Immer wieder wird in Fachkreisen ein Zusammenhang zwischen Schwerhörigkeit, Tinnitus und dem individuellen Demenz-Risiko diskutiert. Hörstörungen beeinflussen die kognitiven Fähigkeiten negativ. Fehlen die akustischen Reize von außen und die Interaktion mit der Umwelt, lässt die Gehirnleistung nach. Dieser Artikel beleuchtet die aktuellen Erkenntnisse zu diesem Thema und zeigt auf, welche präventiven Maßnahmen ergriffen werden können.
Schwerhörigkeit und kognitive Leistungsfähigkeit
Rbb Praxis sprach über die Zusammenhänge von Schwerhörigkeit und Demenz mit Dr. Petra Brüggemann. Es gibt viele Menschen, die schon viele Jahre mit einer Schwerhörigkeit leben und die müssen jetzt keine Angst haben, dass die Demenz wie ein "Damoklesschwert" über ihnen hängt. Es gibt aber aus Tierversuchen und auch aus Studien mit Menschen immer mehr Hinweise darauf, wie Hören in unserem Hirn funktioniert. Wenn ein Mensch nicht gut hört, resultieren Veränderungen im Lernen und im Abspeichern von Informationen daraus. Das schlechtere Hören kann dazu führen, dass Lernprozesse verlangsamt sind und Informationen nicht so gut abgespeichert werden. Das ist ein altersunabhängiger Prozess; das passiert auch schon bei Kindern, die nicht gut hören. Daher spricht man eher von einem Zusammenhang zwischen Schwerhörigkeit und kognitiver Leistungsfähigkeit.
Es gibt unterschiedliche Grade von Schwerhörigkeit, die bei einer Hörminderung von zehn bis 15 Dezibel beginnen und bei einer annähernden Ertaubung enden. Sicher ist, dass die Prozesse der kognitiven Leistungseinschränkung umso schneller ablaufen, je stärker ausgeprägt die Schwerhörigkeit ist. Umgekehrt gilt vielmehr: Wenn Sie im alltäglichen Leben Einschränkungen durch Ihre Hörfähigkeit spüren, besonders, wenn Sie anfangen, sich aus Gesprächen zurückzuziehen, wenn mehrere gleichzeitig sprechen, wenn es Ihnen unangenehm ist, immer nachzufragen, dann scheint eine Grenze erreicht zu sein, wo man in jedem Fall etwas tun sollte.
Eine Schwerhörigkeit kann ja sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Im Alter entwickeln viele Menschen eine Hochton-Schwerhörigkeit. Ausschlaggebend ist aber immer das Sprachverstehen, wenn sie dort Einschränkungen haben, dann sollte das mit einem Hörgerät behandelt werden. Diese Schwelle ist aber nicht unbedingt am Audiogramm, also dem Ergebnis des Hörtests abzulesen. Es gibt zwar Richtlinien, dass ab 25 Dezibel Hörminderung in bestimmten Frequenzen versorgt werden sollte, aber da spielt das subjektive Empfinden der Menschen immer eine große Rolle.
Die Rolle des Tinnitus
Ungefähr vierzig Prozent aller Menschen mit einer Hörminderung entwickeln auch einen Tinnitus. Meistens kommen sie dann auch wegen des störenden Ohrgeräusches zum HNO-Arzt und nicht nur wegen der Hörminderung, die oft lange verdrängt wird. Ein Tinnitus kann die ganze Situation dadurch verschlechtern, dass er bei vielen Betroffenen zu begleitenden Belastungen wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Stress und unter Umständen auch zu Depressionen führt. Dadurch ziehen sich manche Betroffene zusätzlich aus sozialen Zusammenhängen zurück, was weder für die kognitive Leistungsfähigkeit noch für den Tinnitus gut ist.
