Das Max-Planck-Institut für neurologische Forschung widmet sich der Erforschung des menschlichen Gehirns und seiner komplexen Funktionen. Im Zentrum der Arbeit stehen die neuronalen Grundlagen von Kognition, Verhalten und psychischer Gesundheit. Dabei werden verschiedene Forschungsbereiche abgedeckt, die von der molekularen Ebene bis hin zu komplexen sozialen Interaktionen reichen.
Die Interaktion von Gehirn und sozialem Umfeld
Ein zentraler Aspekt der Forschung ist die Interaktion zwischen dem menschlichen Gehirn und seinem sozialen Umfeld. Soziales Lernen und Erziehung prägen die Kognition maßgeblich. Soziale Unterstützung kann negative Erfahrungen abmildern und die "Gehirngesundheit" fördern. Umgekehrt können negative Erfahrungen und chronischer Stress die Gehirnarchitektur verändern. Dies unterstreicht die Bedeutung stabiler und unterstützender Umgebungen für eine gesunde Neuroentwicklung und ein gesundes Altern.
Die Lise-Meitner-Forschungsgruppe "Kognitive Neurogenetik" untersucht, wie biologische und soziale Faktoren die menschliche Gehirnfunktion, Kognition und Gesundheit beeinflussen. Mithilfe von bildgebenden Verfahren und Computermodellen werden die Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Umwelt analysiert, um zu verstehen, wie das Gehirn während der Entwicklung Stabilität und Plastizität ausbalanciert. Angesichts der langen Neuroentwicklung und der Bedeutung sozialer Beziehungen für Erziehung und Lernen wird die entscheidende Rolle sozialer Faktoren bei der Gestaltung der Gehirnstruktur und der kognitiven Funktion betont.
Um diese Fragen zu beantworten, greift die Forschungsgruppe auf ein breites Spektrum von Daten zurück, darunter MRT-basierte Neuroanatomie, histologische Daten, Genomik, Geodaten, aufgabenbasierte Bewertungen und Selbstberichte. Dieser umfassende Ansatz verdeutlicht das komplexe Zusammenspiel zwischen Neurobiologie und sozialem Kontext.
Forschungsschwerpunkte der Lise-Meitner-Gruppe
Das Team von Dr. Sofie Valk ist am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und am Forschungszentrum Jülich angesiedelt. Die Arbeit umfasst drei Kernbereiche:
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- Theoretische Neurowissenschaften
- Neurobiologie
- Soziale Neurowissenschaften
Diese Bereiche sind eng miteinander verbunden und bilden die Grundlage für die Untersuchungen. Computergestützte Methoden sind von zentraler Bedeutung - biophysikalische Modellierung und maschinelle Lerntechniken werden angewendet und neue analytische Methoden entwickelt.
Die Forschungsgruppe legt Wert auf eine offene und transparente Wissenschaft, indem sie ihren gesamten Code auf GitHub zur Verfügung stellt und ihre Arbeiten mit offenem Zugang veröffentlicht. Im Labor wird eine Kultur der Forschung, der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Respekts gefördert, in der gemeinsam gelernt und gewachsen wird.
Neurobiologische Grundlagen der Gehirnstruktur
Um zu verstehen, wie die Gehirnstruktur die Funktion sowohl einschränkt als auch ermöglicht, werden ihre neurobiologischen, genetischen und evolutionären Grundlagen untersucht. Bisherige Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass die Gehirnstruktur genetisch entlang großräumiger Achsen organisiert ist und die schichtspezifische Organisation des menschlichen Gehirns aufgeklärt. Darüber hinaus wurden vererbbare intrinsische mikrostrukturelle und funktionelle Asymmetrien in Gehirnregionen identifiziert, die an Sprache und Aufmerksamkeit beteiligt sind.
Zukünftig soll das Verständnis der Organisation des menschlichen Gehirns vertieft werden, indem multiskalige Datensätze integriert werden, einschließlich neu erworbener ultrahochauflösender Daten mit 7-Tesla-MRT. Im Rahmen dieser Forschung werden biophysikalische Modelle erweitert und rechnerische Rahmenwerke entwickelt, um die Beziehung zwischen Gehirnstruktur und -funktion besser abzubilden.
