Demenz und Antidepressiva: Wirkung, Risiken und aktuelle Studienlage

Depressionen sind eine der häufigsten psychischen Störungen im höheren Lebensalter. Angesichts der hohen Prävalenz von Depressionen, insbesondere in stationären Einrichtungen der Altenpflege, ist es von großer Bedeutung, Ärztinnen und Ärzten aktuelle Leitlinienempfehlungen für ältere Personen an die Hand zu geben - auch im Hinblick auf den Einsatz von Antidepressiva bei Demenz. Die Suizidrate ist bei Hochbetagten am höchsten - vor allem bei Männern. Dabei können späte Manifestationen depressiver Störungen ab dem 60. Lebensjahr auch organische Ursachen haben.

Depressionen bei Demenz: Ein komplexes Zusammenspiel

Bis zu 14,8 % der Personen mit Alzheimer-Krankheit und bis zu 24,7 % der Personen mit vaskulärer Demenz leiden an einer schweren depressiven Störung. Die Depression kann dabei bereits als Frühsymptom einer Demenz vom Alzheimer-Typ auftreten, wobei affektive Störungen Gedächtnisstörungen deutlich vorangehen können. Die Unterscheidung, ob es sich um eine organische affektive Störung basierend auf einer beginnenden Demenzerkrankung oder um eine reversible depressive Episode handelt, ist rein symptomatisch nicht zu treffen und erfordert eine bildgebende Diagnostik.

Antidepressiva-Einsatz bei Demenz: Eine kritische Betrachtung

Zur Behandlung von Depressionen im Alter werden häufig Antidepressiva eingesetzt, vor allem Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI). Einige Studien hinterfragen jedoch die Wirksamkeit von Antidepressiva im Falle einer Demenz und verweisen auf Nebenwirkungen. Ein Cochrane Review aus dem Jahr 2018 konnte aufgrund der unzureichenden Datenlage keine Rückschlüsse auf einzelne Antidepressiva oder auf Untertypen von Demenz oder Depression ziehen.

Ein chinesisches Review aus dem Jahr 2021 untersuchte 25 Studien mit 14 Antidepressiva. Im Vergleich zu Placebo zeigten nur Mirtazapin (Alpha-2-Antagonist) und Sertralin (SSRI) eine etwas bessere Wirkung bei Depressionssymptomen. Clomipramin (trizyklisches Antidepressivum, TZA) erhöhte das Risiko für Nebenwirkungen im Vergleich zu Placebo. Die S3-Leitlinie Demenzen (Stand 2023) spricht eine schwache Empfehlung für Mirtazapin und Sertralin bei Depression und Alzheimer-Demenz aus, betont aber die limitierte Studienlage.

Die aktuelle Version der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Depression listet die Demenz als Kontraindikation allein für die Antidepressiva der Wirkstoffgruppe TZA. Hausärztinnen und -ärzten, die diese Menschen in erster Linie versorgen, empfiehlt die NVL bei Verdacht auf Depressionen, regelhaft Symptome, Schweregrad und Verlaufsaspekte zu erfassen.

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Neue Studienergebnisse und Erkenntnisse

Zwei neuere Studien bieten neue Einblicke in die Art und Weise, wie Antidepressiva bei der Huntington-Krankheit (HK) eingesetzt werden und möglicherweise auch den kognitiven Abbau beeinflussen.

Die erste Studie untersuchte den Medikamentengebrauch bei Menschen mit der Huntington-Krankheit anhand von Daten aus Enroll-HD. Ein auffälliges Ergebnis war, dass Menschen mit der Huntington-Krankheit in den frühen Stadien durchschnittlich 2,5 Medikamente einnehmen, während sich diese Zahl mit dem Fortschreiten der Krankheit auf 5,2 verdoppelt. Die Verschreibungsmuster variieren je nach Krankheitsstadium, Geschlecht und Ort, was möglicherweise auf Unterschiede in den Behandlungsrichtlinien, kulturelle Einstellungen zu Medikamenten sowie Kosten und Verfügbarkeit von Medikamenten zurückzuführen ist. In der Anfangsphase konzentrieren sich die Ärzte möglicherweise auf Medikamente, die die Stimmung und die Angstzustände kontrollieren sollen.

