Krankengymnastik auf neurologischer Basis: Ein umfassender Überblick

Einführung

Die Krankengymnastik auf neurophysiologischer Basis, oft auch als neurologische Krankengymnastik oder KG-ZNS (Krankengymnastik für das zentrale Nervensystem) bezeichnet, ist ein spezialisierter Bereich der Physiotherapie. Sie konzentriert sich auf die Rehabilitation von Patienten mit neurologischen Erkrankungen und Verletzungen. Ziel ist es, die motorischen Fähigkeiten, das Gleichgewicht, die Koordination und die Selbstständigkeit im Alltag wiederherzustellen oder zu verbessern. Dieser integrative Ansatz nutzt die Prinzipien der Neuroplastizität, um die Anpassungsfähigkeit des Gehirns zu fördern und verlorene Funktionen wiederzugewinnen.

Grundlagen der Neurophysiologischen Krankengymnastik

Neurophysiologie und Neuroplastizität

Die Neurophysiologie, das Studium des Nervensystems und seiner Funktionen, bildet die wissenschaftliche Grundlage für diese Therapieform. Sie befasst sich mit den neuronalen Prozessen, die Bewegungen, Empfindungen, Denken und Verhalten steuern. Ein zentrales Konzept ist die Neuroplastizität, die Fähigkeit des Gehirns, sich als Reaktion auf Erfahrungen, Lernen oder Schädigungen zu verändern und anzupassen. Diese Anpassungsfähigkeit ermöglicht es, durch gezielte Übungen und Techniken neue neuronale Verbindungen zu bilden und verlorengegangene Funktionen wiederzuerlangen oder zu kompensieren.

Bedeutung der Diagnostik

Eine ausführliche Diagnostik ist die Grundlage jeder neurologischen Krankengymnastik. Dabei werden die individuellen Bedürfnisse des Patienten erfasst und ein passgenauer Behandlungsplan erstellt. Die Analyse umfasst die Körperhaltung, Muskelspannung, Koordination, Beweglichkeit und die Einschränkungen im Alltag.

Techniken und Methoden

Die Krankengymnastik auf neurophysiologischer Basis bedient sich verschiedener Techniken und Methoden, die individuell auf den Patienten abgestimmt werden. Zu den bekanntesten und am häufigsten angewandten Konzepten gehören:

  • Bobath-Konzept
  • Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF)
  • Affolter-Modell
  • E-Technik (Entwicklungskinesiologie)

Bobath-Konzept

Das Bobath-Konzept, entwickelt von Berta und Karel Bobath, ist ein ganzheitlicher Ansatz zur Rehabilitation von Menschen mit neurologischen Erkrankungen. Es basiert auf der Annahme, dass neurologische Störungen des zentralen Nervensystems, die sich häufig durch veränderte Muskelspannung und abnorme Bewegungsmuster äußern, durch immer wiederkehrende Reize und normale Bewegungsabläufe so beeinflusst werden können, dass eine annähernd normale Bewegungsentwicklung stimuliert werden kann und das Gehirn des Patienten sich „umorganisiert“.

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Ziele des Bobath-Konzepts:

  • Hemmung abnormaler Bewegungsmuster
  • Förderung normaler Bewegungen
  • Verbesserung der Muskelspannung
  • Schmerzlinderung
  • Förderung der Alltagskompetenzen

Die Therapeuten nutzen spezifische Lagerungs- und Handhabungstechniken, um normale Bewegungen zu fördern und die natürlichen Bewegungsmuster wiederherzustellen und zu stabilisieren. Ein zentraler Aspekt ist die Neuroplastizität, die Fähigkeit des Gehirns, sich an Veränderungen anzupassen und neue Verbindungen zu bilden. Durch gezielte Übungen und Anregungen werden neuronale Prozesse aktiviert, die das Lernen und die Wiederherstellung motorischer Funktionen unterstützen.

Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF)

Die PNF-Methode nutzt propriozeptive Reize, um die neuromuskuläre Kontrolle und Koordination zu verbessern. "Propriozeptiv" bezieht sich auf die Wahrnehmung von Körperbewegung und -lage im Raum. Diese Technik umfasst spezielle Bewegungsmuster und Widerstandsübungen, die die Muskelkraft, Flexibilität und das Gleichgewicht fördern.

