Die Magersucht (Anorexia nervosa) ist eine ernstzunehmende Essstörung, die nicht nur den Körper, sondern auch das Gehirn erheblich beeinträchtigen kann. Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Studien belegen, dass Anorexie und ARFID (Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder) zu deutlichen Veränderungen im Gehirn führen können, die sich jedoch unter Umständen durch entsprechende Behandlung teilweise zurückbilden lassen.
Veränderungen im Gehirn bei Anorexie
Bei Patientinnen und Patienten mit Anorexia nervosa oder ARFID lassen sich deutliche Veränderungen im Gehirn feststellen. Hierzu zählen vor allem ein messbarer Rückgang der Hirnmasse sowie eine Ausdünnung der Großhirnrinde. Das Ausmaß dieser Veränderungen ist vergleichbar mit neurologischen Erkrankungen wie Alzheimer.
Kognitive Beeinträchtigungen
Aus Studien ist seit vielen Jahren bekannt, dass eine Anorexie mit kognitiven Beeinträchtigungen einhergeht. Dies betrifft vor allem exekutive Hirnfunktionen, z.B. die Fähigkeit, schnell und korrekt auf sich ändernde Aufgaben zu reagieren, einzelne Wahrnehmungen in einen Gesamtzusammenhang zu stellen oder Entscheidungen zu treffen. Aber auch Aufmerksamkeit und Gedächtnis können gestört sein. Selbst dann, wenn sich Frauen von einer Magersucht erholt haben, können die Exekutivfunktionen beeinträchtigt bleiben. Ärzte und Psychologen kennen es aus ihrem Alltag mit Magersüchtigen gut: Die Patientinnen können sich nicht konzentrieren, wirken unaufmerksam, brauchen lange, bis sie antworten.
Strukturelle Veränderungen im MRT
In der Magnetresonanztomografie (MRT) von Patienten mit akuter Anorexie zeigen sich deutliche Abnahmen der weißen und grauen Substanz, eine spezifische Verdünnung der Hirnrinde und abgeflachte Gyri. Mit einer Gewichtszunahme scheinen sich diese Veränderungen wieder zu normalisieren.
Biomarker im Blut als Hinweis auf Hirnschäden
Forscher aus Deutschland haben nun drei Biomarker gefunden, die bei Patientinnen mit akuter Anorexie deutlich erhöht sind und auf Hirnschäden hinweisen könnten: Tau-Protein, GFA-Protein und Neurofilament-light (NF-L). Studienleiter Ehrlich möchte in weiteren Studien untersuchen, wie genau es zu den neuronalen und astrozytären Schäden kommt. Mit diesen Erkenntnissen hofft er auf neue Behandlungsansätze, z.B. neuroprotektive Medikamente, die die Patientinnen frühzeitig als Schutz vor Hirnschäden einnehmen könnten.
Lesen Sie auch: Gehirnschäden durch Magersucht
Reversibilität der Hirnveränderungen
Die gute Nachricht ist, dass sich bestimmte Veränderungen im Gehirn nach einer Gewichtszunahme und entsprechender Behandlung innerhalb weniger Monate teilweise zurückbilden können. Eine Studie der Dresdner Forscher im Journal Biological Psychiatry zeigt, dass sich die graue Substanz bei vollständiger Therapie der Essstörung meist komplett wiederherstellt. Die Veränderungen im Gehirn sind also bei vollständiger Heilung reversibel. Für andere Folgen der Anorexia nervosa trifft das nicht immer zu - zu den langfristigen irreversiblen Folgen der Magersucht zählt u. a. das höhere Risiko einer Osteoporose.
Normalisierung der Biomarker
Bei Patientinnen, die Gewicht zugenommen hatten, normalisierten sich NF-L und GFA-Protein. „Das weist darauf hin, dass sich das Gehirn zumindest teilweise wieder erholt“, sagt Studienleiter Prof. Ehrlich. Sein Team habe die Frauen weiterverfolgt und die Werte weiterhin gemessen. Nun habe sich mit dem Zunehmen auch Tau normalisiert, berichtet er, die Ergebnisse würden in Kürze veröffentlicht werden. „Vermutlich erholen sich die verschiedenen Zellarten im Hirn unterschiedlich schnell“, mutmaßt Ehrlich.