Die zweite Studie befasste sich mit der Frage, ob Antidepressiva den kognitiven Abbau bei Menschen mit Demenz beeinflussen. Anhand von Daten aus dem schwedischen Register für kognitive Demenzerkrankungen wurde untersucht, ob bestimmte Antidepressiva den kognitiven Verfall beschleunigen könnten. Bei Menschen mit Demenz, die Antidepressiva - insbesondere SSRI - einnahmen, kam es zu einem schnelleren kognitiven Abbau. Besonders ausgeprägt war dieser Effekt bei Personen, die zu Beginn der Studie eine schwerere Demenz hatten. Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass einige andere Studien widersprüchliche Ergebnisse gezeigt haben.

Interessanterweise deuten die Ergebnisse auch darauf hin, dass es eine Dosis-Wirkungs-Beziehung gibt, d. h. Medikamente wie Sertralin, Citalopram und Escitalopram - weit verbreitete SSRIs - wurden am stärksten mit dem kognitiven Abbau in Verbindung gebracht. Die Studie ergab auch, dass die kognitiven Fähigkeiten von Männern unter der Einnahme von Antidepressiva stärker abnahmen als die von Frauen, obwohl Frauen diese Medikamente häufiger verschrieben werden. Darüber hinaus war der Rückgang bei Personen, die neben ihren Antidepressiva keine Medikamente gegen Angstzustände oder Schlafstörungen einnahmen, stärker ausgeprägt.

Einschränkungen und Interpretationsschwierigkeiten

Es ist wichtig zu beachten, dass die Studien Einschränkungen aufweisen. Depressionen selbst sind mit Demenz und kognitiven Beeinträchtigungen verbunden, so dass die Assoziationen zwischen der Einnahme von Antidepressiva und dem kognitiven Abbau eher auf die zugrunde liegende psychiatrische Erkrankung als auf das Medikament selbst zurückzuführen sein könnten. Der Schweregrad der Demenz selbst könnte zum kognitiven Verfall beitragen, so dass es schwierig ist, abschließend zu sagen, dass die Ergebnisse auf die Antidepressiva zurückzuführen sind. Verschiedene Formen der Demenz haben sehr unterschiedliche biologische Ursachen, und die Zusammenfassung dieser verschiedenen Arten von Demenz könnte einige der krankheitsspezifischen Wirkungen überdecken. Hinzu kommt, dass die Huntington-Krankheit eine einzigartige Krankheit ist, die wahrscheinlich ihre eigenen individuellen Auswirkungen auf bestimmte Medikamente hat. Schließlich untersuchen diese Studien Assoziationen, nicht Kausalitäten, und weisen erhebliche Einschränkungen auf.

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Individuelle Therapieansätze sind entscheidend

Die Studien verdeutlichen die schwierige Gratwanderung bei der Verschreibung von Medikamenten für neurodegenerative Erkrankungen auf der Grundlage der individuellen Situation. Sie unterstreichen die Notwendigkeit eines durchdachten, individuellen Ansatzes, der auf der Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Patienten und Pflegepersonal beruht. Für viele Menschen mit der Huntington-Krankheit ist das kurzfristige Risiko von Depressionen oder herausfordernden Verhaltensweisen enorm - dies sind Symptome, die nur allzu leicht zu Verletzungen, Selbstverletzungen und vorzeitigem Tod führen können. Die Gespräche zwischen den Familien der Huntington-Patienten und den Ärzten sollten offen und ehrlich geführt werden, damit die Kliniker wachsam bleiben und die Behandlungspläne auf der Grundlage der neuesten Forschungsergebnisse und der sich verändernden Bedürfnisse der einzelnen Patienten anpassen können.

Insbesondere bei der Huntington-Krankheit ist die Einnahme von Medikamenten unglaublich häufig und wird mit fortschreitender Krankheit immer häufiger und komplizierter. Es ist wichtig, dass Patienten und Familien informiert bleiben, Fragen stellen und eng mit ihren Ärzten zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass die Behandlungen auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmt sind.