Prinzipien der PNF:

  • Dreidimensionale Bewegungsmuster
  • Widerstand
  • Dehnung
  • Manuelle Kontakte
  • Verbale Anweisungen
  • Visuelle Reize

Ziel der PNF-Methode ist es, das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln durch Stimulation der Bewegungsfühler zu erleichtern. Dabei wird die vollständige Wiederherstellung der Bewegungsmuster angestrebt. Ist dies nicht mehr möglich, entwickelt der Therapeut mit dem Patienten eine ähnliche Bewegung, die dem gleichen Ziel dient.

Affolter-Modell

Das Affolter-Modell, entwickelt von der Schweizer Ergotherapeutin Dr. Elsbeth Affolter, betont die Bedeutung der taktilen und kinästhetischen Wahrnehmung bei der Rehabilitation von Patienten mit neurologischen Störungen. Es verwendet geführte Bewegungen und taktile Reize, um die sensorische Integration und die motorische Kontrolle zu verbessern.

Kernpunkte des Affolter-Modells:

  • Geführte Interaktion: Der Therapeut führt die Hand des Patienten, um ihm zu ermöglichen, die Umwelt aktiv zu erkunden und zu erfahren.
  • Taktile und kinästhetische Reize: Durch Berührung und Bewegung werden sensorische Informationen vermittelt, die die Wahrnehmung und die motorische Planung verbessern.
  • Alltagsbezug: Die Therapie konzentriert sich auf alltagsrelevante Aktivitäten, um die Selbstständigkeit des Patienten zu fördern.

E-Technik (Entwicklungskinesiologie)

Die E-Technik, basierend auf der Entwicklungskinesiologie, rekonstruiert Grundbewegungsmuster im Sinne der Reflexlokomotion durch Bahnung und integriert sie in die Alltagsmotorik. Die Reflexlokomotion beschreibt den Weg des Säuglings in den aufrechten Stand. Die Muster „Kriechen“ und „Drehen“ bilden die Startpositionen für die E-Technik.

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Vorteile der E-Technik:

  • Rekonstruktion von Grundbewegungsmustern
  • Integration in die Alltagsmotorik
  • Hoher Wiedererkennungswert für das zentrale Nervensystem
  • Wenige Kontraindikationen

Aktionsverstärker sind unter anderem gezielte Muskeldehnungsimpulse, die überwiegend mit dem Kleinfingerballen oder den Fingerkuppen weich und mit leichter Drehung in das zu verändernde Gebiet „gesetzt“ werden.

Indikationen und Anwendungsbereiche

Die Krankengymnastik auf neurophysiologischer Basis findet Anwendung bei einer Vielzahl von neurologischen Erkrankungen und Verletzungen. Dazu gehören:

  • Schlaganfall
  • Multiple Sklerose (MS)
  • Parkinson-Krankheit
  • Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
  • Rückenmarksverletzungen
  • Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
  • Zerebralparese
  • Polyneuropathien
  • Zentrale Bewegungsstörungen

Schlaganfall

Nach einem Schlaganfall können Patienten Lähmungen, Koordinationsstörungen und Sprachprobleme entwickeln. Die neurophysiologische Physiotherapie zielt darauf ab, die motorischen Funktionen zu verbessern, die Selbstständigkeit zu erhöhen und die Lebensqualität der Patienten zu fördern.

Ziele der Therapie:

  • Wiederherstellung der motorischen Fähigkeiten
  • Verbesserung der Koordination und des Gleichgewichts
  • Reduktion von Spastiken
  • Schmerzlinderung
  • Förderung der Selbstständigkeit im Alltag

Multiple Sklerose (MS)

Multiple Sklerose ist eine chronische Erkrankung, die das zentrale Nervensystem betrifft und zu einer Verschlechterung der motorischen und sensorischen Funktionen führen kann. Durch gezielte Übungen und Techniken kann die Krankengymnastik auf neurophysiologischer Basis helfen, die Symptome zu lindern und die Mobilität zu erhalten.

Therapeutische Ansätze:

  • Erhaltung der Muskelkraft und Ausdauer
  • Verbesserung der Koordination und des Gleichgewichts
  • Reduktion von Fatigue
  • Anpassung an Hilfsmittel

Parkinson-Krankheit

Die Parkinson-Krankheit ist eine neurodegenerative Erkrankung, die durch Zittern, Steifheit und Bewegungsverlangsamung gekennzeichnet ist. Die neurophysiologische Physiotherapie kann dazu beitragen, die Beweglichkeit zu verbessern, das Gleichgewicht zu fördern und die Sturzgefahr zu verringern.

