Der Schlaganfall ist eine der Hauptursachen für dauerhafte Behinderungen im Erwachsenenalter weltweit. Typische Folgen sind asymmetrische Gangmuster, verringerte Gehgeschwindigkeit und erhöhtes Sturzrisiko, was die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Die Gehrehabilitation zielt darauf ab, diese Defizite durch gezielte motorische Lernstrategien zu verbessern.
Explizites vs. Implizites motorisches Lernen
Motorisches Lernen ist ein komplexer Prozess, der es uns ermöglicht, neue Bewegungsabläufe zu erlernen und bestehende zu verfeinern. Es gibt zwei Hauptformen des motorischen Lernens: explizites und implizites Lernen.
Explizites motorisches Lernen wird bewusst durch Instruktionen und Feedback gesteuert. Es erfordert die aktive Planung und Anpassung von Bewegungen und wird primär im präfrontalen Kortex verarbeitet. Im Gegensatz dazu erfolgt implizites Lernen automatisch, indem das Nervensystem sensorische Vorhersagefehler erkennt und korrigiert. Besonders das implizite Lernen trägt entscheidend zur nachhaltigen Integration von Bewegungsmustern bei, da es weniger kognitive Ressourcen benötigt und alltagsrelevante Bewegungen unterstützt. Explizites Lernen ermöglicht präzise Korrekturen, insbesondere in der frühen Rehabilitationsphase.
Die Studie von Wood und Kollegen
Eine aktuelle Studie von Wood und Kollegen vom us-amerikanischen Department of Physical Therapy der University of Delaware untersucht die Beeinträchtigungen expliziter und impliziter Lernprozesse bei Menschen mit chronischem Schlaganfall und beleuchtet deren Relevanz für die klinische Praxis unter praktischen Laborbedingungen.
Methodik
In der Studie nutzten die Forscher ein experimentelles Paradigma, um explizites und implizites motorisches Lernen bei Personen mit chronischem Schlaganfall sowie einer Kontrollgruppe gesunder Teilnehmer zu untersuchen. Die Experimente wurden auf einem sogenannten Split-Belt-Laufband durchgeführt. Dieses Laufband verfügt über zwei unabhängig voneinander bewegliche Bänder, die unter jedem Fuß mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten laufen können. Diese Anordnung erzeugt asymmetrische Gangmuster, die gezielt genutzt werden, um motorische Anpassungsprozesse zu analysieren.
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Nach einer initialen Baseline-Phase, in der beide Laufbänder mit gleicher Geschwindigkeit liefen und kein visuelles Feedback gegeben wurde, absolvierten die Probanden eine 3-minütige Praxisphase. Diese Phase diente dazu, die Teilnehmer an das visuelle Feedback zu gewöhnen und sicherzustellen, dass sie in der Lage waren, bewusst auf das Feedback zu reagieren, indem sie ihre Schrittlängen gezielt anpassten.
Darauf folgte eine 8-minütige Adaptationsphase, in der die Laufbänder mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten liefen: Das schnellere Band bewegte sich mit der maximalen Gehgeschwindigkeit der Teilnehmer, während das langsamere Band mit halber Geschwindigkeit betrieben wurde. Diese Geschwindigkeitsdifferenz erzeugte asymmetrische Schrittlängen, die die Teilnehmer durch bewusstes Nutzen des visuellen Feedbacks strategisch korrigieren sollten. Nach diesen 40 Schritten wurde das visuelle Feedback entfernt, und die Teilnehmer wurden angewiesen, in einem für sie komfortablen Gangmuster weiterzugehen. Diese Veränderung eliminierte bewusst gesteuerte Anpassungen und richtete den Fokus auf das implizite Lernen.
Zur Bewertung der Lernmechanismen wurde ein neuartiger Adaptationsindex entwickelt, basierend auf einem Voluntary-Correction-Model-Ansatz. Individuell angepasste Lernstrategien sind der Schlüssel zur effektiven Wiederherstellung motorischer Fähigkeiten nach einem Schlaganfall.