Meta-Studie: Keine eindeutige Wirkung von Antidepressiva bei Demenz

Depressionen und Demenz sind für Ältere und deren Betreuungspersonen eine große gesundheitliche Herausforderung. Obwohl Antidepressiva empfohlen werden, ist deren Wirkung bei depressiven Menschen mit Demenz nach wie vor unklar. In einer Übersichtsarbeit konnten Forschende aus Bern und Ulm keinen Nachweis für einen klinischen Effekt von Antidepressiva finden. Ursachen könnten die Strukturveränderungen im Gehirn sein, die mit Demenz einhergehen.

Die Forschenden interessierten sich vor allem für die Wirkung von Antidepressiva aller Art auf das Ausmaß depressiver Symptome sowie auf den kognitiven Zustand, die Lebensqualität und die Funktionalität der Betroffenen. Die Untersuchungsergebnisse konnten eine Wirkung der Antidepressiva aufgrund der untersuchten Studien nicht bestätigen. Dennoch gilt die Beweissicherheit der Ergebnisse nur als mäßig.

Das Fehlen einer eindeutigen Wirksamkeit könnte darauf hindeuten, dass eine Depression bei älteren Erwachsenen mit Demenz anders entsteht. Eine Rolle dabei spielen möglicherweise zerebrale Strukturveränderungen, die mit den verschiedenen Formen der Demenz einhergehen sowie die Dysregulation von Neurotransmittern, ein geänderter Stoffwechsel und eine veränderte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke.

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Potenziell ungeeignete Medikation und Demenzrisiko

Bestimmte Antidepressiva, die im Alter vermieden werden sollten, werden im Projekt der Priscus-Liste dokumentiert. Eine Forschergruppe verschiedener deutscher Universitäten analysierte die Daten einer prospektiven Kohortenstudie nicht dementer Patienten (3239 Patienten) im mittleren Alter von 80 Jahren und schätzte das Risiko für eine Demenz auf der Basis von Folgeuntersuchungen. Die Daten zeigten, dass die Antidepressiva mit einem erhöhten Risiko für eine spätere Demenz einhergingen. Dieser Effekt wurde allein mit den nicht angebrachten antidepressiven Behandlungen gefunden. Antidepressiva, die aufgrund der entsprechenden Depressionsdiagnostik sinnvoll waren, zeigten kein erhöhtes Risiko in den Folgejahren.

Die Studie deutet damit auf ein grundlegendes Problem bei der Behandlung hin: kann man mehr schaden, wenn ein nicht altersgerechtes Medikament gewählt wird? Im Fall von Antidepressiva, die beim älteren Menschen besonders ungünstige Nebenwirkungen haben, scheint dies nun etwas klarer zu sein - die derart fehlbehandelten Patienten können in der Folge häufiger eine Demenzerkrankung erleiden. Welche Mechanismen eine solche Schädigung bewirken können, ist noch nicht abschließend geklärt. Blutdruckerhöhende Nebenwirkungen durch das sogenannte anticholinerge System, beispielsweise, könnten zu Schäden an kleinen Blutgefäßen im Gehirn führen und in der Folge zu entzündlichen Prozessen, die mit Demenzsymptomen enden können.

Antidepressiva und kognitiver Abbau bei Demenzpatienten

Eine Studie im Fachjournal "BMC Medicine" warnt, dass bestimmte Antidepressiva bei Demenzpatienten womöglich den kognitiven Abbau beschleunigen können. Das Forschungsteam betont, dass die Verschreibung für jeden Patienten gründlich geprüft werden müsse. Entsprechende Hinweise habe es auch zuvor schon gegeben, vor allem für Trizyklische Antidepressiva (TZA), die daher bei Demenzkranken nicht verwendet werden sollten.

In die Analyse waren knapp 19.000 Menschen mit einem Durchschnittsalter von 78 Jahren einbezogen worden, bei denen eine Demenz neu diagnostiziert wurde und denen bis zu sechs Monate vor der Demenzdiagnose Antidepressiva verschrieben worden waren. Während der Nachbeobachtungszeit von im Mittel 4,3 Jahren erhielten 23 Prozent der Patienten ein neues Rezept für ein Antidepressivum. Überwiegend handelte es sich um SSRI (65 Prozent der Verschreibungen). Höhere SSRI-Dosen waren mit einem höheren Risiko für eine schwere Demenz verbunden, definiert als eine stärkere Verschlechterung der MMST-Werte eines Patienten. Die Studie lieferte zudem Hinweise auf ein höheres Risiko für Knochenbrüche und eine höhere Gesamtmortalität bei Patienten, denen bei oder nach der Demenzdiagnose mindestens ein SSRI-Antidepressivum verschrieben wurde.