Biologische Faktoren und ihre Auswirkungen auf das Gehirn
Ein weiterer Forschungsbereich konzentriert sich darauf, wie biologische Faktoren - einschließlich Genetik, Hormone und Immunreaktionen - die Struktur und Funktion des Gehirns über die gesamte Lebensspanne hinweg beeinflussen. Stresshormone wie Cortisol können die Gehirnfunktion beeinflussen, und genetische Veranlagungen prägen die neuronale Entwicklung im Zusammenspiel mit dem sozialen Umfeld. Jüngste Studien haben beispielsweise geschlechtsspezifische Unterschiede in der Struktur und Funktion des Gehirns nachgewiesen, was die Bedeutung der Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Faktoren in der Hirnforschung unterstreicht.
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Diese Ergebnisse sollen durch den Einsatz fortschrittlicher Computermodelle erweitert werden, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen biologischen Faktoren und der Gehirnstruktur zu untersuchen.
Umwelteinflüsse und soziale Kognition
Während genetische Faktoren die Gehirnstruktur prägen, spielen Umwelteinflüsse - insbesondere die kontextspezifische Plastizität - eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Gehirnfunktion während der gesamten Lebensspanne. Das soziale Umfeld ist aufgrund der verlängerten Reifung der Großhirnrinde und der Auswirkungen des soziokulturellen Lernens besonders einflussreich. Veränderungen der Anforderungen des sozialen Umfelds, beispielsweise durch mentales Training, können die kortikale Struktur und Funktion verändern und gleichzeitig die sozialen kognitiven Fähigkeiten verbessern. Kürzlich wurde gezeigt, dass die mikrostrukturelle Rekonfiguration des Gehirns mit einer widerstandsfähigen Anpassung während der Adoleszenz verbunden ist, was auf ein komplexes Zusammenspiel zwischen neurobiologischen Faktoren, internen Funktionsmodellen und der Anpassung an negative Erfahrungen hindeutet.
Das Gehirn ist kein passiver Empfänger des sozialen Umfelds, sondern produziert aktiv soziale Kognition, um die Interaktionen mit anderen zu steuern. Der Kleinhirn-Krus I/II spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung sozialer kognitiver Funktionen in der frühen Kindheit.
Zukünftig soll weiterhin untersucht werden, wie soziale Faktoren mit der Struktur und Funktion des Gehirns interagieren, mit einem Schwerpunkt auf sozialem Stress und soziokognitiven Prozessen, und zwar durch Querschnitts- und Längsschnittstudien unter Verwendung fortschrittlicher Gehirnmodelle. In Zusammenarbeit mit der ENIGMA-Gradienten-Arbeitsgruppe werden auch transdiagnostische Marker für psychische Störungen untersucht, um das Verständnis der biologischen Mechanismen, die diesen Erkrankungen zugrunde liegen, zu vertiefen.
Implikationen und Anwendungen der Forschung
Der neurobiologisch-soziale Rahmen bietet einen umfassenden Ansatz zum Verständnis des Zusammenspiels zwischen biologischen Faktoren, sozialem Umfeld und menschlichem Verhalten, der wichtige Auswirkungen auf zahlreiche Bereiche hat:
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- Neurowissenschaften: Die Forschung liefert neue Erkenntnisse und Modelle, um besser zu verstehen, wie das Gehirn in einer sich ständig verändernden Umgebung funktioniert, wobei die dynamische Interaktion zwischen Biologie und Kontext im Vordergrund steht.
- Entwicklungs- und Lebensspannenpsychologie: Es wird untersucht, wie Lebenserfahrungen wie Erziehung, Bildung und Sozialisation mit biologischen Faktoren zusammenwirken, um die Entwicklung des Gehirns und die emotionale Regulierung über die gesamte Lebensspanne zu beeinflussen.
- Psychische Gesundheit: Durch die Untersuchung der neurobiologischen Auswirkungen sozialer Umgebungen - wie Traumata oder unterstützende Beziehungen - sollen präzisere Präventionsstrategien, Diagnosen und Behandlungen für psychische Störungen wie Depressionen und Angstzustände entwickelt werden. Die Arbeit unterstreicht, wie wichtig es ist, soziale Ungleichheiten zu beseitigen, um die Gesundheitsergebnisse zu verbessern. Initiativen zur Verringerung der Kinderarmut und zur Verbesserung des Zugangs zur psychiatrischen Versorgung können einen tiefgreifenden Einfluss auf die Gehirngesundheit der gesamten Bevölkerung haben.
- Ethische Erwägungen: Die Forschung gibt Anlass zu wichtigen Diskussionen über die gesellschaftlichen Auswirkungen von genetischen und neurologischen Informationen. Es wird betont, wie wichtig es ist, sicherzustellen, dass solche Erkenntnisse zur Unterstützung und nicht zur Stigmatisierung von Personen verwendet werden.
