räumliche Orientierung zuständig ist, bei Demenz besonders früh betroffen ist.
Dies könnte es ermöglichen, Demenzen mithilfe von Orientierungstests schon zu diagnostizieren, bevor die Patienten sie im Alltag selbst bemerken.