Nach Abschluss der Adaptationsphase folgte eine 8-minütige De-Adaptationsphase, in der beide Laufbänder wieder mit derselben Geschwindigkeit wie in der Baseline-Phase betrieben wurden. In dieser Phase wurden die Teilnehmer angewiesen, „komfortabel zu gehen“. Die De-Adaptationsphase ermöglichte es, die implizite Adaptation genauer zu bewerten, indem beobachtet wurde, wie das Nervensystem auf die veränderten Laufbandbedingungen reagierte. Der Grad, zu dem die Probanden asymmetrische Schrittmuster beibehielten, obwohl die äußere Asymmetrie aufgehoben war, wurde als Maß für die Stärke der impliziten Nachwirkung verwendet. Die Daten aus der De-Adaptationsphase wurden ebenfalls in den Adaptationsindex integriert, um ein vollständiges Bild der impliziten Lernprozesse zu erhalten. Die Phase diente somit als entscheidender Bestandteil zur Trennung und Quantifizierung der automatischen Anpassungsmechanismen, die unabhängig von bewussten Steuerungsprozessen ablaufen.
Ergebnisse
Die Ergebnisse zeigen, dass Personen mit Schlaganfall im Vergleich zur Kontrollgruppe eine eingeschränkte Fähigkeit zum expliziten Lernen aufwiesen. Diese Beeinträchtigung wurde durch die geringere Differenz im Adaptationsindex zwischen den Phasen mit und ohne visuelles Feedback während der Adaptationsphase deutlich (Mittelwert [95% HDI]: 0,09 [−0,05 0,25], Wahrscheinlichkeit eines Unterschieds = 88,2 %). Zudem war der Adaptationsindex während der Feedback-Phase für die Schlaganfallgruppe signifikant niedriger als für die Kontrollgruppe (Mittelwertsdifferenz = 0,23 [0,11 0,34], Wahrscheinlichkeit eines Unterschieds = 100,0 %). Diese Ergebnisse belegen, dass Personen mit Schlaganfall visuelles Feedback weniger effektiv nutzen und eine verminderte Fähigkeit zur bewussten Anpassung an Fehler haben.
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Auch die implizite Adaptation war bei der Schlaganfallgruppe beeinträchtigt. Dies wurde durch kleinere Nachwirkungen (implicit aftereffect) gemessen, die auf geringere Anpassungen durch das Nervensystem hinweisen (Gruppendifferenz = 0,10 [−0,02 0,21], Wahrscheinlichkeit eines Unterschieds = 94,3 %). Am Ende der Adaptationsphase zeigte die Schlaganfallgruppe ebenfalls signifikant niedrigere Werte als die Kontrollgruppe (Gruppendifferenz = 0,17 [0,07 0,28], Wahrscheinlichkeit eines Unterschieds = 99,9 %).
Zur genaueren Untersuchung der Lernprozesse wurde ein Modell verwendet, das bewusstes (explizites) und unbewusstes (implizites) Lernen getrennt analysierte. Die Ergebnisse zeigten, dass die Anpassungsfähigkeit in der Schlaganfallgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe insgesamt geringer war, was auf größere Unterschiede und Variabilitäten innerhalb der Schlaganfallgruppe hinweist. Das bewusste Lernen wurde durch den Adaptationsindex gemessen, der quantifizierte, wie schnell und effektiv die Teilnehmer auf visuelles Feedback reagieren konnten. Hier schnitt die Schlaganfallgruppe deutlich schlechter ab als die Kontrollgruppe. Die Analyse der unbewussten Anpassungen zeigte hingegen nur geringe Unterschiede zwischen den beiden Gruppen in den meisten untersuchten Bereichen. Allerdings fiel ein klarer Unterschied in der Fähigkeit auf, zuvor Gelerntes langfristig beizubehalten. Diese Fähigkeit war in der Schlaganfallgruppe merklich schwächer ausgeprägt, was eine mögliche Erklärung für die insgesamt langsameren automatischen Anpassungsprozesse nach einem Schlaganfall bietet.