Synapsen als zentrale Forschungseinheit
Ein weiterer wichtiger Forschungsbereich am Max-Planck-Institut ist die Untersuchung von Synapsen. Synapsen sind die zentralen Prozessoren von Informationen im Gehirn. Ihre Funktion, Effizienz und Plastizität sind der Grundstein aller Gehirnfunktionen und dem daraus folgenden Verhalten. Abweichende Synapsenaktivität ist die Ursache vieler neurologischer und psychiatrischer Störungen.
Der Sonderforschungsbereich (SFB) 1286 an der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) mit dem Titel "Quantitative Synaptologie" wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Ziel des SFB ist es, eine breite Palette molekularer, struktureller und funktioneller Daten zu einer prototypischen, gemittelten Modellsynapse zu erhalten und gleichzeitig die rechnerischen Aspekte stark zu verstärken. Die Lokalisation vieler synaptischer Organellen und Proteine, die Anzahl ihrer Kopien, ihre Bewegungsgeschwindigkeiten, ihr Stoffwechselumsatz, mehrere ihrer posttranslationalen Modifikationen und ihre Interaktome werden bestimmt. Es werden auch Analysen von neuronalen und synaptischen RNAs sowie Lipiden durchgeführt.
Die Forschung befasst sich mit mehreren Aspekten der synaptischen Übertragung, von der Bewegung von Proteinen und der Organisation im Nanobereich bis hin zur Langzeitdynamik und Plastizität. Diese werden aus Membrankoordinaten mehrerer Zellschichten modelliert. Von verschiedenen Proteintypen wird Anzahl und Lokalisation bestimmt, so dass diese entsprechend im Synapsenzytosol bzw. auf den synaptischen Membranen positioniert werden können.
Max Planck Schools und Clinician Scientist Program
Die Max Planck Schools bündeln die ortsverteilte Exzellenz an deutschen Universitäten und Instituten der außeruniversitären Forschungseinrichtungen Max-Planck, Fraunhofer, Leibniz und Helmholtz zur Qualifizierung wissenschaftlicher Nachwuchstalente auf Weltniveau. Dafür entwickeln und pilotieren die Max Planck Schools innovative Elemente in der Promotionsförderung, um talentierte Nachwuchswissenschaftler*innen möglichst frühzeitig zu gewinnen.
Ein neu konzipiertes Instrument ist das seit 2021 entwickelte Clinician Scientist Program (CSP) der Max Planck School of Cognition (MPS Cognition). Dieses neuartige Programm richtet sich vor allem an interessierte Bewerberinnen mit einem medizinischen Abschluss, die eine wissenschaftliche Laufbahn in den Bereichen Psychiatrie und (kognitive) Neurologie anstreben. Ziel dieser Initiative ist es, herausragende junge Medizinstudentinnen mit einem starken Forschungsinteresse frühzeitig zu rekrutieren und die Lücke zwischen klinischer Ausbildung und Forschungstätigkeit im Bereich Kognitionswissenschaften zu schließen.
Ein eigens dafür entwickeltes Mentoring-Programm von herausragenden Fellows mit medizinischem Hintergrund ermöglicht den ausgewählten Kandidatinnen Zugang zu exzellenter Infrastruktur und innovativen Lehrformaten und bietet enge Supervision durch führende Wissenschafterinnen der jeweiligen Disziplinen.
Max Planck University of Toronto Center for NeuroPhysics
Das Max Planck University of Toronto Center for NeuroPhysics verfolgt das Ziel, bessere Therapien von Erkrankungen wie Demenz oder Parkinson zu entwickeln, aber auch leistungsfähigere Computer und neue Verfahren der künstlichen Intelligenz zu schaffen. Das menschliche Gehirn dient als Blaupause für leistungsfähigere Computer. Um seine Arbeitsweise nachzuahmen, muss die Neurowissenschaft diese erst einmal im Detail verstehen.
Forscherinnen und Forscher am Max Planck University of Toronto Center for NeuroPhysics entwickeln Methoden, die das ermöglichen. Das bessere Verständnis von Nerven und neuronalen Schaltkreisen wollen sie auch nutzen, um neue Ansätze in der Behandlung neurodegenerativer Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson zu finden.
