Manfred Spitzer, ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm und Leiter des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL), hat sich mit seinen Thesen zur "Digitalen Demenz" eine breite Öffentlichkeit erobert. Seine Kritik am Medienkonsum, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, hat sowohl Zustimmung als auch heftigen Widerspruch hervorgerufen. Dieser Artikel beleuchtet die Kritik an Spitzers Thesen und setzt sich mit seinen Argumenten auseinander.
Spitzers Thesen im Überblick
Spitzer argumentiert in seinem Buch "Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen", dass digitale Medien süchtig machen und langfristig Körper und Geist schaden. Er behauptet, dass die Auslagerung geistiger Arbeit an Computer, Smartphones und andere Geräte zu Gedächtnisverlust, dem Absterben von Nervenzellen und einer Verminderung der Lernfähigkeit führt. Bei Kindern und Jugendlichen sieht Spitzer eine drastische Verminderung der Lernfähigkeit durch Bildschirmmedien, die zu Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängsten, Abstumpfung, Schlafstörungen, Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialem Abstieg führen könne. Er plädiert daher für eine Konsumbeschränkung, um der "digitalen Demenz" entgegenzuwirken.
Zustimmung und Unterstützung für Spitzer
Spitzers Thesen finden vor allem bei besorgten Eltern und Pädagogen Anklang. Auf den Kommentarseiten von Online-Buchhändlern wie Amazon äußern sich beispielsweise Berufsschullehrer, die an ihren Auszubildenden feststellen wollen, dass Spitzer richtig liege. Ein Buchhändler meint, dass Spitzers Kritik am Medienkonsum der Jugend durchaus angebracht sei. Die Anhänger Spitzers loben seine schlüssige und eindringliche Präsentation seiner Gedanken und sehen in ihm einen Kämpfer für den Schutz der künftigen Generation. Auch seine guten Kontakte zur Bundesbildungsministerin Annette Schavan, für die er das Konzept „Spielen macht Schule“ entwickelte, unterstreichen seine Bedeutung im Bildungsbereich.
Kritik an Spitzers Argumentation
Die Kritik an Spitzer konzentriert sich vor allem auf seine wissenschaftliche Argumentation und seine pauschale Verurteilung digitaler Medien. Kritiker wie der Web-2.0- und E-Learning-Experte Dr. Martin Lindner bemängeln, dass Spitzer keine saubere Begriffsbildung und Argumentation liefere. Der Begriff "digitale Demenz" werde von Spitzer in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, einmal als eine Art erworbene Hirnkrankheit, die durch Medienkonsum verursacht werde, und dann als Folge von Internet- und Computerspielsucht, die zu Depressionen und sozial dysfunktionalem Verhalten führe. Lindner kritisiert, dass Spitzer sich auf eine südkoreanische Umfrage zur Vergesslichkeit von Smartphone-Nutzern berufe, die keine medizinische Studie sei.
Auch Medienwissenschaftler kritisieren Spitzer für seine selektive Auswahl von Studien und seine Tendenz, Korrelationen als Kausalitäten darzustellen. So interpretiert Spitzer beispielsweise eine Grafik, die eine Korrelation zwischen Investitionen in Schulcomputer und der Leseleistung von Schülern zeigt, als Beweis dafür, dass Computer die Leseleistung verschlechtern. Die Autoren der Studie weisen jedoch darauf hin, dass es sich lediglich um eine Korrelation handelt und keine Kausalität bewiesen ist.
Lesen Sie auch: Der schwere Weg der Familie Rütter
Ein weiterer Kritikpunkt ist Spitzers Ignoranz gegenüber den positiven Aspekten digitaler Medien. Lindner betont, dass das Web 2.0 Menschen aus Randgruppen neue Lernmöglichkeiten eröffne und wissenshungrigen Jugendlichen aus deklassierten Schichten und Weltgegenden zugutekomme. Spitzer thematisiere dies jedoch nicht und ignoriere die Möglichkeiten der Selbstermächtigung und des Wissensaustauschs, die das Internet biete.
Spitzers Reaktion auf Kritik
Spitzer reagiert auf Kritik an seinen Thesen oft mit Unverständnis und Ablehnung. Er sieht Kritik als persönlichen Affront und unterstellt Journalisten und Medienwissenschaftlern, nur das zu berichten, "was die Linie ist". Statt sich auf eine sachliche Auseinandersetzung mit seinen Kritikern einzulassen, gibt er lieber Interviews auf Kanälen, die sich mit Verschwörungstheorien beschäftigen.
Die "Digitale Demenz" in der wissenschaftlichen Diskussion
Die wissenschaftliche Gemeinschaft steht Spitzers Thesen zur "Digitalen Demenz" überwiegend kritisch gegenüber. Hirnforscher wie Michael Madeja zweifeln an der Aussagekraft von Spitzers Hirnscans und betonen, dass Veränderungen im Gehirn durch intensive Internetnutzung so subtil und individuell seien, dass sie mit den aktuellen Methoden der Hirnforschung nicht erfassbar wären. Zudem sei der Begriff der Demenz in diesem Zusammenhang ungeeignet, da er in der Medizin einen krankhaften Verlust kognitiver Fähigkeiten bezeichne, der durch andere Ursachen ausgelöst werde.
Andere Forscher betonen, dass die Auswirkungen digitaler Medien auf das Gehirn komplexer seien, als Spitzer es darstelle. Sie weisen darauf hin, dass das Erlernen von Schriftsprache am Computer zum Aufbau der gleichen funktionellen Hirnsysteme führe wie die traditionelle Art mit Stift und Papier. Computer machen also nicht zwangsläufig dumm.
Medienpädagogik statt Abstinenz?
Viele Kritiker fordern eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema Medienkonsum und plädieren für Medienpädagogik statt Abstinenz. Sie betonen, dass ein totales Verbot digitaler Medien weder umsetzbar noch erstrebenswert sei, da Medien einen Großteil unseres Privat- und Arbeitslebens bestimmen. Stattdessen sei es wichtig, Kindern und Jugendlichen einen verantwortungsvollen Umgang mit Medien zu vermitteln und sie in ihrer Medienkompetenz zu fördern.
Lesen Sie auch: Gesundheitliche Herausforderungen von Martin Brambach
Lesen Sie auch: Hundeprofi in Trauer