Die komplexe Beziehung zwischen Depression und Demenz

Ein großer Teil der Demenzerkrankten zeigt Symptome, wie sie auch für eine Depression typisch sind, wie Schlafstörungen, geringeren Appetit, Unruhe, Aggressivität oder traurige Stimmung. Derzeit gingen Ärzte davon aus, dass SSRI- und sogenannte SNRI-Antidepressiva keine schädlichen Folgen für Demenzerkrankte haben, sagte Fließbach, Neurowissenschaftler am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn. Verwendet würden sie zum Beispiel bei Unruhe, gestörter Impulskontrolle oder eben der bereits erwähnten Apathie. Auch schon zu Beginn einer Demenz würden Antidepressiva in Deutschland nach wie vor häufig verschrieben, erläuterte Berlit.

Die Symptome der Depression können selbst schon zur Verschlechterung der Demenz beitragen. Die Ergebnisse sind extrem schwer zu interpretieren. Es sollte streng geprüft werden, ob wirklich eine Notwendigkeit besteht. Dies sei auch aufgrund der möglichen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten stets geboten.

Risiken der Polypharmazie bei Demenzpatienten

Eine Querschnittsstudie in einem großen psychiatrischen Fachklinikum der Pflichtversorgung untersuchte die Dauermedikation der Psychopharmaka und somatischen Medikamente bei Demenzpatienten, um eine Einsicht in das Risiko häufiger Komplikationen der Demenzbehandlung mit Psychopharmaka zu erhalten und gegebenenfalls eine „Negativauswahl“ vornehmen zu können.

Die häufigsten Komplikationen aus 999 ausgewerteten Aufenthalten waren schwere pulmonale Infekte (2,6 %), schwerwiegende Sturzfolgen (2,1 %), sowie kardiale (1,5 %) und gastrointestinale Ereignisse (1,5 %). Der wichtigste Indikator für Komplikationsrisiken in der stationären Akutbehandlung ist die Polypharmazie. Dies ließ sich in Bezug auf pulmonale Infekte und vor allem für kardiale Ereignisse darstellen, wobei sich ab drei Psychopharmaka das kardiale Komplikationsrisiko signifikant zum Behandlungsdurchschnitt erhöhte. Die Gesamtmedikamentenzahl sollte acht verschiedene Wirkstoffe nicht überschreiten. Vereinfacht würde sich die Faustregel 2 + 6 anbieten. Dabei sind niedrige Dosierungen zu wählen und eine antidepressive Medikation in therapeutischer Dosis in Kombination mit weiterer Psychopharmazie zu vermeiden, insbesondere mit Antipsychotika. Die Kombination aus Antidepressivum und Antipsychotikum erhöhte deutlich das kardiale Risiko. Zudem zeigte sich die dosisabhängige Risikoerhöhung für Lorazepam bei schwerwiegenden Sturzfolgen bei fester Dosierung von über 1 mg/Tag.

Fast 13 % aller Aufenthalte waren von Psychopharmaka-assoziierten Komplikationen betroffen. Über 60 % davon waren schwere pulmonale Infektionen (2,6 % aller Aufenthalte), schwerwiegende Sturzfolgen (2,1 % aller Aufenthalte) sowie gastrointestinale und kardiale Ereignisse (jeweils 1,5 % aller Aufenthalte).

Zum zeitlichen Verlauf der Komplikationen in der stationären Akutbehandlung ist anzumerken, dass die meisten Komplikationen innerhalb der ersten sieben Tage der stationären Behandlung auftraten. Bemerkenswert ist, dass bereits 12 % aller Komplikationen der Stichprobe innerhalb von 24 Stunden zur Verlegung in ein anderes Krankenhaus führten, was dafür spricht, dass diese Patienten in bereits schwer körperlich erkranktem Zustand in die stationäre Behandlung kamen und dass Verhaltensauffälligkeiten bei Demenzpatienten auch auf nichtzerebrale körperliche Ursachen zu prüfen sind.

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