Die Magersucht (Anorexia nervosa) ist eine ernstzunehmende Essstörung, die nicht nur den Körper, sondern auch das Gehirn beeinträchtigen kann. Durch die Einschränkung der Nahrungsaufnahme und die daraus resultierende Mangelernährung kommt es zu vielfältigen Veränderungen im Gehirn, die sowohl kurz- als auch langfristige Folgen haben können.
Hirnatrophie bei Magersucht
Eines der auffälligsten Phänomene bei Magersucht ist die sogenannte Hirnatrophie oder der "Hirnschwund". Experten haben festgestellt, dass bei magersüchtigen Jugendlichen das Volumen der grauen Substanz im Gehirn um etwa 18 Prozent geringer ist als bei gesunden Gleichaltrigen. Gleichzeitig weisen Magersüchtige rund 27 Prozent mehr Hirnflüssigkeit auf. Diese Veränderungen im Gehirnvolumen sind auf die Mangelernährung zurückzuführen, die die Protein-Biosynthese im zentralen Nervensystem beeinträchtigt. Es werden nicht genügend Eiweiße produziert, um Nervenzellen fortlaufend zu reparieren oder zu regenerieren.
Pseudo-Atrophie und Normalisierung des Hirnvolumens
Es ist wichtig zu betonen, dass es sich bei der Hirnatrophie im Zusammenhang mit Magersucht um eine Pseudo-Atrophie handelt. Das bedeutet, dass das Hirnvolumen sich in den meisten Fällen wieder normalisiert, sobald die betroffene Person wieder zunimmt und ein gesundes Gewicht erreicht. Studien haben gezeigt, dass sich die graue Substanz und die Hirnflüssigkeit wieder angleichen, wenn der Körper ausreichend mit Nährstoffen versorgt wird.
Mögliche Schäden trotz Gewichtszunahme
Auch wenn sich das Hirnvolumen normalisieren kann, bestehen dennoch Risiken für bleibende Schäden. Insbesondere bei Jugendlichen kann die Magersucht die Entwicklung von Hippocampus und Amygdala beeinträchtigen. Diese beiden Hirnareale spielen eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen und der Entstehung von Angst. Eine gestörte Entwicklung dieser Bereiche kann dazu führen, dass die Betroffenen später leichter Depressionen oder Angststörungen entwickeln. Studien haben gezeigt, dass etwa jede vierte behandelte Magersucht-Patientin nach 18 Jahren psychisch so krank war, dass sie arbeitslos war. Daher sprechen Experten von einer "biologischen Narbe", die die Magersucht im Gehirn hinterlassen kann.
Kognitive Beeinträchtigungen
Magersucht kann auch zu kognitiven Beeinträchtigungen führen. Betroffene haben oft Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, sind unaufmerksam und brauchen länger, um zu antworten. Schätzungen zufolge liegt der Intelligenzquotient bei Menschen mit akuter Magersucht etwa zehn Punkte niedriger als im gesunden normalgewichtigen Zustand. Diese kognitiven Defizite betreffen vor allem exekutive Hirnfunktionen wie die Fähigkeit, auf sich ändernde Aufgaben zu reagieren, einzelne Wahrnehmungen in einen Gesamtzusammenhang zu stellen oder Entscheidungen zu treffen. Auch Aufmerksamkeit und Gedächtnis können gestört sein. Selbst nach der Erholung von der Magersucht können die Exekutivfunktionen beeinträchtigt bleiben.
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Biomarker für Hirnschäden
Forscher haben im Blut von Patientinnen mit akuter Anorexie erhöhte Konzentrationen von bestimmten Biomarkern gefunden, die auf Hirnschäden hinweisen könnten. Dazu gehören Tau-Protein, GFA-Protein und Neurofilament-light (NF-L). Diese Marker spielen eine Rolle bei neurologischen Erkrankungen und scheinen auf axonale Schäden (Tau und NF-L) sowie Schäden der Astrozyten (GFA-Protein) hinzuweisen. Studien haben gezeigt, dass sich die Konzentrationen von NF-L und GFA-Protein nach einer Gewichtszunahme wieder normalisieren, was darauf hindeutet, dass sich das Gehirn zumindest teilweise erholt.
Einschränkungen der Biomarker-Forschung
Es ist wichtig zu beachten, dass die Forschung zu Biomarkern bei Magersucht noch in den Anfängen steckt. Einige Experten weisen darauf hin, dass die erhöhten Proteinspiegel im Blut möglicherweise eher auf eine durchlässigere Blut-Hirn-Schranke zurückzuführen sind als auf tatsächlich beschädigte Hirnzellen. Zudem fehlen Vergleichswerte vor Ausbruch der Krankheit, was die Interpretation der Ergebnisse erschwert.
Veränderungen in der Hirnrinde
Mithilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) konnten Forscher Veränderungen in der Hirnrinde von Magersüchtigen feststellen. Insbesondere im Precuneus und in den unteren Parietallappen ist die Hirnrinde vermindert. Diese Bereiche sind für die Verarbeitung visueller und sensorischer Reize zuständig und spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Körperbildes. Je geringer der BMI, desto geringer die kortikale Dicke und desto schlechter schneiden die Betroffenen in kognitiven Tests ab. Zudem wiesen Patienten mit geringerer kortikaler Dicke eine geringere Aktivität und Kommunikation in bestimmten Hirnregionen auf, insbesondere im "Default Mode Network" (DMN) und in den visuellen und sensorischen Netzwerken. Dies könnte erklären, warum Magersüchtige manchmal wirken, als ob sie in einem "Eispanzer" wären, warum sie die eigenen Gefühle nicht so gut wahrnehmen und sich nicht mehr so gut in andere Menschen hineinversetzen können.
