Epilepsie ist eine der häufigsten chronischen Erkrankungen des Zentralnervensystems, die bei Kindern und Jugendlichen auftreten kann. Diese Erkrankung, die durch wiederholte epileptische Anfälle gekennzeichnet ist, kann den Alltag der betroffenen Kinder und ihrer Familien erheblich beeinflussen. Dieser Artikel bietet umfassende Informationen und Unterstützungsmöglichkeiten für Familien, die mit Epilepsie bei Kindern leben.
Was ist Epilepsie?
Epilepsie ist keine einheitliche Erkrankung, sondern ein Sammelbegriff für verschiedene Krankheitsbilder, denen das wiederholte Auftreten epileptischer Anfälle gemeinsam ist. Circa 0,5-1% aller Menschen sind von epileptischen Anfällen betroffen. Am häufigsten erkranken Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis zum Alter von 20 Jahren und Senioren ab 65. 50 von 100.000 Kindern in den Industrienationen erkranken jedes Jahr neu an Epilepsie. Die Erkrankung zählt zu den 10 häufigsten Diagnosen, die bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren im Rahmen einer stationären Behandlung gestellt werden.
Ein epileptischer Anfall entsteht durch eine vorübergehende Störung der Gehirntätigkeit, bei der es zu einer übermäßigen elektrischen Entladung der Nervenzellen kommt. Der Arzt verwendet anstelle des Ausdrucks ‚epileptisch’ häufig den Begriff „zerebraler“ Anfall (aus dem Lateinischen, cerebrum = Gehirn), weil die Anfälle ihren Ursprung in einer vorübergehend gestörten Hirntätigkeit haben. Man könnte einen Anfall auch als eine Art Gewitter im Kopf bezeichnen. Die Krampfbereitschaft an sich ist eine generelle Eigenschaft des menschlichen Gehirns. Unter bestimmten Voraussetzungen kann daher ein epileptischer Anfall bei jedem Menschen ausgelöst werden.
Es ist wichtig zu beachten, dass nicht jeder Krampfanfall ein Zeichen für Epilepsie ist. Viele Menschen erleiden im Unterschied hierzu einmal in ihrem Leben einen epileptischen Anfall. So bezeichnet man das singuläre Ereignis eines Krampfanfalls. Betroffen sind 5% der Menschen bis zum 20. Lebensjahr. Von Epilepsie spricht man nur, wenn die Krampfanfälle unabhängig von Fieber Zeichen einer Grunderkrankung sind. Auch bei Fieberkrämpfen, den inzwischen als „fiebergebundene Anfälle“ bezeichneten Gelegenheitskrämpfen, handelt es sich nicht um Epilepsie, obwohl sie im Kleinkindalter mehrmals im Jahr auftreten können. Gelegenheitskrämpfe treten bei ca.
Ursachen und Diagnose von Epilepsie
Die Ursachen für Epilepsie können vielfältig sein. Im Kindesalter sind insbesondere genetische Ursachen, durch ‚Sauerstoffmangel‘, Infektionen, Infarkte, Blutungen oder Traumata entstandene Hirnschäden und Hirntumore zu nennen. In vielen Fällen kann die Ursache jedoch nicht eindeutig geklärt werden.
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Die Diagnose Epilepsie wird gestellt, wenn mindestens ein epileptischer Anfall aufgetreten ist und die Wahrscheinlichkeit für einen weiteren Anfall sehr hoch eingeschätzt wird. Die Anamnese ist bei der Diagnose entscheidend. Oft folgen epileptische Anfälle demselben Muster, und bei deren Einordung sind Beschreibungen von Bezugspersonen und Videoaufzeichnungen zentral.
Zur Diagnostik stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung:
- Elektroenzephalographie (EEG): Misst die elektrische Aktivität des Gehirns und kann epilepsietypische Muster aufzeigen.
- Magnetresonanztomografie (MRT): Ermöglicht die Darstellung von strukturellen Veränderungen im Gehirn, die Ursache der Epilepsie sein könnten.
- Laboruntersuchungen: Blut-, Urin- und Nervenwasseruntersuchungen können je nach individueller Konstellation durchgeführt werden, um andere Ursachen auszuschließen.
Behandlungsmöglichkeiten bei Epilepsie
Ziel der Behandlung ist es, eine gute Lebensqualität und Entwicklung sowie Anfallsfreiheit zu erreichen. Es gibt verschiedene Therapieansätze:
- Medikamentöse Therapie: Antikonvulsiva (Antiepileptika) unterdrücken das Auftreten von Anfällen. Die Art und Dosierung des Medikaments werden individuell vom Arzt angepasst. Bei circa zwei Drittel der Betroffenen ist eine medikamentöse Therapie mit einem oder zwei Präparaten erfolgreich.
