Das menschliche Gehirn ist ein faszinierendes Organ, dessen Entwicklung und Fähigkeiten weiterhin Gegenstand intensiver Forschung sind. Lange Zeit galt die Vorstellung, dass das Gehirn eines Erwachsenen sich nicht mehr wesentlich verändert. Doch moderne medizinische Studien haben dieses Bild grundlegend gewandelt und zeigen, dass das Gehirn ein Leben lang plastisch bleibt und sich an neue Anforderungen anpassen kann. Dieser Artikel fasst aktuelle Erkenntnisse zum Wachstum, zur Regeneration und zu den komplexen Verbindungen im Gehirn zusammen.
Entwicklung des Gehirns in den ersten Lebensmonaten
Eine Studie, veröffentlicht in JAMA Neurology, untersuchte die Entwicklung des menschlichen Gehirns in den ersten Lebensmonaten. Die Ergebnisse zeigen, dass das Wachstum des Gehirns direkt nach der Geburt am stärksten ist. Besonders das Kleinhirn, das für die Bewegungskoordination zuständig ist, entwickelt sich in dieser Zeit rasant.
MRT-Scans von Säuglingen
Forscher der Universität von Kalifornien in San Diego führten MRT-Scans bei 87 gesunden Säuglingen in den ersten drei Lebensmonaten durch. Diese Scans ermöglichten es, die Entwicklung einzelner Hirnstrukturen detailliert zu verfolgen, ohne die Strahlenbelastung, die mit Computertomographie verbunden wäre. Die Forscher erstellten insgesamt 211 Aufnahmen, aus denen sich die Entwicklungspfade des kindlichen Gehirns ablesen ließen.
Wachstumsraten und Asymmetrien
Bei der Geburt beträgt das Gehirnvolumen eines Knaben durchschnittlich 347 cm³ und das eines Mädchens 335 cm³. Bis zum 90. Lebenstag vergrößert sich das Gehirnvolumen bei Knaben um etwa 66 % und bei Mädchen um 63 %. Die Wachstumsgeschwindigkeit ist unmittelbar nach der Geburt am höchsten und nimmt im Laufe der ersten drei Monate ab. Interessanterweise ist das Wachstum der einzelnen Hirnzentren asymmetrisch. Beispielsweise ist der linke Ventrikel zunächst größer als der rechte, während es beim Hippocampus und anderen Hirnzentren umgekehrt ist. Es wird vermutet, dass diese Asymmetrien eine Grundlage für die Rechtshändigkeit oder die Sprachentwicklung sein könnten.
Bedeutung des Kleinhirns und des Hippocampus
Das Kleinhirn zeigt das stärkste Wachstum und verdoppelt sein Volumen in den ersten drei Monaten. Dies ist von Bedeutung, da das Kleinhirn später die Software für Bewegungsabläufe wie Krabbeln und Laufen speichert. Im Vergleich dazu vergrößern sich die Hippocampi, die für die Gedächtniskonsolidierung zuständig sind, in diesem Zeitraum „nur“ um 47 Prozent. Dies entspricht dem späteren Einsetzen der kognitiven Entwicklung des Menschen.
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Zellmigration und Neuronenzahl
Das Größenwachstum des Gehirns steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen der Nervenzellen, die vom Rand der Ventrikel in Richtung Cortex wandern. Hirnforscher schätzen, dass die Anzahl der Neuronen in den ersten drei Monaten um 23 bis 30 Prozent ansteigt.
Regeneration von Gehirnzellen
Lange Zeit galt der Mythos, dass sich Gehirnzellen nicht erneuern. Neuere Studien zeigen jedoch, dass dies nicht stimmt.
Neubildung und Abbau von Zellen
Hirnforscher haben herausgefunden, dass in unserem Gehirn ununterbrochen neue Zellen gebildet und abgestorbene Zellen abgebaut werden. Besonders wichtig sind die Zellen am äußeren Rand des Gehirns, da sie besser mit Nährstoffen versorgt werden. Daher ist die Oberflächengröße des Gehirns aussagekräftiger als das Gewicht oder die Gesamtgröße, wenn es um Intelligenz geht.