Bedeutung der Gewichtszunahme für die Hirnheilung
Eine Studie von Roberto und Kollegen (2010) verwendete MRT-Bildgebungstechniken, um das Gehirn von 32 erwachsenen Frauen mit AN vor und nach der Wiederherstellung des Gewichts (auf 90 Prozent ihres idealen Körpergewichts) zu untersuchen und sie mit dem Gehirn von 21 Frauen zu vergleichen, die nicht an AN erkrankt waren. Eine Studie von Wagner und Kollegen (2005) führte MRT-Gehirnscans bei 40 Frauen durch, die sich langfristig von Essstörungen erholten (Patienten mit AN und Bulimia nervosa). Ihre Genesungsdauer lag zwischen 29 und 40 Monaten (viel länger als in der Roberto-Studie). Eine Studie von Chui und Kollegen (2008) bewertete 66 erwachsene Frauen mit einer AN-Vorgeschichte in ihrer Jugend und verglich sie mit 42 gesunden weiblichen Frauen. Die Teilnehmer erhielten eine MRT und eine kognitive Auswertung. Zusammengenommen legen diese Studien ein komplexes Zusammenspiel zwischen Gewichtsstatus, Gehirnstruktur und optimaler Gehirnfunktion nahe. Hirnsubstanz schrumpft tatsächlich während der AN und braucht Zeit, um sich zu erholen. Sechs Monate nach der Wiederherstellung des vollen Gewichts ist das Gehirn oft noch nicht wieder normal aufgebaut. Doch mit genügend Zeit bei einem gesunden Gewicht scheint das Gehirn völlig zu genesen. Obwohl des Gehirns nach der Gewichtswiederherstellung wieder normal aussieht, ist die normale Funktion des Gehirns möglicherweise noch nicht wiederhergestellt. Es scheint, dass die Menstruationsfunktion ein besserer Anzeiger für die kognitive Erholung ist als das Gewicht (bei Frauen), und dass die volle kognitive Funktion möglicherweise erst wieder hergestellt wurde, wenn die Menstruation mindestens sechs Monate lang aufrechterhalten wurde.
Die Rolle des dorsalen Striatums bei Anorexie
Die Nahrungsverweigerung von Patienten mit Anorexia nervosa unterliegt möglicherweise nicht (allein) dem freien Willen der Patienten. Eine Studie in Nature Neuroscience (2015; doi:10.1038/nn.4136) zeigt, dass die Wahl der Nahrungsmittel durch Hirnregionen angetrieben wird, die auch bei Substanzabhängigkeiten aktiviert wird. Demnach wäre die Anorexia nervosa tatsächlich eine Sucht. Die funktionelle Kernspintomographie ermöglicht die Darstellung von Hirnregionen, die bei bestimmten Aufgaben aktiviert werden.
Aktivierung des dorsalen Striatums
Die Aufnahmen der Kernspintomographie, die Karin Foerde und Mitarbeiter durchführten, zeigten jedoch ein anderes Bild. Die Nahrungswahl wurde dort von einer Aktivierung im dorsalen Striatum begleitet, die Zweifel am freien Willen der Patientinnen lässt. Im dorsalen Striatum befinden sich Teile des Gewöhnungssystems, das gewohnheitsmäßige Handlungen steuert, die nicht unbedingt dem Willen unterworfen sind. In einer Kontrollgruppe von 21 gesunden Frauen wurde das dorsale Striatum bei der Auswahl der Nahrungsmittel nicht aktiviert. Sie hatten die Kontrolle über die Wahl der Nahrungsmittel nicht verloren.
Lesen Sie auch: Dicker Speck vs. Magersucht: Ein Kommentar
Vergleich mit Substanzabhängigkeit
Foerde kann ferner zeigen, dass es bei den Patientinnen zwischen dem dorsalen Striatum und dem dorsolateralen präfrontalen Cortex (dlPFC) eine vermehrte Kommunikation gibt. Der dorsolaterale präfrontale Cortex gehört zu den Entscheidungszentren des Gehirns, und die Befunde legen nahe, dass das dorsale Striatum dem dlPFC den Willen aufzwingt. Die Mitautoren Daphna Shohamy vergleicht die Anorexia nervosa hier mit Substanzabhängigkeit und Spielsucht. Die deutsche Bezeichnung „Magersucht“ könnte demnach den Kern der Erkrankung durchaus treffen.
