Motorische Störungen nach Schlaganfall: Therapieansätze und innovative Behandlungen

Ein Schlaganfall kann das Leben von einer Minute zur nächsten verändern und Betroffene in ihrem Alltag tiefgreifend einschränken. Er gehört zu den häufigsten Ursachen erworbener Behinderungen, wobei jährlich rund 270.000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall erleiden. Die Folgen sind oft anhaltende motorische Defizite, die eine gezielte, individuelle Behandlung erfordern, um die Lebensqualität und Selbstständigkeit der Betroffenen bestmöglich wiederherzustellen.

Neuropsychologische Folgen eines Schlaganfalls

Ein Schlaganfall kann nicht nur motorische, sondern auch kognitive und emotionale Veränderungen hervorrufen. Diese neuropsychologischen Folgen können die Lebensqualität und Selbstständigkeit der Betroffenen erheblich beeinträchtigen und die Rehabilitationsprognose verschlechtern.

Kognitive Beeinträchtigungen

  • Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen: Bis zu 80 % der Schlaganfall-Betroffenen leiden unter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, insbesondere in der Akutphase.
  • Gedächtnisstörungen: Betroffen sind vor allem das episodische Gedächtnis (Erinnerung an persönliche Ereignisse) und das prospektive Gedächtnis (Erinnerung an geplante Handlungen).
  • Exekutive Dysfunktionen: Insbesondere nach frontalen und subkortikalen Läsionen sind exekutive Funktionen wie Handlungsplanung, Flexibilität, Fehlerkontrolle und Zielausrichtung beeinträchtigt.
  • Sprachstörungen (Aphasie): Je nach Lokalisation der Schädigung können verschiedene Formen der Aphasie auftreten, die das Sprachvermögen deutlich beeinträchtigen.
  • Neglect: Das Ausblenden der gegenüberliegenden Raum- oder Körperhälfte tritt oft nach rechtshemisphärischen Parietalläsionen auf.
  • Apraxie: Erlernte Handlungsfolgen sind nicht mehr korrekt ausführbar, obwohl die Motorik und die Sprache an sich intakt sind.
  • Vaskuläre kognitive Störung/Demenz: Ein Teil der Patientinnen und Patienten entwickelt im Verlauf eine vaskuläre kognitive Störung bis hin zur Demenz.

Emotionale und Verhaltensänderungen

  • Depressive Störungen: Sie gehören zu den häufigsten neuropsychiatrischen Folgen eines Schlaganfalls.
  • Angststörungen: Viele Betroffene leiden unter Ängsten, beispielsweise vor einem erneuten Insult, vor Abhängigkeit, Kontrollverlust oder sozialer Isolation.
  • Apathie: In der Akutphase kann sich eine ausgeprägte Apathie mit Antriebslosigkeit, Initiativmangel und fehlender emotionaler Resonanz entwickeln.
  • Post-Stroke Fatigue: Diese anhaltende Erschöpfung betrifft die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit gleichermaßen.
  • Affektinkontinenz/Pseudobulbäre Affektstörung: Betroffene zeigen unwillkürliche, plötzlich einsetzende Gefühlsausbrüche wie Lachen oder Weinen, die nicht mit der eigentlichen Stimmungslage übereinstimmen.
  • Erhöhte Reizbarkeit, Impulsivität und gesteigerte Aggressivität: Diese emotionalen und Verhaltenssymptome können die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehörigen erheblich beeinträchtigen.

Diagnostik neuropsychologischer Störungen

Eine differenzierte Diagnostik neuropsychologischer Störungen nach einem Schlaganfall bildet die Grundlage für eine erfolgreiche, individuelle Rehabilitation. Bereits im Akutkrankenhaus werden kurze Screening-Verfahren eingesetzt, um kognitive Störungen rasch zu erfassen. Für die detaillierte Therapieplanung werden anschließend aufeinander abgestimmte Testbatterien eingesetzt. Neben den Testverfahren ist die alltagsnahe Beurteilung entscheidend. Mittels Bildgebung (CT oder MRT) können Läsionen lokalisiert, alternative Diagnosen ausgeschlossen und das Ausmaß der Schädigung eingeschätzt werden. Ein besonderer diagnostischer Schwerpunkt liegt auf der Prüfung der Krankheitseinsicht, beispielsweise bei einer Anosognosie.