Verbindungen zwischen Nervenzellen
Beim Lernen bilden sich neue Verbindungen zwischen Nervenzellen. Wenn eine Zelle abstirbt, gehen auch ihre Verbindungen verloren. Daher sind erneuerte Gehirnzellen kein vollständiger Ersatz für abgestorbene Zellen, da sie erst neue Verbindungen erwerben müssen.
Anzahl der Gehirnzellen
Nach neuesten Erkenntnissen hat ein Mensch etwa 86 Milliarden Gehirnzellen.
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Unterstützung der Gehirnzellen-Regeneration
Eine Möglichkeit, neue Verbindungen zwischen den Zellen aufzubauen, ist Gehirntraining. Diese Methode ist wissenschaftlich anerkannt und kann die Intelligenz und die mentalen Fähigkeiten verbessern.
Neuronale Verbindungen und Signalübertragung
Nervenzellen geben ihre Signale über Synapsen weiter, die feine Zellausläufer mit Kontaktknöpfchen sind. Forscher haben entdeckt, dass Nervenzellen des Gehirns auch mit Tumorzellen aggressiver Glioblastome direkte Zell-Zell-Kontakte ausbilden können. Auf diesem Weg geben sie Erregungsreize an die Krebszellen weiter, was das Tumorwachstum und die Invasion von Tumorzellen in gesundes Hirngewebe fördert.
Kommunikation zwischen Nervenzellen und Tumorzellen
Die Tumorzellen sind ähnlich wie Nervenzellen im Gehirn untereinander vernetzt und empfangen auch direkte Signale von ihnen. Moderne Mikroskopietechniken ermöglichen detaillierte Einblicke in die mikrometerkleinen Verbindungen zwischen Nerven- und Tumorzellen und deren molekulare Zusammensetzung.
Blockierung des Mechanismus im Tierversuch
Im Tierversuch konnte gezeigt werden, dass sich dieser Mechanismus blockieren lässt. Mögliche Wege sind die Reduktion der Gehirnaktivität, pharmakologische Eingriffe, die die Bindung der Signalübertragungsstoffe unterbrechen, oder das Ausschalten des AMPA-Rezeptors mit gentechnischen Methoden. In allen Fällen verlangsamte sich im Tierversuch die Ausbreitung des Tumors.
Relevanz für die Wirkstoffentwicklung
Dieser Mechanismus ist ein interessanter Ansatz für die Wirkstoffentwicklung und zukünftige medikamentöse Therapien. Es gibt bereits zugelassene Substanzen, die den AMPA-Rezeptor blockieren und in der Behandlung anderer neurologischer Erkrankungen eingesetzt werden.
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Plastizität des Gehirns im Erwachsenenalter
Auch im Erwachsenenalter werden im menschlichen Gehirn neue Nervenzellen gebildet. Diese Erkenntnis ist relativ neu.
Adulten Stammzellen
Professorin Magdalena Götz hat nachgewiesen, dass es im Gehirn bestimmte Bereiche gibt, in denen sogenannte adulte Stammzellen entstehen. Diese wandern in andere Bereiche, wo sie zu vollwertigen Neuronen heranreifen und in das neuronale Netz integriert werden.
Stammzellnischen
Im erwachsenen Gehirn von Säugetieren kommen Nervenstammzellen nur in bestimmten Stammzellnischen vor. Götz und ihr Team haben das Proteom dieser Nischen untersucht und festgestellt, dass diese Regionen besonders starr und wenig flexibel sind. Die extrazelluläre Matrix bildet ein starkes Netzwerk aus.
Vergleich mit verletzten Hirnregionen
In einem nächsten Schritt werden die analysierten Proteome mit denen verletzter Hirnregionen verglichen, um eine Umgebung zu schaffen, die für die Reparatur verletzter Hirnregionen geeignet ist.
Lernen und Gehirnveränderungen
Das menschliche Gehirn ist in der Lage, sich ein Leben lang zu verändern und anzupassen.