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Wenn man sich als Schwerhöriger für ein Hörgerät entscheidet, dann hat man oftmals auch etwas gegen den Tinnitus getan. Denn: bekommt das Hörsystem wieder Stimulation, weil ein Hörgerät getragen wird, tritt der Tinnitus bei rund 80 Prozent auch wieder in den Hintergrund. Falls das nicht erfolgt oder ausreicht, kann bei einem chronischen Tinnitus eine sogenannte multimodale Therapie helfen. Dabei wird individuell über Beratungsgespräche diagnostiziert, was zur Auslösung oder Verstärkung des Tinnitus beigetragen hat. Es werden Techniken unter anderem zur körperlichen Entspannung und zur Stressregulation vermittelt. Zudem wird den Betroffenen erklärt, dass sie selbst etwas gegen das Ohrgeräusch tun müssen und es keine "Pille" gibt, die man einfach einnehmen kann.
Die Auswirkungen von Hörverlust auf das Gehirn
Wenn das Gehör nachlässt, muss das Gehirn mehr leisten, um Sprache zu verstehen. Es verarbeitet ständig unvollständige Informationen, was langfristig kognitive Reserven erschöpft. Das Sprachzentrum wird weniger gefordert, während andere Areale überlastet werden - dies führt zu kognitiver Unterforderung in manchen Bereichen und Überforderung in anderen. Je länger ein Hörverlust unbehandelt bleibt, desto schwerer ist der geistige Rückgang zu bremsen.
Studien haben gezeigt, dass die Leistungsfähigkeit des Gehirns von Schwerhörigen gegenüber normal Hörenden deutlich schneller nachlässt. Selbst bei einer leichten Hörminderung sind Beeinträchtigungen möglich. Forscher gehen davon aus, dass die eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit sowie der Entzug von äußeren Sinnesreizen mit schuld am geistigen Abbau sind. Denn der akustische Cortex, der im Gehirn für die Verarbeitung von Höreindrücken zuständig ist, ist unmittelbar mit Gebieten verknüpft, die für Lernen und Gedächtnis zuständig sind. Bei Menschen, die schlecht hören, verändern sich die Lernvorgänge im Gehirn. Das Abspeichern von Informationen etwa ist erschwert. Dieser Abbau von Gehirnleistung findet in jedem Lebensalter statt, wenn das Gehör nicht richtig funktioniert. Es ist ein altersunabhängiger Prozess. Je stärker die Schwerhörigkeit ausgeprägt ist, desto schneller wird die kognitive Leistungsfähigkeit in Mitleidenschaft gezogen.
Studien und Forschungsergebnisse
Laut der Johns Hopkins Universität (USA) erhöht ein unbehandelter mittlerer Hörverlust das Demenzrisiko um bis zu 200 %. Ein schwerer Hörverlust sogar um über 500 %. Auch der deutsche Neurowissenschaftler Prof. Dr. med. Frank Huppertz warnt: 'Hörverlust kann ein stiller Risikofaktor für Alzheimer sein, wenn er nicht frühzeitig erkannt wird.' Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht in frühzeitiger Hörgeräteversorgung eine der wichtigsten Maßnahmen zur Demenzprävention im Alter.
Ein Forschungsteam hat rückblickend (retrospektiv) anhand eines Datensatzes von 2.616 Patientinnen untersucht, ob ein Tinnitus ein Anzeichen für eine früh einsetzende Demenz ist. Im Rahmen ihrer Untersuchung kamen die Forscherinnen zu dem Ergebnis, dass bei 281 Patientinnen (21,5 %) mit einer früh einsetzenden Demenz im Vergleich zu 190 Patientinnen (14,5 %) ohne eine Demenzdiagnose ein Tinnitus bestand. Diese Analysen deuten darauf hin, dass bei Patientinnen mit einem bereits vorhandenen Tinnitus im Vergleich zu Patientinnen ohne Tinnitus ein 63 % höheres Risiko besteht, im Alter von 30 bis 64 Jahren von einer Demenz betroffen zu sein.
