Lumbalpunktion bei Multipler Sklerose: Ein umfassender Überblick

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die Gehirn, Rückenmark und Sehnerven beeinträchtigen kann. Weltweit sind etwa 2,5 Millionen Menschen von MS betroffen, wobei rund 200.000 Fälle in Deutschland auftreten. Die Diagnose von MS ist komplex, da die Symptome variieren und viele andere Erkrankungen ähnliche Symptome aufweisen können. Um einen Verdacht auf MS zu bestätigen, sind verschiedene Untersuchungen notwendig. Eine wichtige Methode zur Absicherung der Diagnose MS ist die Liquoruntersuchung mittels Lumbalpunktion.

Die Bedeutung der Lumbalpunktion in der MS-Diagnostik

Die Lumbalpunktion, auch Spinalpunktion genannt, ist ein Verfahren, bei dem eine kleine Menge Nervenwasser (Liquor) aus dem Wirbelkanal entnommen wird. Dieser Liquor ist eine in den Kammern des Gehirns gebildete Flüssigkeit, die Gehirn und Rückenmark innerhalb des Schädels beziehungsweise Wirbelkanals schützend umgibt. Die Lumbalpunktion spielt eine zentrale Rolle bei der Diagnose von MS, da sie wichtige Informationen über Entzündungsprozesse im Gehirn und Rückenmark liefern kann.

Im Zuge der Revision der McDonald-Kriterien im Jahr 2017 hat diese Methode nochmals an Bedeutung gewonnen. Denn seitdem kann der Nachweis von speziellen Eiweißen, sogenannten oligoklonalen Banden, im Liquor als Beleg für eine zeitliche Ausbreitung (Dissemination) der Erkrankung herangezogen werden. Im Liquor von Menschen mit MS sind diese Eiweiße in mehr als 95 Prozent der Fälle enthalten. Da es einige Zeit braucht, bis sich oligoklonale Banden entwickeln, erhält man mit der Liquoruntersuchung einen Hinweis darauf, ob die Entzündungsreaktion bereits chronisch geworden ist. In vielen Fällen ist davon auszugehen, dass die Erkrankung schon seit Monaten oder gar Jahren besteht, ohne dass der bzw. die Betroffene etwas davon bemerkt hat.

Wann wird eine Lumbalpunktion bei MS durchgeführt?

Aktuell wird weiterhin empfohlen eine Lumbalpunktion bei Verdacht auf MS durchzuführen. Studien haben gezeigt, dass ohne eine Liquoruntersuchung falsche Diagnosen häufiger sind. Eine Lumbalpunktion wird in folgenden Fällen in Betracht gezogen:

  • Verdacht auf MS: Bei Vorliegen von MS-typischen Symptomen wie Sensibilitätsstörungen, Sehnerventzündung, Lähmungen oder Koordinationsstörungen kann eine Lumbalpunktion zur Bestätigung der Diagnose beitragen.
  • Ausschluss anderer Erkrankungen: Die Lumbalpunktion kann helfen, andere Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen wie MS auszuschließen, z. B. Infektionen des zentralen Nervensystems oder andere entzündliche Erkrankungen.
  • Abklärung unklarer neurologischer Beschwerden: Bei unklaren neurologischen Beschwerden kann die LumbalpunktionAdditional Information über den Zustand des Nervensystems liefern.

Die Durchführung der Lumbalpunktion

Die Lumbalpunktion bei Multiple-Sklerose-Betroffenen wird mit örtlicher Betäubung und nach Desinfektion der Einstichstelle im Sitzen oder im Liegen durchgeführt. Dabei wird eine spezielle Hohlnadel etwa in Höhe des zweiten/dritten oder dritten/vierten Lendenwirbels zwischen den Wirbelkörpern bis in den Wirbelkanal, den Hohlraum, der das Nervenwasser enthält, vorgeschoben. Damit die Nadel genug Platz findet, müssen die Wirbel möglichst weit auseinandergezogen, der Rücken also stark gebeugt werden. Das geht am besten mit einer Art Katzenbuckel im Sitzen oder seitlich im Liegen.

