Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), von der in Deutschland mehr als 250.000 Menschen betroffen sind. Bei der MS greifen fehlgesteuerte Immunzellen die Isolierschicht (Myelin) der Nervenfasern (Axone) an, wodurch diese ungeschützt freiliegen. Gesunde Nervenfasern leiten bis zu 1000 Signale pro Sekunde an das ZNS, von wo aus rasend schnell Befehle an Muskeln und Organe gehen. Die Erkrankung manifestiert sich vielfältig, was ihr den Namen "Krankheit der tausend Gesichter" eingebracht hat. Zittrige Finger, taube Füße, Sprech- und Schluckstörungen sowie Gleichgewichtsprobleme können erste Anzeichen sein. Obwohl MS derzeit nicht heilbar ist, haben sich die Behandlungsmöglichkeiten in den letzten Jahren rasant weiterentwickelt, wodurch der Verlauf der Erkrankung günstig beeinflusst und die Lebensqualität der Betroffenen verbessert werden kann.
Ursachen und Risikofaktoren der Multiplen Sklerose
Die genauen Ursachen der MS sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird von einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren ausgegangen, wobei sowohl genetische als auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen könnten. Jüngere Studien haben mehr Umweltfaktoren als genetische Risiken identifiziert. Dazu gehören eine durchgemachte Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV), Vitamin-D-Mangel, verminderte Sonnenexposition, Ernährungsgewohnheiten mit Übergewicht, Rauchen und eine ungünstige Zusammensetzung der Darmbakterien. Frauen sind zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Männer, was auf hormonelle oder geschlechtsspezifische Lebensumstände hindeuten könnte.
Symptome, Verlauf und Diagnose der Multiplen Sklerose
MS tritt häufig unvermittelt und unerwartet auf, vorwiegend im jungen Erwachsenenalter. Die Symptome und der Verlauf der Krankheit können dabei sehr unterschiedlich sein. Häufige Symptome sind:
- Sehstörungen (Verschwommen- oder Nebelsehen, Sehausfall)
- Krämpfe, Muskelzuckungen, Schwerfälligkeit, spastische Lähmungserscheinungen
- Müdigkeit, allgemeine Mattigkeit oder Konzentrationsstörungen (Fatigue)
- Gefühlsstörungen der Haut (Kribbeln, Taubheitsgefühl)
- Unsicherheiten beim Gehen, Störungen der Bewegungskoordination
- Lähmungen oder Störungen beim Entleeren von Darm oder Blase
Meist verläuft die Erkrankung in Schüben, d.h. in Phasen mit Symptomen, die sich dann wieder zurückbilden (schubförmig-remittierende MS, RRMS). Bei etwa 10 % der Patienten schreitet die MS von Beginn an unaufhaltsam fort (primär progrediente MS, PPMS). Es gibt auch eine Mischform, die sekundär progrediente MS (SPMS), bei der sich die Symptome nach einem Schub kaum noch oder gar nicht mehr zurückbilden.
Die Diagnose der MS erfolgt anhand klarer klinischer und technischer Diagnosekriterien. Zu den wichtigsten Untersuchungsmethoden gehören die Anamnese (Befragung nach Symptomen), die neurologische Untersuchung, die Kernspintomografie (MRT) von Gehirn und Rückenmark sowie die Nervenwasseruntersuchung (Lumbalpunktion).
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Therapiemöglichkeiten der Multiplen Sklerose
Obwohl MS nicht heilbar ist, gibt es verschiedene Therapiemöglichkeiten, um den Verlauf der Erkrankung zu verlangsamen, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Die Therapie stützt sich dabei auf mehrere Säulen:
- Schubtherapie: Behandlung akuter Schübe, um Beschwerden schnell zurückzubilden. Hier kommen vor allem Kortison-Präparate zum Einsatz, die die Entzündungen eindämmen sollen. In schweren Fällen kann auch eine Plasmapherese (Blutwäsche) oder Immunadsorption durchgeführt werden.
- Verlaufsmodifizierende Therapie (Basistherapie): Reduktion der Schwere und Häufigkeit der Schübe, um die beschwerdefreie Zeit zu verlängern. Hier stehen verschiedene Medikamente zur Verfügung, die in unterschiedlicher Weise in das Immunsystem eingreifen und die Angriffe auf die Nervenzellen abschwächen. Dazu gehören Beta-Interferon-Präparate, Glatirameracetat, Fingolimod, Siponimod, Ponesimod, Ozanimod, Teriflunomid, Dimethylfumarat, Cladribin, Natalizumab, Ocrelizumab und Ofatumumab.
- Symptomatische Therapie: Linderung von MS-Beschwerden und Vorbeugung möglicher Komplikationen. Hier kommen verschiedene Medikamente und nicht-medikamentöse Verfahren zum Einsatz, um z.B. Spastik, Fatigue, Schmerzen, Blasenstörungen oder Depressionen zu behandeln.