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Allerdings bleibt die Frage offen, inwieweit Schlafmangel und Depressionen hier eine Mediatorenrolle einnehmen. Menschen mit Tinnitus leiden aufgrund des Tinnitus häufiger unter Depressionen und Schlafmangel. Beides gilt unabhängig voneinander als Risikofaktor für eine spätere Demenzerkrankung.
Eine dänische Studie, die Anfang 2024 im Fachjournal »JAMA Otolaryngology - Head & Neck Surgery« publiziert wurde, unterstreicht diese vorsichtigere Einschätzung. Menschen mit audiometrisch diagnostiziertem Hörverlust erkrankten laut der Studie häufiger an einer Demenz als Hörgesunde und das Risiko war geringer, wenn sie ein Hörgerät verwendeten. Allerdings unterstreicht die Gruppe um Manuella Lech Cantuaria von der Universität von Süddänemark, dass das Risiko deutlich geringer war als in früheren Studien, und fordert mehr qualitativ hochwertige Longitudinalstudien.
Die Studienautoren um Dr. Nicholas S. Reed von der Johns Hopkins University untersuchten Daten von mehr als 2.400 Erwachsenen im Alter von 65 Jahren und älter, die über einen Zeitraum von fast 10 Jahren begleitet wurden. Die zentrale These: Wenn Menschen bereits andere Risikofaktoren für Demenz mitbringen - wie etwa Bluthochdruck, Diabetes, Rauchen oder niedrige Bildung - kann eine unbehandelte Schwerhörigkeit den kognitiven Abbau zusätzlich beschleunigen. In der Subgruppe der Personen mit erhöhtem Demenzrisiko war unbehandelter Hörverlust bei etwa 33% der später auftretenden Demenzfälle potenziell mitverantwortlich.
Frühzeitige Intervention und Prävention
Ja, wir wissen wenn Kinder oder ältere Menschen durch ein Hörgerät oder andere Möglichkeiten wie ein Cochlea-Implantat wieder gut hören, dann kehren sich die negativen Veränderungen im Gehirn wieder um. Das Gehirn besitzt die Fähigkeit, sich durch Anregungen und Reize von außen, wieder neu zu organisieren.
Ein frühzeitiger Hörtest ist eine einfache, schmerzfreie Maßnahme - mit großer Wirkung für Ihre geistige Gesundheit. Studien zeigen, dass Menschen mit Hörgeräten seltener an Demenz erkranken. Je früher ein Nachlassen des Hörvermögens erkannt und entsprechend behandelt wird, etwa durch die Verwendung von Hörgeräten, desto besser ist das für das Gehirn.
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Die präventive Bedeutung von Hörsystemen könnte in der medizinischen Versorgung älterer Menschen weiter an Relevanz gewinnen. Ein gutes Hörvermögen und die geistige Fitness hängen unweigerlich zusammen. Wer über Jahre in einen schleichenden Hörverlust hineinsteuert, erhöht das Risiko, an Demenz zu erkranken.
Einem »The Lancet«-Bericht von 2024 zufolge könnten 45 Prozent der Demenzerkrankungen verhindert oder deutlich verzögert werden, wenn 14 modifizierbare Risikofaktoren vollständig ausgeschaltet würden. Dabei identifizierten die Forschenden die Schwerhörigkeit im mittleren Alter neben hohem LDL-Cholesterol als wichtigsten Risikofaktor.
Tinnitus als Warnzeichen?
Tinnitus kann zu den ersten Warnzeichen gehören, dass mit dem Gehör etwas nicht stimmt. Tinnitus ist keine eigenständige Erkrankung, sondern ein Symptom, das durch verschiedene Einflussgrößen und Erkrankungen ausgelöst wird. So kann unter anderem ein Hörsturz oder ein Knalltrauma zu den unangenehmen Geräuschen im Ohr führen. Auch Schwerhörigkeit und Tinnitus hängen zusammen: Bei einem Großteil der Menschen, die schlecht hören, entsteht irgendwann das Pfeifen im Ohr.