Die Ergebnisse zeigen, dass Personen mit Schlaganfall Schwierigkeiten haben, bewusstes Lernen effektiv zu nutzen. Dies äußerte sich in geringeren Verhaltensänderungen nach dem Entfernen des visuellen Feedbacks und in langsameren Anpassungsprozessen, die durch Modellanalysen bestätigt wurden. Auch die unbewusste Anpassungsfähigkeit war bei den Teilnehmenden mit Schlaganfall eingeschränkt. Die Anpassung ihrer Bewegungen verlief langsamer und weniger vollständig im Vergleich zur Kontrollgruppe mit gesunden Probanden. Die Modellanalysen deuten darauf hin, dass diese Verzögerungen auf eine eingeschränkte Fähigkeit zur langfristigen Speicherung neuer Bewegungsmuster zurückzuführen sein könnten.
Implikationen für die Rehabilitation
Die Forscher kommen zu der Erkenntnis, dass Menschen nach einem Schlaganfall bei verschiedenen Arten des motorischen Lernens Einschränkungen aufweisen, die nicht allein auf die motorischen Defizite zurückzuführen sind. Diese Erkenntnisse sind wichtig, um Rehabilitationsprogramme zukünftig besser an die spezifischen Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen und so die Wiederherstellung ihrer Bewegungsfähigkeiten durch die Auswahl geeigneter Lernstrategien zu fördern.
Die Studie hebt hervor, dass Rehabilitation nach einem Schlaganfall sowohl auf bewusste Lernprozesse (durch klare Anweisungen und gezieltes Feedback) als auch auf unbewusste Anpassungsmechanismen (durch wiederholungsbasierte Übungen und sensorische Herausforderungen) abzielen sollte. Kombinierte Ansätze, die beide Mechanismen gleichzeitig oder sequenziell fördern, könnten die Wiederherstellung motorischer Fähigkeiten effektiver gestalten. Individuell angepasste Trainingsprogramme, die die spezifischen Defizite jedes Patienten berücksichtigen, bieten das Potenzial, die Rehabilitationsergebnisse zu optimieren und die Alltagskompetenzen nachhaltig zu verbessern. Hierfür ist es wichtig, im Rahmen der motorischen Therapien nicht nur die motorischen Defizite zu berücksichtigen, sondern auch die kognitiven Ressourcen bei der Wahl geeigneter Lernstrategien kritisch zu reflektieren. Spezifische Einschränkungen in der bewussten Fehlerkorrektur und der Speicherung neuer Bewegungsmuster erfordern gezielte Rehabilitationsstrategien.
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Praktische Erkenntnisse aus der Studie
Die Studie liefert wertvolle Erkenntnisse für die Rehabilitation von Schlaganfallpatienten:
- Explizites Lernen ist unabhängig von motorischen Einschränkungen beeinträchtigt: Die Studie zeigt, dass Defizite im bewussten Lernen (explizites Lernen) nicht nur durch motorische Beeinträchtigungen bedingt sind. Selbst Patienten mit besserer motorischer Kontrolle hatten Schwierigkeiten, bewusst Fehler zu korrigieren und visuelles Feedback effektiv zu nutzen.
- Langsamere Anpassung durch spezifische Beeinträchtigung impliziter Lernprozesse: Die Studie zeigt zudem, dass nicht die gesamte unbewusste (implizite) Anpassung beeinträchtigt ist, sondern insbesondere die Fähigkeit, schnell auf Fehler zu reagieren und diese zu speichern. Dies konnte erstmals so differenziert durch die Modellierung des adaptiven Lernprozesses in einer Lokomotionsaufgabe nachgewiesen werden.
- Explizites Lernen behindert die implizite Anpassung nicht: Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass das bewusste Lernen (explizites Feedback) die unbewusste Anpassung nicht beeinträchtigt. Dies ist wichtig, da oft vermutet wird, dass diese beiden Prozesse miteinander konkurrieren könnten.
- Neue methodische Ansätze zur Trennung der Lernprozesse: Die Studie ist die erste, die in einer Lokomotionsaufgabe bei Schlaganfallpatienten sowohl explizites als auch implizites Lernen mit einer Kombination aus Verhaltenstests und computer-gestützter Modellierung analysiert.