Das Center verfolgt mehrere Teilprojekte. Mithilfe der Mikro- und Nanotechnologie sollen zunächst Sensoren und Aktuatoren entwickelt werden, um neuronale Schaltkreise sowohl in Zellkulturen als auch in lebenden Organismen zu untersuchen und zu stimulieren. Die implantierbaren Instrumente, die dabei entstehen, werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzen, um in Tieren die Aktivität einzelner Neuronen mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung zu messen und mit dem Verhalten der Tiere in Verbindung zu setzen. Ergänzend dazu werden sie in Experimenten an menschlichen Nervenzellen erforschen, was die Besonderheiten des menschlichen Gehirns ausmacht. Zu einem besseren Verständnis, wie unser Gehirn arbeitet, tragen darüber hinaus theoretische und biophysikalische Modelluntersuchungen bei. Auf Basis der Erkenntnisse, die sie so gewinnen, wollen die Forscherinnen und Forscher dann neuartige Computer-Bauteile für Algorithmen des maschinelles Lernens, des derzeit wichtigsten Ansatzes in der künstlichen Intelligenz, entwickeln.
International Max Planck Research School on Cognitive NeuroImaging (IMPRS CoNI)
In enger Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig startet das Institut die internationale Graduiertenschule International Max Planck Research School on Cognitive NeuroImaging (IMPRS CoNI). Sie gibt besonders begabten Studierenden die Chance, unter exzellenten Bedingungen im Bereich kognitive Neurowissenschaften mit einem Schwerpunkt auf bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomographie zu promovieren. Jede:r Doktorand:in folgt einem einzeln angepassten Ausbildungsplan, durch den sich jede und jeder nach individuellen fachlichen Bedürfnissen weiterbilden kann.
Die IMPRS CoNI wird drei Forschungsbereiche der Neurowissenschaften zusammenbringen: die kognitiven Neurowissenschaften, die klinischen und translationalen Neurowissenschaften und die (Weiter-)Entwicklung neuer neurowissenschaftlicher bildgebender Verfahren und Modellierungsprozesse. Dabei sollen zunächst Erkenntnisse in der Grundlagenforschung gewonnen werden, die dann idealerweise später in die medizinische Anwendung übertragen werden oder darauf geprüft werden - etwa, wenn es um die Therapie von Schlaganfallpatienten oder Depression geht.
Grundlage der Doktorandenschule ist eine enge Kooperation mit führenden regionalen und internationalen Partnerinstitutionen, darunter die Universität Leipzig, die Fakultät für Psychologie der TU Dresden und die Fakultät für Hirnforschung am University College London.
Innerhalb der Schule werden in einem mehrstufigen und hochkompetitiven Verfahren jedes Jahr rund 25 neue Doktorand:innen aufgenommen. Sie widmen sich an einer der vier beteiligten Einrichtungen einem individuell zugeschnittenen Forschungsthema. Dabei werden sie eng von ihrem Thesis Advisory Committee begleitet, das zur Qualitätskontrolle der wissenschaftlichen Arbeit beitragen und gleichzeitig die Abhängigkeit der Promovierenden von einem einzelnen Wissenschaftler reduzieren soll.
Weitere Forschungsbereiche
Neben den bereits genannten Schwerpunkten gibt es am Max-Planck-Institut für neurologische Forschung eine Vielzahl weiterer Forschungsbereiche, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des Gehirns und seiner Funktionen beschäftigen. Dazu gehören:
- Pädagogische und Entwicklungspsychologie: Erforschung des Einflusses von Schulbildung, insbesondere des Erlernens von Lesen und Rechnen, auf das Gehirn.
- Kognitive Neurowissenschaften: Untersuchung der neuronalen Mechanismen, die kognitiven Funktionen wie Arbeitsgedächtnis, Sprache, kognitive Kontrolle und Entscheidungsfindung zugrunde liegen.
- Mathematische Modellierung und Simulation: Modellierung und Simulation raumzeitlicher Prozesse, insbesondere der Zellmotilität.
- Individualisierte Psychotherapie: Entwicklung und Evaluation von evidenzbasierten individualisierten bzw. personalisierten Psychotherapiekonzepten.
- Frontoparietale Gehirnnetzwerke: Untersuchung der funktionellen Rolle und der Topografie des frontoparietalen Netzwerks bei individuellen Personen.
- Einfluss der physikalischen Umwelt: Erforschung der Auswirkungen der physikalischen Umwelt auf das Individuum, insbesondere die Komplexität der Umweltfaktoren und deren Einfluss auf die Plastizität des Hirns und auf Veränderungen des Verhaltens.