Wie genau Schwerhörigkeit und Tinnitus miteinander in Verbindung stehen, ist wissenschaftlich noch nicht vollständig geklärt. Klar aber ist: Tinnitus ist ein häufiger Begleiter einer Hörminderung beziehungsweise einer Schwerhörigkeit. Oftmals sind die Geräusche im Ohr sogar ein erster Hinweis auf eine beginnende, bisher unerkannte Schädigung des Gehörs. Viele, die wegen Tinnitus einen Arzt aufsuchen, bekommen eine verminderte Hörleistung diagnostiziert. Aber: Tinnitus selbst macht nicht schwerhörig.
Wer Tinnitus wahrnimmt, sollte einen Hörtest machen und auch in Folge sein Hörvermögen regelmäßig kontrollieren lassen, damit eine Beeinträchtigung frühzeitig erkannt und entsprechend behandelt wird. Hörgeräte können die akustischen Fähigkeiten unterstützen und helfen in vielen Fällen auch, die Ausprägungen des Tinnitus zu verbessern.
Überlappende Symptome und soziale Auswirkungen
»Hörverlust und Demenz haben oft überlappende Symptome«, sagte Professor Dr. Jan Löhler, Präsident des Deutschen Berufsverbands der Hals-Nasen-Ohrenärzte, kürzlich bei einem Seminar von DigiDem, dem digitalen Demenzregister Bayern. Dazu gehören unter anderem der soziale Rückzug und die Fehleinschätzung sozialer Situationen, weil der Mensch meint, die anderen redeten über ihn und nicht mit ihm, oder weil er Ironie in der Stimme nicht mehr erkennt. Niedergeschlagenheit, Ängstlichkeit und Kommunikationsprobleme sind weitere Symptome, die sowohl Demenz als auch Schwerhörigkeit anzeigen können.
Zudem gehen Schwerhörigkeit und Tinnitus häufig mit Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Stress und unter Umständen auch Depressionen einher. Viele Betroffene ziehen sich zurück und sind sozial isoliert. Die Möglichkeiten, sich mit anderen auszutauschen und aktiv zu sein, sind stark eingeschränkt. Für die kognitive Leistungsfähigkeit ist das ein Risiko.
Multimorbidität und Tinnitus
Das Ohrgeräusch beeinträchtigt nicht nur das Gehör, sondern auch Psyche, Schlaf und soziale Aspekte. Ein Tinnitus zieht oft weitere Erkrankungen nach sich. Neben Hörminderungen treten psychische Leiden wie Depressionen, Angst- und Belastungsstörungen sowie somatoforme Störungen auf. Diese Multimorbidität hat weitreichende Folgen auf kognitiver, emotionaler, sozialer und psychologischer Ebene. Kognitive und emotionale Beeinträchtigungen wie Konzentrationsprobleme oder negative Selbstwahrnehmung stehen bei Tinnituskranken häufig im Vordergrund. Auf der Verhaltensebene sind Beziehungsprobleme und soziale Isolation typisch. Schlafstörungen, Stress und psychische Belastungen verstärken die Problematik zusätzlich.
Der Hörverlust ist überdurchschnittlich häufig eine Komorbidität und ein mittlerer Prädiktor für die Entwicklung eines chronischen Tinnitus. Hippocampus und Gyrus parahippocampus zeigen bei der Kombi von Hörverlust und Ohrgeräusch eine vermehrte Aktivierung, was die Chronifizierung beeinflusst. Während der ersten beiden Coronawellen wurde ein Anstieg von auditorischen Symptomen und Schwindel in Deutschland beobachtet. Auch die Hyperakusis tritt vermehrt im Gefolge eines Tinnitus auf, 40 % der Menschen mit dem Ohrgeräusch leiden darunter. Viele Tinnituskranke leiden gleichzeitig unter Schlafproblemen, vor allem, wenn parallel eine Depression vorliegt.
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