Unterschiede im Gehirn von Mann und Frau: Eine differenzierte Betrachtung

Die Frage, ob sich das Gehirn von Männern und Frauen grundlegend unterscheidet, ist ein viel diskutiertes Thema in der Hirnforschung. Während es unbestreitbar körperliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, ist die Frage nach Unterschieden in der Gehirnstruktur und -funktion komplexer. Es gibt Hinweise darauf, dass Männer im Durchschnitt eine bessere räumliche Vorstellungskraft und mathematische Fähigkeiten haben, während Frauen oft als sprachlich begabter und empathischer gelten. Doch inwieweit sind diese Unterschiede angeboren oder durch Umweltfaktoren bedingt?

Nature vs. Nurture: Das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt

Die "Nature-oder-Nurture-Debatte" hat die Forschung lange Zeit geprägt. Inzwischen ist jedoch klar, dass sowohl genetische Anlagen als auch Umwelteinflüsse eine Rolle spielen. Eine Studie aus dem Jahr 2020, die Hirnscans von knapp 1.000 Männern und Frauen untersuchte, zeigte, dass es tatsächlich einige regionale Unterschiede im Gehirn gibt.

Unterschiede in der grauen Hirnsubstanz

Die Studie ergab, dass Frauen mehr graue Hirnsubstanz in bestimmten Regionen des Gehirns aufweisen, insbesondere im Stirnbereich (präfrontaler Cortex) und im Scheitel- und Schläfenhirn. Diese Bereiche sind für die Steuerung von Aufgaben und Impulsen sowie für die Verarbeitung von Konflikten zuständig. Männer hingegen besitzen mehr Volumen in hinteren und seitlichen Arealen des Cortex, die für die Erkennung und Verarbeitung von Objekten und Gesichtern verantwortlich sind.

Angeborene Unterschiede?

Die Forscher folgerten aus diesen Ergebnissen, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Gehirn zumindest teilweise angeboren sind. Dabei wiesen sie darauf hin, dass sich am menschlichen Erbgut seit mindestens 100.000 Jahren nichts mehr geändert hat. Unsere Steinzeitvorfahren hatten also die gleichen genetischen Anlagen wie wir heute.

Die Plastizität des Gehirns: Eine lebenslange Baustelle

Die moderne Hirnforschung hat gezeigt, dass sich das Gehirn immer so ausbildet, wie es benutzt und gebraucht wird. Unser digitales Zeitalter hinterlässt also auch in unserem Gehirn seine Spuren. Das Gehirn vernetzt sich, denkt und arbeitet so, wie es benutzt wird. Gerald Hüther vergleicht das Gehirn mit einem Orchester, das bei Männern und Frauen mit den gleichen Instrumenten besetzt ist. Allerdings haben Jungen und Mädchen von Anfang an unterschiedliche Voraussetzungen, da ihr "Fundament" unterschiedlich strukturiert ist.

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Hormone als Fundament, Umwelt als Ausbau

Die Hormone beeinflussen in diesem Bild das Fundament des Hauses, während die Umwelt den weiteren Ausbau beeinflusst. Allerdings müssen wir aus der Fülle an Informationen, die uns die Umwelt bietet, eine Auswahl treffen. Wir wählen das, was uns wichtig und bedeutsam erscheint.

Eigene Begeisterung als Motor der Entwicklung

Dieses unterschiedliche hormonell bedingte "Fundament" macht sich bereits sehr früh bemerkbar. Schon als Babys begeistern sich Jungen für andere Dinge als Mädchen. Wer zum Beispiel gerne Tennis spielt, mit Tieren umgeht oder sich an fremden Sprachen erfreut, wird dies in der Regel öfter tun. Und so werden die Nervenbahnen, die im Gehirn aktiviert werden, ähnlich einem Muskel bei zunehmendem Gebrauch ständig gestärkt. Das bedeutet: Wenn sich ein Gehirn auf eine bestimmte Weise entwickelt, ist nicht die Umwelt verantwortlich, sondern die eigene Begeisterung.

Strukturelle Unterschiede im Detail

Strukturelle Geschlechtsunterschiede zeigen sich sowohl makroskopisch als auch mikroskopisch. Das männliche Gehirn ist durchschnittlich etwa 15 % größer und schwerer als das weibliche. Dieser Unterschied bleibt auch nach Berücksichtigung der Körpergröße bestehen.