Die Rolle von Leptin
Das Hormon Leptin, das von Fettzellen hergestellt wird, spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation des Appetits und des Gewichts. Bei Magersüchtigen ist der Leptin-Spiegel im Blut oft sehr niedrig. Ein niedriger Leptin-Spiegel signalisiert dem Hypothalamus im Gehirn, dass der Appetit angeregt werden muss. Akut Magersüchtige können dieses Hungersignal jedoch psychisch übersteuern. Studien haben gezeigt, dass die zusätzliche Gabe von Leptin bei Mäusen und magersüchtigen Menschen mit Leptin-Mangel die Bildung von grauer Substanz fördern und das Gehirn schwerer machen kann.
Ursachen und Risikofaktoren für Magersucht
Die Ursachen für Magersucht sind vielfältig und individuell. Probleme mit den familiären Strukturen und Angst vor dem "Frau-Werden" während der Pubertät können eine Rolle spielen. Ein schlankes Körperideal in der Gesellschaft stellt einen zusätzlichen Risikofaktor dar. Betroffene berichten oft, dass sie sich "dünn machen" wollen, um niemandem im Weg zu sein.
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Therapie und Heilungschancen
Die Therapie der Magersucht umfasst in der Regel Psychotherapie, Bewegungstherapie und eine Normalisierung des Essverhaltens. Ziel ist es, die Betroffenen zu motivieren, gegen das eingelernte Verhalten anzukämpfen und sich den Ängsten zu stellen. Eine frühzeitige Therapiebeginn ist entscheidend für den Erfolg. Studien haben gezeigt, dass knapp die Hälfte der Magersüchtigen wieder vollständig gesund wird, bei einem Drittel verbessern sich die Symptome, und etwa ein Fünftel bleibt chronisch anorektisch. Etwa fünf Prozent der Magersüchtigen sterben - das ist eine der höchsten Todesraten unter den psychiatrischen Krankheiten.
Rolle der Angehörigen
Angehörige spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Überwindung einer Essstörung. Psychoedukation, Familien- oder Paargespräche können hilfreich sein, um die familiäre Situation zu verbessern und die Betroffenen zu unterstützen.
Bedeutung der Gewichtszunahme
Eine Gewichtszunahme ist entscheidend für die Erholung des Gehirns. Eltern und Behandler sollten bei der Gewichtszunahme keine Kompromisse eingehen. Die Wiederherstellung des Gewichts und die Rehabilitation des Ernährungsverhaltens müssen Vorrang vor einsichtsorientierter therapeutischer Arbeit haben.
"Hirnheilung" und langfristige Erholung
Eltern von Patienten mit Anorexie berichten oft von einem Zeitraum von sechs Monaten bis zu 2+ Jahren, in dem eine vollständige "Hirnheilung" stattfindet. Damit meinen sie eine Verbesserung des Zustands, in dem der Patient stabiler erscheint und "zurück zu seinem früheren (vor der Krankheit) Selbst findet". Die Menstruationsfunktion scheint ein besserer Anzeiger für die kognitive Erholung zu sein als das Gewicht. Die volle kognitive Funktion ist möglicherweise erst wiederhergestellt, wenn die Menstruation mindestens sechs Monate lang aufrechterhalten wurde.
Künstliche Intelligenz zur Vorhersage des Krankheitsverlaufs
Forscher nutzen zunehmend Künstliche Intelligenz (KI), um dauerhafte Veränderungen in den Gehirnstrukturen von Menschen mit Magersucht zu identifizieren und Vorhersagen zum Krankheitsverlauf zu machen. Mithilfe von KI konnten sie anhand von MRT-Daten zwischen gesunden Kontrollpersonen und Patienten in verschiedenen Stadien der Anorexie unterscheiden. Die Gehirnveränderungen bei Patientinnen und Patienten mit schlechterem folgenden Langzeitverlauf waren stärker ausgeprägt. Diese Erkenntnisse könnten dazu beitragen, personalisierte Interventionen für Patientinnen nach ihrer Entlassung zu entwickeln.
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Langzeitfolgen und Begleiterkrankungen
Magersucht kann langfristige gesundheitliche Folgen haben, die sich organisch manifestieren und/oder in psychischen Begleit- und Folgeerkrankungen äußern können. Dazu gehören:
- Verzögerung der pubertären Reifung: Bei Mädchen und jungen Frauen kann es zu einer Amenorrhö (Ausbleiben der Regelblutung) und Unfruchtbarkeit kommen.
- Osteoporose: Der durch hormonelle Störungen ausgelöste Östrogenmangel kann zusammen mit einem Mineralstoff- und Vitaminmangel zu einer krankhaften Knochenbrüchigkeit führen.
- Weitere körperliche Beschwerden: Chronische Verstopfung, ständiges Frieren, niedrige Pulsfrequenz, niedriger Blutdruck, trockene, schuppige Haut und Haarausfall sind häufige Begleiterscheinungen.
- Schwerwiegende körperliche Schäden: Infolge der Gewichtsabnahme werden wichtige Körpereiweiße, z.B. in der Muskulatur und auch im Herzmuskel, abgebaut. Ein starkes Untergewicht kann im schlimmsten Fall zu einem Versagen der lebenswichtigen Organe führen.
- Störungen der selektiven Aufmerksamkeit: Die Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf figur-, gewichts- und nahrungsbezogene Reize, was zur Aufrechterhaltung der Störung beitragen kann.
- Psychische Begleiterkrankungen: Angststörungen (insbesondere die Soziale Phobie), Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und Substanzmittelmissbrauch treten gehäuft auf.
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