Schnelle Reaktionen auf neue Anforderungen
Eine Studie hat gezeigt, dass das Gehirn sehr schnell auf neue Anforderungen reagieren kann. Freiwillige lernten neue Namen für bestimmte Grün- und Blautöne, und bereits nach kurzer Zeit erhöhte sich das Volumen der Grauen Substanz in einem Teil des Sehzentrums in der linken Hirnhälfte.
Einfluss von Sprache auf die Farbwahrnehmung
Die Sprache prägt die Farbwahrnehmung stark. Menschen, in deren Muttersprache es nur ein Wort für alle Grün- und Blautöne gibt, können die Farben Grün und Blau kaum auseinanderhalten.
Gehirnjogging und Leistungsfähigkeit
Viele Wissenschaftler bezweifeln, dass Gehirnjogging-Übungen die generelle Leistungsfähigkeit des Gehirns steigern. Sie gehen davon aus, dass sich der Trainingseffekt nur auf die unmittelbar trainierte Aufgabe auswirkt.
Synaptische Plastizität
Lernen findet an den Synapsen statt, wo elektrische Signale von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden. Synapsen können die Effektivität der Übertragung variieren.
Langzeitpotenzierung
Eine Synapse kann durch Langzeitpotenzierung (LTP) verstärkt werden, indem sie mehr Botenstoff ausschüttet oder mehr Botenstoffrezeptoren bildet.
Neubildung und Abbau von Synapsen
Synapsen können selbst im erwachsenen Gehirn noch komplett neu gebildet oder abgebaut werden. An wenigen Stellen können sogar zeitlebens neue Nervenzellen gebildet werden.
Gehirn als Baustelle
Unser Gehirn gleicht zeitlebens einer Baustelle. Stärkung und Schwächung, Auf- und Abbau - die Stärke, mit der Signale zwischen Nervenzellen übertragen werden, wird laufend angepasst.
Reparatur von Schäden
Seine Plastizität hilft dem Gehirn, Schäden zumindest teilweise zu reparieren. Sterben beispielsweise bei einem Schlaganfall Nervenzellen ab, können benachbarte Hirnregionen die Aufgaben des betroffenen Gebiets zum Teil übernehmen.
Verschaltung innerhalb des Gehirns
Das menschliche Gehirn lässt sich nach verschiedenen Kriterien untergliedern. Besonders auffällig ist die Großhirnrinde, der sogenannte Kortex, die im Laufe der Evolution so stark gewachsen ist, dass sie fast das gesamte Gehirn umgibt.
Magnetresonanztomografie (MRT)
Wissenschaftler untersuchen mithilfe der Magnetresonanztomografie (MRT), welche Gehirngebiete miteinander verbunden sind. Mit dieser Technik können sie die zu Fasersträngen gebündelten Fortsätze von Nervenzellen sichtbar machen, die die Areale der Großhirnrinde miteinander verbinden.
Funktionelle Magnetresonanztomografie
Mit der funktionellen Magnetresonanztomografie können Wissenschaftler zwischen aktiven und nicht aktiven Gehirnregionen unterscheiden.
Konnektom
Einen exakten Schaltplan des Gehirns lässt sich jedoch mit der MRT-Technik nicht erstellen, da die Genauigkeit der Methode nicht hoch genug ist. Wissenschaftler entwickeln deshalb neue Methoden, mit denen sie das Konnektom entschlüsseln können.
Modellfälle
Als Modellfälle dienen ihnen dafür Mäuse. Noch einfacher aufgebaut und leichter zu untersuchen ist das Gehirn von Zebrafischen und ihrer Larven. Auch Wirbellose können ein Modell für Neurowissenschaftler sein.
Entstehung neuer Gene und Hirnwachstum
Ein bisher unbekannter Mechanismus, wie neue Gene entstehen, steckt hinter der Entwicklung des menschlichen Gehirns.
Lange, nicht codierende RNA (lncRNA)
Eine Arbeitsgruppe hat gezeigt, dass bei Menschen ein neues Gen für das Hirnwachstum entstand, indem schon vorhandene funktionslose RNA die Fähigkeit erhielt, den Zellkern zu verlassen. Dadurch konnte sie in ein Protein übersetzt werden, das in Versuchen an Mäusen deren Gehirn deutlich größer werden ließ.