Die Ergebnisse betonen die Bedeutung, kognitive Prozesse wie Feedbackverarbeitung und Gedächtnisleistung stärker in der motorischen Rehabilitation zu berücksichtigen. Bislang wird im Rahmen der motorischen Therapie meist nur auf die motorischen Funktionen geschaut. Die Studie geht über die allgemeine Erkenntnis hinaus, dass Schlaganfallpatienten langsamer lernen, und liefert neue mechanistische Erklärungen, die in der Rehabilitation bisher wenig Beachtung fanden. Die Modellierung des Lernens bietet für die Zukunft eine wichtige Grundlage, um wirkungsvollere personalisierte Trainingsmethoden zu entwickeln.
Neuronale Grundlagen des motorischen Lernens
Um die Mechanismen des motorischen Lernens besser zu verstehen, ist es wichtig, die beteiligten Gehirnareale zu betrachten.
Der primäre Motorcortex
Der primäre Motorcortex (auch bekannt als M1) spielt eine zentrale Rolle bei der Auslösung und Steuerung von Bewegungen. Er ist der Startpunkt von weiten Teilen der Pyramidenbahn, einer der längsten und größten Bahnen unseres zentralen Nervensystems. Hier entspringen Nervenzellfortsätze, die ohne Unterbrechung durch den Hirnstamm und weiter bis ins Rückenmark ziehen, um von dort dann über so genannte Motoneurone Befehle an die Muskulatur weiterzugeben.
Durch elektrische Reizung des primären Motorcortex lassen sich Muskelkontraktionen auslösen. Kommt es zu Schädigungen in diesem Hirnareal, etwa durch einen Schlaganfall, sind Lähmungen die Folge.
Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass im primären Motorcortex nicht einzelne Muskeln, sondern vielmehr Bewegungen selbst repräsentiert sind, beispielsweise das Heben der Hand zum Mund und das gleichzeitige Öffnen des Mundes.
Weitere beteiligte Gehirnareale
Neben dem primären Motorcortex sind auch andere Gehirnareale an der Planung und Ausführung von Bewegungen beteiligt:
- Prämotorischer Cortex und supplementär-motorischer Cortex: Diese Bereiche planen und initiieren Bewegungen und komplexe Bewegungsmuster. Sie sind intensiv mit dem primären Motorcortex verschaltet.
- Somatosensorischer Cortex: Dieser Bereich registriert über Propriozeptoren Parameter wie die Lage der einzelnen Körperteile, die Gelenkstellung und die Muskelanspannung und tauscht sich laufend mit dem primären Motorcortex aus.
- Kleinhirn (Cerebellum): Das Kleinhirn spielt eine wichtige Rolle bei der Feinabstimmung von Bewegungen und dem motorischen Lernen.
Plastizität des Gehirns
Das Gehirn ist keineswegs ein starres Gebilde, sondern verändert sich ständig - und zwar ein Leben lang. Das gilt ganz besonders für den primären Motorcortex. Durch regelmäßiges Üben wird das Areal, in dem der trainierte Körperteil auf dem Motorcortex repräsentiert ist, größer. Und nach einer Amputation wird der Bereich, der bisher für diesen Körperteil zuständig war, umfunktioniert und übernimmt dann andere Aufgaben.
Weitere Forschungsansätze
Aktuelle Forschungsprojekte untersuchen, wie rhythmische elektromagnetische Schwankungen über große Ensembles von Nervenzellen - sog. neuronale Oszillationen - zu einem Grundprinzip unserer Motorik beitragen, nämlich der Fähigkeit unseres motorischen Systems, Konsequenzen bevorstehender Befehle an unsere Muskeln vorherzusagen. Solche Vorhersagen sind entscheidend für glatte, zeitlich und räumlich koordinierte, präzise und flexible Bewegungen. Neuronale Oszillationen könnten für diese Integration eine Schlüsselfunktion einnehmen.
Darüber hinaus wird untersucht, wie unsere Bewegungen Wahrnehmung verändern und wie unser subjektives Handlungserleben mit unserer Bewegungskontrolle zusammenhängt.
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