Medikamente für die Multiple Sklerose
Für Patienten mit schubförmig verlaufender MS stehen mehrere Medikamente zur Verfügung, die den Angriff des Immunsystems auf die Nervenzellen abschwächen. Bei akuten Schüben können u.a. Cortison-Präparate die Symptome dämpfen. Zu den schon am längsten verfügbaren Basistherapeutika zählen die Betainterferon-Präparate und das synthetische Peptidgemisch Glatirameracetat; sie alle müssen regelmäßig gespritzt werden. Schlägt eins dieser Basistherapeutika an, kann das etwa ein Drittel bis die Hälfte aller neuen Schübe verhindern und die Schwere vermindern. Das Spritzen allerdings fällt manchen Patienten schwer; und die Mittel wirken nur bei rund 70% der Patienten. Etliche Patienten erleben auch belastende Nebenwirkungen wie grippeähnlichen Symptome durch die Basistherapie mit diesen Mitteln. Schon seit 2011 kamen aber auch Basistherapeutika in Tablettenform heraus, mit den Wirkstoffen Fingolimod, Siponimod, Ponesimod, Ozanimod, Teriflunomid, Dimethylfumarat und Cladribin. Diese neueren Medikamente - und darin unterscheiden sie sich nicht grundsätzlich von den älteren - eliminieren bestimmte Zellen des Immunsystems oder dämpfen ihre Aktivität, damit deren Angriffe im ZNS unterbleiben. Die genauen Wirkprinzipien, mit denen das erzielt wird, sind jedoch andere; und einige Patienten begrüßen es sehr, dass sie ihre Medikamente nicht spritzen müssen. Leiden Patienten trotzdem an einer hohen Schubrate, kann auch ein Antikörperpräparat oder ein Chemotherapeutikum (zur Schub- oder Dauerbehandlung) eingesetzt werden, was jedoch mit höheren Risiken für die Patienten durch belastende, in Einzelfällen auch schweren Nebenwirkungen verbunden sein kann. Drei Antikörperpräparate (Natalizumab, Ocrelizumab und Ofatumumab) werden in Dauertherapie eingesetzt, für ein weiteres (Alemtuzumab) genügen zwei kurze Behandlungsphasen für eine langanhaltende Wirkung.
Für Patienten mit primär-progredienter MS (PPMS) gab es lange Zeit trotz intensiver Forschung kein zugelassenes Basis-Medikament. Im Jahr 2018 kam erstmals ein solches Medikament heraus; das Präparat enthält den Antikörper Ocrelizumab und kann die Krankheitsaktivität dämpfen. Besonders bei jüngeren Betroffenen mit kürzerer Erkrankungsdauer und nachweisbarer Krankheitsaktivität kann das Fortschreiten der Erkrankung durch die Behandlung mit Ocrelizumab gebremst werden.
Innovative Therapieansätze
Neben den etablierten Therapien werden auch innovative Ansätze zur Behandlung der MS erforscht. Dazu gehören:
- Stammzelltransplantation: Bei dieser Behandlung wird das fehlgesteuerte Immunsystem zunächst komplett heruntergefahren und anschließend mit Hilfe von körpereigenen Stammzellen neu gestartet. Im UKE wird dieses Verfahren seit einigen Jahren bei MS-Patienten angewandt, wobei bei 15 von 20 Transplantierten die Krankheit zum Stillstand kam und vier Patienten beschwerdefrei wurden.
- Zelltherapie: Ziel dieser Therapie ist es, das Immunsystem der Betroffenen dazu zu bringen, seine Angriffe auf die Myelinscheide der Nervenzellen einzustellen. In einer ersten klinischen Studie wurde ein Verfahren geprüft, bei dem aus dem Blut der MS-Patienten Leukozyten entnommen und mit Myelinpeptiden gekoppelt werden. Nach Rückgabe der Zellen in den Körper entwickelten die Patienten eine Immuntoleranz gegenüber den Myelinpeptiden.
- CAR-T-Zelltherapien: Diese aus der Onkologie entliehenen Therapien werden zunehmend für Autoimmunerkrankungen wie MS erforscht.
- Forschung zur Remyelinisierung: Da die Nervenfaser-Hüllen bei MS-Betroffenen meist unvollständig oder gar nicht wiederhergestellt werden, wird intensiv nach Medikamenten gefahndet, die diese Reparatur fördern. Im Fokus stehen dabei die Mikrogliazellen des Gehirns, die durch externe Zugabe von Polysialinsäure offenbar in einen entzündungshemmenden Zustand versetzt werden können, was die Remyelinisierung fördert.
- Tolebrutinib: Dieser Wirkstoff weckt große Hoffnungen für die Therapie der MS. Studien zeigen, dass Tolebrutinib bei schubförmiger MS mindestens ebenso gut wie das Standardmedikament Teriflunomid akute Schübe reduziert und möglicherweise auch das Fortschreiten der Behinderung verlangsamt. Bei sekundär progredienter MS konnte erstmals ein signifikanter positiver Effekt auf das Fortschreiten der Behinderung gezeigt werden.
- Hemmung von SOX6: Ein US-Forschungsteam hat entdeckt, dass das Protein SOX6 wie eine Bremse wirkt und die Reifung von Oligodendrozyten blockiert, die für die Bildung der Myelinscheide zuständig sind. Durch Reduzierung von SOX6 in Mausmodellen konnte die Zellreifung gesteuert und die Myelinscheiden repariert werden.
Bedeutung von Selbsthilfe und Patientenverfügung
Neben den medizinischen Therapien spielen auch die Selbsthilfe und eine Patientenverfügung eine wichtige Rolle im Leben von MS-Patienten. Selbsthilfegruppen bieten Halt und ermöglichen den Austausch untereinander, was die Lebensqualität immens erhöht. Eine Patientenverfügung stellt sicher, dass die medizinischen Wünsche des Patienten auch in unerwarteten Situationen respektiert werden und bewahrt so die Selbstbestimmung.
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