Subkortikale Strukturen und sexuelles Verhalten

Strukturelle Geschlechtsunterschiede in subkortikalen Strukturen, wie insbesondere dem Hypothalamus, werden mit Geschlechtsunterschieden in sexuellem und reproduktivem Verhalten in Verbindung gebracht.

Unterschiede im Neokortex

Im Neokortex zeigt das männliche Gehirn 15,5 % mehr Neurone als das weibliche. Außerdem weist der männliche Kortex in allen vier Hirnlappen eine höhere Anzahl und Dichte von Neuronen auf sowie ein größeres kortikales Volumen. Die kortikale Komplexität ist dagegen stärker bei Frauen ausgeprägt.

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Kortikale Substrukturen

Zu den strukturellen Geschlechtsunterschieden in kortikalen Substrukturen zählen u. a. das Planum temporale (Teil des Wernicke-Areals), das mit Sprachfunktionen assoziiert ist. Die typische linksseitige Asymmetrie dieser Struktur scheint bei Frauen reduziert zu sein. Weitere Beispiele sind der weniger asymmetrische Verlauf der Sylvischen Furche und Zentralfurche sowie ein größeres kommissurales Fasersystem bei Frauen, und hier insbesondere des posterioren Teils des Corpus callosums (Isthmus und Splenium), der die Interaktion zwischen den visuellen Arealen sicherstellt.

Zusammenhänge mit Intelligenz und kognitiven Fähigkeiten

Inwieweit strukturelle Geschlechtsunterschiede mit potenziellen Geschlechtsunterschieden in Intelligenz und spezifischen kognitiven Fähigkeiten (z. B. Denken, Problemlösen) zusammenhängen, ist weitestgehend unklar. Die Befunde sprechen jedoch dafür, dass das männliche und weibliche Gehirn funktionell unterschiedlich organisiert sind. Z. B. wird für Frauen eine stärkere interhemisphärische Interaktion sowie eine reduzierte funktionelle Hirnasymmetrie angenommen.

Die Rolle der Sexualhormone

Sexualhormone wirken auch in unserem Gehirn. Das kann zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Mikrostruktur des Denkorgans führen, berichtet ein internationales Forschungsteam um Dr. Sofie Valk vom Forschungszentrum Jülich und dem Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften.

Einfluss auf die Mikrostruktur des Gehirns

Neuere Studien legen nahe, dass die Hormone zu Unterschieden in der Mikrostruktur des Gehirns führen könnten. Wo die Abweichungen liegen, war bisher jedoch unklar. Die Forscher untersuchten, wie sich die Mikrostruktur in der Gehirnrinde von Männern und Frauen regional unterscheidet. Als Basis dienten Datensätze des Human Connectome Project, welches öffentlich zugänglich die Gehirn-Daten von 1000 Studienteilnehmer:innen enthält - darunter auch Magnetresonanztomographie-Aufnahmen, die die Forscherinnen analysierten. Diese Daten korrelierten sie mit den Angaben der Frauen zur Phase des Hormonzyklus und zur hormonellen Verhütung.

Veränderungen im Laufe des Zyklus

Die Forscher konnten zeigen, dass sich die Mikrostruktur der Gehirnrinde und des Hippocampus von Männern und Frauen regional unterscheidet. Wie diese Unterschiede im Einzelnen aussehen, hängt jedoch davon ab, ob die Frauen hormonell verhüten, und in welcher Phase des Zyklus sie sich befinden. Und die Unterschiede ändern sich - sie können kurzfristig sogar gänzlich verschwinden. Der Grund ist, dass sich das Hormonprofil von Frauen im Laufe des Zyklus ändert, während das von Männern recht konstant bleibt.

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Die Größe spielt keine Rolle?

In einer weiteren Studie nutzten die Forscher:innen um Dr. Sofie Valk und Bianca Serio den gleichen Datensatz, um zu untersuchen, ob bestimmte strukturelle Unterschiede zwischen Männer- und Frauengehirnen eine Rolle dabei spielen, wie sich Funktionssignale ausbreiten, also Informationen verarbeitet werden. Entgegen ihren Erwartungen konnten sie herausfinden, dass Unterschiede in der Gehirngröße, -mikrostruktur und Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche die funktionellen Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern nicht widerspiegeln können. Stattdessen könnten kleine Geschlechtsunterschiede in den Verbindungen innerhalb und zwischen funktionellen Netzwerken eine Rolle spielen.