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Die Haut wird an der Einstichstelle betäubt und desinfiziert. Nach dem Einstich schiebt die Ärztin oder der Arzt die Nadel etwa 3 bis 4 Zentimeter tief zwischen zwei Wirbel bis nahe ans Rückenmark vor. Das Nervenwasser tropft von selbst durch die Hohlnadel in ein Röhrchen. Meistens werden 10 bis 15 Milliliter Nervenwasser entnommen. Zum Schluss wird die Nadel vorsichtig herausgezogen und die Einstichstelle mit etwas Druck verbunden, damit sich die Wunde schnell wieder schließt. Insgesamt dauert eine Punktion etwa eine Viertelstunde.

Wichtig ist, danach für mindestens eine Stunde zu liegen, sich ungefähr 24 Stunden zu schonen und viel zu trinken. Weil ein Bluterguss im Wirbelkanal auf Nerven drücken kann, kontrolliert die Ärztin oder der Arzt einige Stunden später die Einstichstelle und ob man die Beine bewegen kann. Normalerweise bleibt man bei einer Lumbalpunktion mindestens 1 Stunde, meist aber bis zu 4 Stunden in der Klinik oder Praxis.

Was wird bei der Liquoranalyse untersucht?

Der bei der Punktion entnommene Liquor wird nun im Labor auf verschiedene Parameter untersucht. Dazu gehören:

  • Zellzahl: Eine erhöhte Zellzahl kann auf eine Entzündung im zentralen Nervensystem hindeuten.
  • Proteingehalt: Ein erhöhter Proteingehalt kann ebenfalls auf eine Entzündung hindeuten oder durch eine Schädigung der Blut-Hirn-Schranke verursacht sein.
  • Oligoklonale Banden (OKB): Dies sind spezielle Eiweiße, die im Liquor von Menschen mit MS häufig nachweisbar sind. Sind drei oder mehr zusätzliche Banden auf einem Bild der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit mehr enthalten als in der Blutflüssigkeit, ist dies ein positiver Befund für oligoklonale Banden.
  • Immunglobuline: Bei 90% aller Patienten mit Multipler Sklerose wird ein hoher Immunglobulinspiegel in der Cerebrospinalflüssigkeit sowie das Vorhandensein oligoklonaler Banden beobachtet.
  • Weitere Parameter: Je nach Fragestellung könnenAdditional Information Parameter wie Glukose, Laktat oder Erreger untersucht werden.

Oligoklonale Banden: Ein wichtiger Marker für MS

Der Nachweis von sogenannten „oligoklonalen Banden“ (einer Gruppe von Antikörpern) im Liquor ist für die Diagnose von MS besonders bedeutsam. Oligoklonale Banden, kurz OKB genannt, können bei bis zu 95% aller MS-Patienten nachgewiesen werden. Bei einer MS zeigen sich spezielle autoimmune Zellen, sogenannte oligoklonale Banden, die im Liquor nachgewiesen werden können. Allerdings ist das Vorliegen oligoklonaler Banden ist jedoch kein sicherer Beweis dafür, dass eine MS vorliegt. Gründe für das Vorfinden können außerdem Gefäßentzündungen, altersbedingte Abbauprozesse oder andere entzündliche Erkrankungen des ZNS sein. Deshalb muss eine MS immer noch durch andere Diagnoseverfahren abgesichert werden.

Risiken und Nebenwirkungen der Lumbalpunktion

Die Lumbalpunktion ist heutzutage ein risikoarmes Routineverfahren. An der Stelle, an der die Punktion erfolgt, ist das Rückenmark bereits in einzelne Nervenstränge aufgeteilt, so dass diesbezüglich keine Verletzungsgefahr besteht. Im unteren Bereich der Lendenwirbelsäule enthält der Wirbelkanal nur noch Flüssigkeit, da das Rückenmark bereits weiter oben endet. Es kann deshalb nicht verletzt werden.

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Für kurze Zeit können Schmerzen auftreten: beim Einstich und falls die Nadel tiefer im Gewebe eine Nervenwurzel berührt. Dann strahlt der Schmerz in ein Bein aus, klingt aber sofort wieder ab.