Therapieansätze bei motorischen Störungen nach Schlaganfall

Nach einem Schlaganfall ist es entscheidend, so schnell wie möglich mit der Rehabilitation zu beginnen. Physiotherapie unterstützt die Betroffenen dabei, ihre Bewegungsfähigkeit und Selbstständigkeit schrittweise zurückzugewinnen. Die Therapie konzentriert sich auf verschiedene Schwerpunkte:

  • Aktivierung der Muskeln und Verbesserung der Kraft
  • Förderung von Bewegungsabläufen und Flexibilität
  • Gleichgewichtstraining und Sturzprävention
  • Förderung der Selbstständigkeit im Alltag

Es gibt eine Vielzahl von Therapieansätzen, die je nach individuellem Bedarf und Ausprägung der motorischen Störungen eingesetzt werden können.

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Klassische Therapieansätze

  • Bobath-Konzept: Dieser Therapieansatz wird zur Behandlung von Menschen mit Störungen des Muskeltonus und sensiblen Störungen eingesetzt. Ziel ist die Verbesserung der funktionellen Fähigkeiten, sodass der Patient wieder am täglichen Leben teilnehmen kann. Im Unterschied zu anderen Therapiekonzepten gibt es im Bobath-Konzept keine standardisierten Übungen. Es ist ein 24 Stunden-Konzept, mit dem möglichst früh begonnen werden sollte. Im Vordergrund stehen individuelle und alltagsbezogene therapeutische Aktivitäten, die den Patienten in seinem Tagesablauf begleiten. Hauptprinzip dabei ist es, die mehr betroffene Körperseite immer wieder in Alltagsbewegungen einzubeziehen.
  • Aufgabenorientiertes Training (AOT): AOT kommt unter anderem für Menschen mit grob- und feinmotorischen Störungen infrage. Ziel ist es, die einzelne Bewegungsabläufe zu verbessern. Dies kann sich auf den Gang beziehen, aber auch auf Arm- und Handbewegungen. Beim AOT orientiert sich das Training an einem konkreten Alltagsbezug der Übungen. Die jeweilige Handlung wird sehr oft wiederholt. Die Patienten üben an der Leistungsgrenze.
  • Laufbandtraining: Das Laufbandtraining hilft vor allem bei der Verbesserung der Gehgeschwindigkeit und der Ausdauer. Bei Bedarf besteht außerdem die Möglichkeit, ein Gurtsystem anzulegen, um das Körpergewicht während des Übens auf dem Laufband zu verringern.
  • Arm-Basis-Training: Mit dem Arm-Basis-Training übt man jeden Tag die Bewegungsfähigkeit wiederholt und einzeln in den verschiedenen Abschnitten von Arm, Hand und Fingern. Sie sollte bei Patienten früh nach dem Schlaganfall durchgeführt werden.
  • Arm-Fähigkeits-Training: Das Arm-Fähigkeits-Training trainiert täglich Präzision und Geschwindigkeit („Geschicklichkeit“) bei verschiedenen Armfunktions-Anforderungen an der individuellen Leistungsgrenze.

Spezielle Therapieansätze

  • Constraint-Induced Movement Therapy (CIMT): CIMT ist eine spezielle Therapie für Schlaganfall-Betroffene mit einem „erlernten Nicht-Gebrauch“. Dabei wird der nicht-betroffene Arm über mehrere Stunden täglich immobilisiert, um den verstärkten Einsatz des betroffenen Armes im Alltag zu fördern. Wichtig ist zu beachten, dass die Therapie nur dann infrage kommt, wenn keine vollständige Lähmung vorliegt und die Handfunktion teilweise noch erhalten ist.
  • Elektrostimulation: Durch einen Schlaganfall funktioniert die Signalweiterleitung vom Gehirn über das Rückenmark und die Nervenbahnen an den Muskel teilweise nicht mehr. Die Elektrotherapie kann dabei helfen, Bewegungsabläufe mit Unterstützung von Elektrostimulation wieder zu erlernen. Es gibt verschiedene Formen der Elektrostimulation:
    • Neuromuskuläre Elektrostimulation (NMES): Bei der NMES werden Elektroden auf dem betroffenen Muskel platziert, um die darunter liegenden Nerven und Muskeln zu stimulieren und eine Bewegung zu erzeugen.
    • EMG (Elektromyographie)-getriggerte Elektrostimulation (EMG-ES): Die EMG-Elektroden werden auf der Muskelgruppe platziert, die therapiert werden soll. Ab einem gewissen Maß an Muskelaktivität erfolgt die elektrische Stimulation, die wieder eine kräftigere Muskelaktivität mit Bewegung erzeugt.
    • Funktionelle Elektrostimulation (FES): Bei der FES werden meist mehrere Elektroden auf die Haut geklebt und mehrere betroffene Muskeln werden durch elektrische Stimulation dazu gebracht, sich zusammen zu ziehen. Dadurch können nicht nur einzelne Bewegungen, sondern Aktivitäten wie das Greifen und Loslassen von Gegenständen mittels Elektrostimulation ermöglicht werden.
  • Arm-Robot-Therapie: Mit Hilfe des Arm-Roboters soll die Ansteuerung des Armes und der Hand bei Schweren Lähmungen wiedererreicht werden. Der betroffene Arm wird oft in eine Art Roboterschiene gelegt, die die Bewegungen unterstützt. Die Roboter erkennen, welche Bewegungen der Betroffene selbst ausführen kann und an welchen Stellen sie unterstützen müssen.
  • Spiegeltherapie: Bei der Spiegeltherapie betrachtet der Patient im Spiegel die Bewegung seiner nicht gelähmten Hand. Durch den Blick in den Spiegel sieht diese Bewegung so aus als würde sich seine gelähmte Hand ganz normal bewegen.
  • Transkranielle Magnetstimulation (TMS): Durch transkranielle Magnetstimulation können Betroffene mithilfe kurzer Reizimpulse bei der Rehabilitation unterstützt werden. Dabei wird das motorische Netzwerk im Gehirn auf die im Anschluss stattfindende Physiotherapie und den damit verbundenen Lernvorgang vorbereitet.