- Ernährungstherapie: Spezielle Ernährungsformen wie die ketogene Diät, die modifizierte Atkins Diät oder die Low-Glycemic-Index-Diät können ergänzend eingesetzt werden, insbesondere bei therapieschweren Epilepsien.
- Epilepsiechirurgie: Bei therapieschweren Epilepsien kann eine Operation in Erwägung gezogen werden, um anfallsauslösende Areale im Gehirn zu entfernen. Eine solche Operation ist die einzige Möglichkeit, eine Epilepsie zu heilen und hat eine durchschnittliche Chance auf Anfallsfreiheit von ca. 70%.
Epilepsieformen im Kindesalter
Abhängig von der Art der Anfälle werden Epilepsien bei Kindern und Jugendlichen nach sog. epileptischen Syndromen eingeteilt, die üblicherweise eine bestimmte Altersgruppe betreffen und mit charakteristischem Verlauf einhergehen.
- Rolando-Epilepsie: Eine der häufigsten kindlichen Epilepsieformen, die in der Regel im Alter von 2-10 Jahren auftritt. Betroffene Kinder haben bei den Anfällen typischerweise Zuckungen im Gesicht, Sprechstörungen und Schluckbeschwerden. Diese Form bildet sich meist bis zur Pubertät ohne bleibende Schäden vollständig zurück.
- Absencen: Kurzzeitige Bewusstseinsstörungen, die bei Kindern im Alter von 2-15 Jahren häufig vorkommen.
- Fieberkrämpfe: Krampfanfälle, die im Rahmen eines fieberhaften Infektes bei Kindern im Alter zwischen 6 Monaten und 5 Jahren auftreten. Diese Unterscheidung ist gegenüber der kindlichen Epilepsie äußerst wichtig, da Fieberkrämpfe nur im Zusammenhang mit Fieber auftreten.
- Epileptische Spasmen: Besonders bei Säuglingen können epileptische Spasmen auftreten, die sich als Blitz-Nick-Salaam-Anfälle äußern. Die Kinder beugen dabei den Kopf, strecken Arme und Beine und ziehen sie dann wieder an. Sie können aber auch sehr diskret sein, darum sollten Eltern mit dem Handy filmen. Je länger diese Anfälle anhalten, desto schlechter entwickeln sich die Kinder. Daher ist es wichtig, sie früh zu erkennen und zu behandeln.
Alltag mit Epilepsie
Leidet Ihr Kind an Epilepsie, so kann die Erkrankung Einfluss auf viele Lebensbereiche der Familie nehmen. Insbesondere zu Beginn der Erkrankung entstehen häufig Fragen bei den betroffenen Kindern und ihren Eltern. Vor allem wenn die Kinder zunehmend selbstständig werden, möchten sie selbst Verantwortung für ihre Erkrankung übernehmen. Aus diesem Grund gibt es vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten für den Alltag mit einer Epilepsie.
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Was tun bei einem Anfall?
Die meisten Anfälle gehen innerhalb weniger Minuten vorüber und sind ungefährlich. Dennoch ist es wichtig, richtig zu reagieren:
- Ruhe bewahren.
- Auf die Uhr schauen und sich merken, wie lange der Anfall dauert.
- Das Kind vor Verletzungen schützen.
- Nicht festhalten und nichts in den Mund stecken.
- Das Kind nicht allein lassen und ihm auch nach dem Anfall beistehen.
- Bei Bedarf Hilfe holen und die 112 wählen.
Es ist sinnvoll, dass das Kind einen Epilepsie-Notfallausweis mitführt. Dort ist vermerkt, wer im Notfall kontaktiert werden sollte. Zudem sind die aktuellen Medikamente und die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt notiert.
Bei den ersten Anfällen ist es zudem wichtig, den Anfall möglichst genau zu beobachten, um ihn der Ärztin oder dem Arzt später beschreiben zu können.
Freizeit und Sport
Was Kinder oder Jugendliche mit Epilepsie unternehmen können und was nicht, ist sehr individuell. Meist halten sich die Einschränkungen jedoch in Grenzen. Allgemein gilt: Kinder und Jugendliche sollten so viel wie möglich unternehmen können. Nur bei hohem Verletzungsrisiko sind Einschränkungen unvermeidlich. Übervorsichtig zu sein, kann das Selbstwertgefühl schwächen und die Entwicklung hemmen. Es ist sinnvoll, sich ärztlich beraten zu lassen, welche Aktivitäten geeignet sind und welche nicht.