Einige Stunden oder auch Tage nach der Punktion kann es zu Kopfschmerzen, Übelkeit, einem hohen Puls oder niedrigem Blutdruck kommen. Medizinisch wird dies als „postpunktuelles Syndrom“ zusammengefasst. Diese Nachwirkungen klingen aber in der Regel nach etwa fünf Tagen ab. Die Kopfschmerzen bessern sich im Liegen meist deutlich. Um diesen Kopfschmerzen vorzubeugen, ist es wichtig, nach der Behandlung extrem viel Wasser in kurzer Zeit zu trinken, und zwar am besten stilles Wasser oder sehr dünnen Tee. Dieser Liquorunterdruck-Kopfschmerz spricht therapeutisch auf Koffein an. Dies ist also der seltene Fall, in dem der behandelnde Arzt den Konsum von viel Kaffee von medizinischer Seite aus empfiehlt.

Alternative Diagnoseverfahren bei MS

Neben der Lumbalpunktion gibt es weitere wichtige Diagnoseverfahren bei MS:

  • Magnetresonanztomographie (MRT): Die MRT ist eine bildgebende Technik, die detaillierte Bilder des Gehirns und des Rückenmarks erstellt. Die Diagnose Multiple Sklerose kann gestellt werden, wenn im MRT an mindestens zwei typischen Stellen MS-Herde vorliegen. Mit einer MRT-Untersuchung lässt sich mit sehr hoher Sicherheit eine Entzündung im Gehirn und Rückenmark nachweisen. Nicht jeder Entzündungsherd macht sich klinisch durch Beschwerden bemerkbar. Im MRT sind MS-typische Läsionen im Gehirn und Rückenmark zu sehen (= räumliche Dissemination), zwei dieser Läsionen nehmen Kontrastmittel auf, eine nicht (= zeitliche Dissemination).
  • Evozierte Potentiale: Dies sind Tests, die die elektrische Aktivität des Gehirns in Reaktion auf sensorische Stimulation (wie Sehen, Hören und Berühren) messen. Bei den evozierten Potenzialen, die man visuell (VEP, somatosensibel (SEP oder SSEP) und motorisch (MEP) messen kann, werden ganz vereinfacht Reize an einer Stelle ausgesandt und über Elektroden gemessen, wie schnell sie den Weg zurücklegen und ob es Unterschiede gibt. Durch diesen Test kann man, sofern vorhanden, eine Auswirkung der Läsion nachweisen. Dazu muss es aber auch eine passende Läsion im MRT-Befund geben.
  • Klinische Untersuchung: Im Rahmen der neurologischen Untersuchung können Funktionsbeeinträchtigungen des Nervensystems erkannt werden, selbst lange bevor sie vom Betroffenen selbst wahrgenommen werden. Die Multiple Sklerose führt zu Einschränkungen u. a. in den Bereichen Koordination, Gleichgewicht, Reflexe, Muskelkraft oder Sensibilität.

Differenzialdiagnosen

Es gibt bei Multipler Sklerose wirklich viele andere Erkrankungen, die zumindest im Anfangsstadium der MS ähneln können. Aus insgesamt neun ursächlichen Richtungen gilt es andere Erkrankungen abzugrenzen. Hier sind einige Beispiele:

  • entzündlich demyelinisierend: ADEM, Anti-MOG, NMOSD, IPANS (inflammatory pandemyelination syndrome)
  • infektiös: Borreliose, PML, HIV, Herpes zoster (Gürtelrose), COVID-19
  • autoimmun: Vaskulitis (Entzündung der Blutgefäße), Neurosarkoidose (seltene Komplikation der Sarkoidose einer systemischen Bindegeweserkrankung), etc.
  • vaskulär (Blutgefäße betreffend): Migräne, multiple Embolien, etc.
  • metabolisch (Stoffwechsel betreffend): Vitamin B 12 Mangel, Kupfermangel
  • neoplastisch (Neubildung von Gewebe im Körper - Krebs): ZNS-Lymphom, Gliome, Metastasen
  • Spinal (Rückenmark): Vaskuläre Malformationen (angeborene, gutartige Gefäßfehlbildungen), spinale Enge
  • Genetisch: Mukopolysaccharidosen (Körper fehlen Enzyme zum Abbau und Speichern komplexer Zuckermoleküle), Leukodystrophien (Stoffwechselkrankheiten der weißen Gehirnsubstanz), etc.
  • Psychosomatisch: Depression, chronische Schmerzstörungen, etc.

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