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Behandlungsschwerpunkte:

  • Verbesserung der Beweglichkeit und Koordination
  • Erhaltung der Muskelkraft
  • Gleichgewichtstraining
  • Gangschulung
  • Förderung der Selbstständigkeit im Alltag

Schädel-Hirn-Trauma (SHT)

Ein Schädel-Hirn-Trauma kann zu schweren motorischen und kognitiven Beeinträchtigungen führen. Die Krankengymnastik auf neurophysiologischer Basis zielt darauf ab, die neuronale Erholung zu fördern, die motorischen Funktionen wiederherzustellen und die Selbstständigkeit der Patienten zu erhöhen.

Rehabilitationsziele:

  • Wiederherstellung der motorischen Fähigkeiten
  • Verbesserung der Koordination und des Gleichgewichts
  • Reduktion von Spastiken
  • Förderung der kognitiven Funktionen
  • Anpassung an Hilfsmittel

Rückenmarksverletzungen

Bei Rückenmarksverletzungen kann es zu Lähmungen und sensorischen Verlusten kommen. Die neurophysiologische Physiotherapie nutzt spezifische Techniken, um die Muskelkraft, die sensorische Wahrnehmung und die Funktionalität der betroffenen Körperteile zu verbessern.

Therapeutische Maßnahmen:

  • Kräftigung der vorhandenen Muskulatur
  • Erlernen von Kompensationsstrategien
  • Anpassung an Hilfsmittel (z.B. Rollstuhl)
  • Förderung der Selbstständigkeit im Alltag

Der Behandlungsprozess

Ärztliche Verordnung und Therapeutenwahl

In der Regel beginnt die neurologische Krankengymnastik mit einer ärztlichen Verordnung, meist von einem Neurologen, Rehabilitationsmediziner oder Orthopäden. Auch Hausärzte können bei Bedarf eine Verordnung ausstellen. Wichtig ist, dass der Physiotherapeut eine spezielle Weiterbildung im Bereich der neurologischen Rehabilitation (KG-ZNS) absolviert hat.

Individuelle Therapieplanung

Nach der Verordnung erfolgt eine ausführliche Untersuchung und Befundaufnahme durch den Physiotherapeuten. Auf Basis dieser Informationen wird ein individueller Therapieplan erstellt, der auf die spezifischen Bedürfnisse und Ziele des Patienten zugeschnitten ist.

Durchführung der Therapie

Die Therapie selbst besteht aus einer Vielzahl von Übungen und Bewegungen, die darauf abzielen, die motorischen Fähigkeiten des Patienten zu verbessern und gleichzeitig die Wahrnehmung und das Körperbewusstsein zu schärfen. Im Rahmen der neurologischen Krankengymnastik ist es auch wichtig, die Patienten auf ihre Alltagsbewegungen vorzubereiten und sie auf die Bewältigung von Herausforderungen im täglichen Leben zu trainieren.

Multidisziplinäre Zusammenarbeit

Die neurologische Rehabilitation ist ein komplexer Prozess, der oft die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen erfordert. Neben der Physiotherapie können auch Ergotherapie, Logopädie, Neuropsychologie und medizinische Betreuung Teil des Behandlungsteams sein.

Einbeziehung der Angehörigen

Die Einbeziehung der Angehörigen ist ein wichtiger Bestandteil der neurologischen Rehabilitation. Sie werden geschult, um die Patienten im Alltag bestmöglich zu unterstützen und die gelernten Übungen effektiv umzusetzen.

Ist die KG-ZNS schmerzhaft?

Alle neurologischen Behandlungsformen der KG-ZNS sind schmerzfrei. Viel mehr müssen sie schmerzfrei sein. Gerade bei zentralen Störungen unseres Nervensystems kann es durch Schmerzen zu Krämpfen oder noch gravierender zu Spastiken kommen. Die Spastiken behindern erheblich die Therapie und verhindern das der/die Patient/in seine/ihre Übungen korrekt ausüben kann. Ebenfalls ist es möglich, dass das gestörte Nervensystem Schmerzen verstärkt weitergibt oder in manchen Fällen gar nicht. Wenn der/die Patient/in Schmerzen nicht mehr wahrnimmt, kann es sogar gefährlich werden. Es ist möglich, dass Verletzungen an Haut, Muskulatur oder Skelett nicht wahrgenommen werden. Schmerzen sind also zu jeder Zeit zu vermeiden.

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