Hilfsmittel zur Unterstützung der Rehabilitation

Neben den genannten Therapieansätzen können auch verschiedene Hilfsmittel eingesetzt werden, um die Rehabilitation zu unterstützen und die Selbstständigkeit der Betroffenen zu fördern. Dazu gehören beispielsweise:

  • Sprunggelenksorthesen: Sie helfen Betroffenen mit einer Fußheberschwäche, die als Folge des Schlaganfalls entstehen kann.
  • Technische Alltagshilfen: Erinnerungs-Apps oder elektronische Orientierungssysteme können die Selbstständigkeit fördern.
  • Roboter bzw. elektromechanische Geräte: Sie helfen Betroffenen, wieder gehen zu lernen. Dabei gibt es zwei unterschiedliche Geräte-Arten:
    • Endeffektor-Modelle: Zu diesem Gerätetyp zählt zum Beispiel der Gangtrainer.
    • Exoskelett-Modelle: Diese Geräte werden vorwiegend verwendet, wenn der Betroffene noch mehr Unterstützung beim Gehen benötigt. Ein Beispiel ist der robotergestützte Lokomat.

Neuroplastizität: Die Fähigkeit des Gehirns zur Anpassung

Ein besonders wichtiger Aspekt im Genesungsprozess ist die Fähigkeit des Gehirns zur sogenannten Neuroplastizität. Das Gehirn hat die bemerkenswerte Fähigkeit, sich nach einem Schlaganfall neu zu organisieren, indem es neue Nervenverbindungen bildet. Durch gezielte physiotherapeutische Übungen wird dieser Prozess gefördert. Das Gehirn kann motorische Funktionen neu trainieren und erlernen, was essenziell für den Genesungsprozess ist.

Ziele der Rehabilitation und Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit

Das Ziel der Rehabilitation nach einem Schlaganfall ist es, nicht nur einzelne Defizite zu lindern, sondern die Lebensqualität, Selbstständigkeit und gesellschaftliche Teilhabe insgesamt bestmöglich wiederherzustellen. Entscheidend ist, dass die im Klinikalltag erreichten Fortschritte in den realen Alltag übertragen werden. Dies betrifft sowohl die Selbstversorgung und Mobilität als auch die berufliche und soziale Wiedereingliederung. Hierbei spielt die enge Abstimmung zwischen den beteiligten Disziplinen - Neurologie, Neuropsychologie, Logopädie, Ergo- und Physiotherapie sowie Sozialberatung - eine Schlüsselrolle.

Bedeutung der frühzeitigen Erkennung und Behandlung neuropsychologischer Störungen

Eine erfolgreiche Rehabilitation nach einem Schlaganfall hängt entscheidend von der frühzeitigen Erkennung und kontinuierlichen Behandlung neuropsychologischer Störungen ab. Da sich kognitive und emotionale Einschränkungen oft schleichend entwickeln, können sie leicht übersehen werden. In modernen Schlaganfallzentren beginnt die Prävention bereits während der Akutbehandlung. Neben der medizinischen Stabilisierung sollten alle Patientinnen und Patienten routinemäßig auf kognitive und emotionale Störungen untersucht werden.

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