Die meisten Sportarten sind ohne Einschränkungen möglich, wenn Kinder oder Jugendliche körperlich ansonsten gesund sind. Wegen der Unfallgefahr während eines Anfalls sind bestimmte Disziplinen wie Schwimmen oder Klettern allerdings weniger geeignet. Beim Schwimmen sollte ein Kind gut beaufsichtigt werden und wenn nötig Schwimmhilfen tragen. Es sollte auch nur unter Aufsicht baden und bevorzugt duschen. Tauchsport ist erst möglich, wenn jemand mehrere Jahre anfallsfrei ist.
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Hat ein Kind regelmäßig Anfälle, ist es wichtig, dass es beim Sport vor Kopfverletzungen geschützt ist - zum Beispiel durch einen Helm.
Kindergarten und Schule
Mit dem Eintritt in den Kindergarten entlassen Eltern ihre Kinder in eine neue Selbstständigkeit. Bei epilepsiekranken Kindern ist eine gute Aufklärung der ErzieherInnen notwendig. Die Entscheidung für einen Kindergarten oder eine Kindertagesstätte ist für alle Eltern nicht einfach. Grundsätzlich können epilepsiebetroffene Kinder in den Kindergarten um die Ecke gehen, eventuell mit einem Integrationshelfer (s. Je nachdem, welchen Entwicklungsstand und Betreuungsbedarf das einzelne Kind hat und welche zusätzlichen Krankheiten oder Behinderungen neben der Epilepsie vorliegen, haben Kinder einen Anspruch auf einen Platz in einem integrativen oder heilpädagogischen Kindergarten.
Es ist wichtig, dass Erziehende, Lehrerinnen und Lehrer über die Epilepsie informiert sind und wissen, was bei einem Anfall zu tun ist. Je besser sie sich auskennen, desto gelassener können sie mit dem Kind umgehen. Dies gilt auch für die weniger auffälligen Anfallsformen (Absencen): Diese können sonst falsch gedeutet werden, zum Beispiel als „Träumerei“.
Häufige Anfälle oder die Epilepsie-Medikamente können die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen und unkonzentriert, müde oder nervös machen. Manche Kinder haben auch Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Kindern oder den Lehrkräften. Um es vor Ausgrenzung zu bewahren, ist es wichtig, dass ein Kind in der Schule gut unterstützt und begleitet wird.
Es ist sinnvoll, in Schule oder Kindergarten eine schriftliche Vereinbarung zu hinterlegen. Das hängt von der Situation ab. Wenn die Erkrankung so gut behandelt werden kann, dass in der Schule kaum mit Anfällen zu rechnen ist, ist es nicht nötig, Mitschülerinnen und -schüler zu informieren. Wenn sich das Kind schämt und Vorurteile befürchtet, kann es besser sein, wenn es seine Krankheit für sich behält oder nur engen Freundinnen und Freunden davon erzählt. Es kann dann später selbst entscheiden, wen es wann informiert.
Hat ein Kind jedoch regelmäßig Anfälle, ist es besser, die anderen Kinder aufzuklären.
Berufswahl und Studium
Es gibt nur wenige Berufe, die Menschen mit Epilepsie grundsätzlich nicht ausüben können. So dürfen sie keinen Pilotenschein machen und auch keine Busse oder Züge lenken. Allgemein sollten Berufe vermieden werden, bei denen jemand sich oder andere durch die Epilepsie gefährden könnte. Nähere Informationen hierzu geben die Richtlinien der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung.
Wenn jemand eine längere Zeit anfallsfrei ist, kommen die meisten Berufe infrage. Dies kann voraussetzen, dass regelmäßig Medikamente eingenommen werden.
Wichtig ist, sich rechtzeitig vor Schulabschluss damit zu beschäftigen, welche Berufe infrage kommen und welche nicht. Dazu kann man sich ärztlich beraten lassen oder an eine Epilepsie-Beratungsstelle wenden. Auch die Bundesagentur für Arbeit kann beraten - unter anderem zu Unterstützungsleistungen.
Viele Menschen mit einer Epilepsie studieren. Sie können auch Unterstützungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen: So können chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung über einen sogenannten Härtefallantrag leichter einen Studienplatz bekommen. Zudem gibt es während des Studiums Hilfen wie die sogenannten Nachteilsausgleiche.