Vergleich mit Makaken
Um diesen Mechanismus zu verstehen, verglich das Team insgesamt 74 Gene, die im Gehirn von Menschen und Menschenaffen völlig neu aufgetreten sind, mit ihren Gegenstücken bei Makaken, aus denen dort nur lncRNA entsteht. Dabei identifizierte es mehrere Elemente, die regulieren, wie gut ein RNA-Strang den Zellkern verlassen kann.
Auswirkungen auf die Hirnentwicklung
In Versuchen mit menschlichen neuronalen Vorläuferzellen zeigten sie, dass die RNA mit der Bezeichnung ENSG00000205704 die gegenüber Makaken veränderten Genabschnitte braucht, um aus dem Zellkern ins Zellplasma zu gelangen. Mäuse, denen sie das menschliche Gen einsetzten, entwickelten tatsächlich größere Gehirne.
Primäre Lymphome des Zentralnervensystems
Das primäre Lymphom des Zentralnervensystems ist ein spezieller Lymphdrüsenkrebs, der ausschließlich im Gehirn auftritt. Forscher haben besondere Wechselwirkungen zwischen den Krebszellen und dem Gehirn entdeckt.
Entwicklung des B-Zell-Rezeptors
Die Arbeitsgruppe hat die Entwicklung des für diese Zellen einzigartigen sogenannten B-Zell-Rezeptors detailliert charakterisiert. Der B-Zell-Rezeptor vermittelt wesentliche Signale zwischen der Umgebung der Zelle und dem Zellinneren, wobei seine spezifische Bindung an Proteine der Umgebung von zentraler Bedeutung ist.
Mutationen und Überlebensvorteil
Die bösartigen Krebszellen entwickeln sich aus Vorläuferstadien, welche körpereigene Bestandteile erkennen. Aufgrund dieser Merkmale hätten sie eigentlich im gesunden Organismus eliminiert werden müssen. Sie konnten ihrem Todessignal jedoch entgehen, weil sie bereits spezifische genetische Eigenschaften durch Mutationen erworben hatten, die ihnen einen Überlebensvorteil bieten.
Interaktion mit hirneigenen Strukturen
Für den Befall des Gehirns ist entscheidend, dass die Zelle ihren B-Zell-Rezeptor so verändert hat, dass er viele Strukturen im Gehirn erkennen kann. Dadurch ist die Zelle nun in der Lage, die Interaktion mit diesen hirneigenen Strukturen geschickt zu nutzen, um darüber Signalwege für ihr Wachstum und ihre Vermehrung zu aktivieren.
Verbindung zwischen Muskeln und Nerven
Eine aktuelle Studie hat gezeigt, dass es eine Verbindung zwischen Muskeln und Nerven gibt.
Wiederherstellung der Mobilität
Die Forschungsgruppe hatte die Mobilität von Mäusen wiederhergestellt, welche eine traumatische Muskelverletzung erlitten hatten. Das gelang, indem zunächst Muskelgewebe an der Verletzungsstelle implantiert und dann das neue Gewebe durch wiederholte Stimulation mit Licht trainiert wurde.
Biochemische Signale
Regelmäßiges Training regte den transplantierten Muskel dazu an, bestimmte biochemische Signale zu produzieren, von denen bekannt ist, dass sie das Wachstum von Nerven und Blutgefäßen fördern.
In-vitro-Experiment
In einem In-vitro-Experiment wurde ausschließlich der Zusammenhang zwischen Muskel und Nervenzelle untersucht. Das Team veränderte den Muskel genetisch so, dass er sich als Reaktion auf Licht zusammenzieht. Mit dieser Modifikation konnte das Team ein Licht wiederholt aufblitzen lassen, was den Muskel veranlasste, sich in einer Weise zusammenzuziehen, die den Vorgang des Trainings imitierte. Diese Lösung wurde schließlich in eine separate Schale mit Motoneuronen von Mäusen gegeben.