Keine direkten Hinweise auf Verhaltensunterschiede

Die Daten liefern jedoch keine direkten Hinweise darauf, ob es frauen- oder männertypische Verhaltensweisen gibt. Die Forscherin weist außerdem darauf hin, dass bei den Studien die soziale Geschlechtsidentität nicht berücksichtigt wurde - also welchem Geschlecht sich jemand zugehörig fühlt. Sie haben sich zunächst auf das biologische Geschlecht konzentriert.

Struktur und Funktion sind nicht so unterschiedlich wie vermutet

Struktur und Funktion des Gehirns von Männern und Frauen sind nicht so unterschiedlich, wie man vermuten könnte - die Abweichungen sind eher klein. Für einige Hirnmerkmale unterscheiden sich die Gehirne innerhalb einer Geschlechtergruppe teilweise stärker als zwischen den Geschlechtsgruppen. Es gibt bei manchen Hirnmerkmalen kleine statistische Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen - doch das bedeutet nicht, dass es ‚männliche‘ oder ‚weibliche‘ Gehirne gibt.

Eine komplexe Kombination von Faktoren

Die Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns ist eine komplexe Kombination aus biologischen und kontinuierlichen Faktoren wie Körpergröße, Gewicht, Hormonen und Alter, aber auch aus Erfahrungen und Umwelteinflüssen. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind dabei lediglich statistische Mittel, um Gruppen zu unterscheiden. Auf individueller Ebene jedoch lässt sich kein männliches Gehirn von einem weiblichen unterscheiden - ähnlich wie man Männer und Frauen nicht zuverlässig aufgrund von Haarlänge oder Schuhgröße auseinanderhalten kann, obwohl es auch hier im Durchschnitt Unterschiede gibt.

Sexualhormone im Gehirn: Ein komplexes Zusammenspiel

Sexualhormone spielen im Gehirn eine große Rolle: An den Gliazellen, quasi dem Stützgerüst der Nervenzellen, sowie an den Nervenzellen selbst, befinden sich spezielle Rezeptoren. An diese können die Sexualhormone nach dem „Schlüssel-Schloss-Prinzip“ andocken - allerdings nur dann, wenn Hormon und Rezeptor zueinander passen wie der Schlüssel zum Schloss. Die Hormone können somit über verschiedene molekulare Mechanismen mit den wichtigsten Zellgruppen des Gehirns interagieren. Männliche und weibliche Hormone unterscheiden sich voneinander und auch die Menge der Hormone verändert sich - bei Frauen zum Beispiel mit dem monatlichen Zyklus. Das wirkt sich offenbar auch auf die Mikrostruktur des Gehirns aus.

Kritik am "Neurosexismus"

Die Neurowissenschaftlerin Lise Eliot kritisiert den Begriff "Neurosexismus", wenn Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Gehirnen als Erklärung für die Unterlegenheit von Frauen angeführt werden. Sie betont, dass die Wissenschaft oft benutzt wird, um schon bestehende Statusunterschiede zwischen Männern und Frauen zu untermauern.

Das Gehirn als "Mosaik" von Merkmalen

Die Neurowissenschaftlerin Daphna Joel argumentiert, dass Gehirne aus einzigartigen "Mosaiken" von Merkmalen bestehen. Manche Merkmale kommen häufiger bei Frauen vor als bei Männern, andere bei Männern häufiger als bei Frauen. Und dann gibt es noch solche, die sowohl bei Frauen als auch bei Männern vorkommen.

Die Bedeutung sozialer Erfahrungen

Lise Eliot betont, dass wir ein Produkt unserer sozialen Erfahrungen sind. Unser Gehirn ist plastisch und passt sich an die sich verändernde Umwelt an. Sie verweist auf Studien, die zeigen, dass sich das Gehirn von Menschen verändert, wenn sie zum ersten Mal Eltern werden oder eine Geschlechtsangleichung durchführen.

Fazit: Vielfalt statt Dichotomie

Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es zwar statistische Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen gibt, diese aber eher klein sind und sich oft innerhalb einer Geschlechtergruppe größere Unterschiede finden lassen als zwischen den Geschlechtern. Es gibt kein typisch "männliches" oder "weibliches" Gehirn. Die Struktur und Funktion des Gehirns ist eine komplexe Kombination aus biologischen Faktoren und Umwelteinflüssen.

Die Bedeutung individueller Unterschiede

Es ist wichtig, die individuellen Unterschiede innerhalb der Geschlechter zu berücksichtigen und nicht von Stereotypen auszugehen. Jeder Mensch ist einzigartig und hat seine eigenen Stärken und Schwächen, unabhängig von seinem Geschlecht.

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