Führerschein
Ob man mit Epilepsie den Führerschein machen kann, muss eine Ärztin oder ein Arzt beurteilen. Eine Fahrerlaubnis kann nur erhalten, wer über eine längere Zeit anfallsfrei geblieben ist und voraussichtlich keinen Anfall während des Autofahrens bekommt. Wie lange abgewartet werden muss, hängt unter anderem von der Epilepsieform ab und davon, wie sich die Krankheit entwickelt. Oft genügt es, ein Jahr anfallsfrei zu sein.
Unterstützungsmöglichkeiten für Familien
Neben der medizinischen Behandlung gibt es zahlreiche Unterstützungsmöglichkeiten für Familien mit epilepsiekranken Kindern:
- Frühförderstellen: Diese unterstützen Familien medizinisch, psychologisch, bei der Erziehung und im Alltag.
- Sozialpädiatrische Zentren (SPZ): In diesen Zentren arbeiten medizinische und therapeutische Fachkräfte. Sie unterstützen unter anderem bei chronischen Erkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen von Kindern.
- Selbsthilfegruppen: Sie bieten die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Betroffenen.
- Epilepsie-Beratungsstellen: Diese beraten, informieren und unterstützen Betroffene und ihre Familien.
- Pflegedienste: Je nach Hilfebedarf gibt es die Möglichkeit, auf Dauer oder kurzfristig pflegerische Unterstützung zu bekommen.
- Familienentlastende Dienste (FED): Diese betreuen und begleiten erkrankte und hilfebedürftige Kinder im Alltag.
- Integrationshilfe: Besonders beeinträchtigte Kinder haben die Möglichkeit, eine Integrationshilfe zu bekommen, die sie im Kindergarten oder in der Schule begleitet.
- Lerntherapie: Bei Lernschwierigkeiten ist beispielsweise eine Lerntherapie möglich.
- Antrag auf Schwerbehinderung: Bei einer Epilepsie kann unter Umständen auch ein Antrag auf Schwerbehinderung gestellt werden.
Umgang mit der Diagnose
Epilepsie ist leider immer noch gesellschaftlich stigmatisiert. Manche haben Angst, die Diagnose im Umfeld zu nennen. Wir arbeiten im interdisziplinären Team zuerst mit den Eltern: Wenn man selber mit sich in Frieden ist, kann man mit dem Kind und dem Umfeld besser umgehen. Man muss ein gutes Maß finden zwischen beschützen und dem Kind seine Flügel lassen im Leben. Das Schlimmste wäre, das Kind nur noch in Watte zu packen: Es ist nicht das Ziel der Behandlung, dass es keinen Spaß mehr haben darf.
Plötzlicher unerwarteter Tod bei Epilepsie (SUDEP)
Sehr selten kommt es zum plötzlichen und unerwarteten Tod bei Epilepsieerkrankten, kurz SUDEP. Diese Todesfälle treten meist als Folge eines Anfalls auf, aus einem weitestgehend normalen Gesundheitszustand ohne erkennbare Ursache. Es gibt Risikofaktoren, die das Auftreten von SUDEP erhöhen: eine fehlende Anfallsfreiheit, plötzliches Absetzen von Medikamenten, tonisch-klonische Anfälle und nächtliche Anfälle.
Es ist sehr wichtig, dass das Kind anfallsfrei ist. Nach einem Anfall schläft ein Kind. Da sollten Eltern ihr Kind in die stabile Seitenlage legen und es stimulieren, damit es möglichst schnell wieder reagiert, und es mindestens eine Stunde lang beobachten. Auch sollten alle Eltern ein Reanimationstraining bekommen. Trotz allem kann man leider nicht alle SUDEP-Fälle verhindern.
Entwicklungsstörungen
Das muss nicht bei jeder Epilepsie vorkommen. Man kann mit Epilepsie fantastisch leben. Aber Kinder, die trotz Medikamenten noch Anfälle haben, sind gefährdet für eine Entwicklungsstörung. Nicht nur die Ursache der Epilepsie, etwa ein Hirnschaden, kann sich negativ auf die Entwicklung auswirken. Sondern auch häufige Anfälle und die Kombination an Medikamenten.
Wichtig ist, die Entwicklungsstörung erst einmal klar zu diagnostizieren. Dann kann man das Kind je nach Bedarf in einem multiprofessionellen Team behandeln. Je nach Bedarf: medizinisch, psychologisch, sozial, mit Ergo-, Physio- und Sprachtherapie. Die besten Therapeuten sind aber immer die Eltern.