Bedeutung der frühen Therapie
Je eher die Psychotherapie beginnt, desto besser seien die Aussichten auf Erfolg, sagt Voderholzer. «Wir motivieren die Betroffenen, gegen das eingelernte Verhalten anzukämpfen und sich den Ängsten zu stellen.» Zum einen sollte sie/er Körpergewicht, Essverhalten und gegebenenfalls auch zwanghaftes Sporttreiben schrittweise normalisieren. Zum anderen analysiert man mit ihr/ihm die auslösenden Faktoren der Essstörung sowie die Gründe dafür, dass an dieser festgehalten wird, und erarbeitet alternative Problemlösungsstrategien. Vermeiden solle man ein zu rigides Vorgehen. «Die Patientinnen und Patienten geben aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur kurzfristig nach, tauchen aber gleichzeitig in die Heimlichkeit ab und entziehen sich der Therapie.» Lange Zeit habe man die Angehörigen viel zu wenig eingebunden, findet Voderholzer. «Sie spielen aber eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Überwindung einer Essstörung. Ideal sind Psychoedukation, Familien- oder Paargespräche.» Je länger die Magersucht besteht, desto schwieriger ist es, dass die Betroffenen wieder lernen, normal zu essen. «Allein der Gedanke daran verursacht unangenehme Gefühle und Angst.
Langfristige Folgen und Begleiterkrankungen
Eine Magersucht hat unter Umständen erhebliche gesundheitliche Folgen (u.U. „biologische Narben“), die sich organisch manifestieren und/oder in psychischen Begleit- und Folgeerkrankungen äußern können. Inwieweit diese Schädigungen nach der Heilung reversibel sind, kann die Wissenschaft im Einzelnen noch nicht beantworten. Durch die Mangelernährung kann die pubertäre Reifung zum Erliegen kommen. Mädchen und junge Frauen, deren Menarche bereits eingesetzt hat, bekommen im Zustand des Hungerns eine (sekundäre) Amenorrhö, d.h. ihre Regelblutung bleibt aus und sie sind in dieser Zeit unfruchtbar. Bei Gewichtszunahme ist dieser Zustand in der Regel reversibel. Liegt der Erkrankungsbeginn vor der Pubertät, kann das Untergewicht zu einer Verzögerung pubertärer Entwicklungsschritte führen und eine primäre Amenorrhö zufolge haben, d.h. es kommt zu keinem normalen Menstruationszyklus. Der durch hormonelle Störungen ausgelöste Östrogenmangel kann zusammen mit einem Mineralstoff- und Vitaminmangel sowie anderen Hormonveränderungen (hohe Cortisolspiegel) zu einer krankhaften Knochenbrüchigkeit (Osteoporose) im Erwachsenenalter führen. Das Jugendalter ist für den Erwerb der maximalen Knochenmasse entscheidend. Mit zunehmendem Erkrankungsverlauf verringert sich die Knochendichte gegenüber gesunden Personen.
Weitere körperliche Beschwerden
Die Patienten leiden vielfach unter weiteren Beschwerden wie chronischer Verstopfung und ständigem Frieren. Häufige Begleiterscheinungen sind auch eine niedrige Pulsfrequenz und niedriger Blutdruck. Viele Betroffene weisen aufgrund des Mineralstoffmangels eine trockene, schuppige Haut auf und haben Haarausfall. Chronische Unterernährung kann unter Umständen noch andere schwerwiegende körperliche Schäden verursachen. Als Folge der Gewichtsabnahme werden wichtige Körpereiweiße, z.B. in der Muskulatur und auch im Herzmuskel, abgebaut. Ein starkes Untergewicht kann im schlimmsten Fall akute lebensbedrohliche Folgen haben, es kann zu einem Versagen der lebenswichtigen Organe wie Leber, Niere, Herz, kommen.
Psychische Begleiterkrankungen
Mindestens 10 - 20 % der Betroffenen entwickeln im Verlauf der Erkrankung eine Bulimia nervosa. Auch Angststörungen (insbesondere die Soziale Phobie, von der 20 - 55% aller anorektischen Patientinnen betroffen sind), Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und Substanzmittelmissbrauch treten gehäuft auf, die ebenfalls behandelt werden müssen. Nicht abschließend geklärt ist, in welchem Umfang diese Erkrankungen als Folgen der Mangelernährung gesehen werden müssen bzw.
Lesen Sie auch: Faszination Nesseltiere: Wie sie ohne Gehirn leben
tags: #magersucht #folgen #gehirn