Differenzialdiagnose von Neuritis Vestibularis und Schlaganfall: Ein umfassender Überblick

Schwindel ist ein häufiges Symptom in der Neurologie, das viele verschiedene Ursachen haben kann. Es ist wichtig, die Ursache des Schwindels zu identifizieren, um die richtige Behandlung zu gewährleisten. In einigen Fällen kann Schwindel ein Zeichen für einen Schlaganfall sein, der eine sofortige Behandlung erfordert. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die Differenzialdiagnose von Neuritis vestibularis und Schlaganfall, zwei Erkrankungen, die ähnliche Symptome verursachen können.

Einführung

Schwindel ist ein Leitsymptom in der klinischen Neurologie und in Notaufnahmen. Es handelt sich um ein vielschichtiges Syndrom, das durch eine gestörte Interaktion der multisensorischen Sinnessysteme (visuell, vestibulär, propriozeptiv) und deren Abgleich mit der Motorik entsteht. Dieses komplexe System muss ständig neu geeicht werden, um eine stabile Raumwahrnehmung zu gewährleisten. Störungen in diesem System können durch Läsionen, Alterung oder psychischen Stress verursacht werden.

Vestibuläre Ursachen sind in etwa 50 % der Fälle für Schwindel verantwortlich. Diese Ursachen lassen sich oft durch eine sorgfältige Anamnese und Untersuchung von nicht-vestibulären Ursachen differenzieren. Die Bárány-Gesellschaft unterscheidet vier Kategorien von Schwindelsyndromen:

  1. Vertigo: Schwindel mit Bewegungsillusion (Dreh-, Schwank- oder Liftbewegung).
  2. Dizziness: Unscharfes Sehen oder Scheinbewegungen der Umwelt.
  3. Stand- und Gangataxie: Unsicherheit beim Stehen und Gehen.
  4. Benommenheitsschwindel: Internistische, otologische oder psychiatrische Ursachen.

Akutes Vestibuläres Syndrom (AVS)

Vertigo ist häufig Ausdruck einer zentral-vestibulären Tonusimbalance im Hirnstamm, die periphere oder zentrale Ursachen haben kann. Bei akutem Auftreten spricht man von einem akuten vestibulären Syndrom (AVS), das sich durch eine Tetrade von Symptomen äußert:

  1. Vertigo: Bewegungs- und Raumwahrnehmungsstörung.
  2. Spontannystagmus (SPN): Unwillkürliche Augenbewegungen in der Geradeaus-Blickposition.
  3. Fallneigung/Gang- und Stand-Ataxie: Ungerichtetes Schwanken oder Fallneigung.
  4. Übelkeit/Erbrechen: Verbindung der Vestibulariskerne zu vegetativen Zentren.

Differenzialdiagnose von AVS: Neuritis Vestibularis vs. Schlaganfall

Beim AVS ist eine schnelle Differenzierung zwischen peripheren (z.B. Neuritis Vestibularis) und zentralen (z.B. Hirnstamm-/Kleinhirninfarkt) Ursachen entscheidend.

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Neuritis Vestibularis

Die Neuritis Vestibularis ist eine Entzündung des Gleichgewichtsnervs, die zu plötzlichem Drehschwindel, Übelkeit und Erbrechen führt. Die Symptome können einige Tage bis Wochen anhalten.

Symptome:

  • Plötzlicher Drehschwindel
  • Übelkeit und Erbrechen
  • Fallneigung zur betroffenen Seite
  • Nystagmus (Augenzittern) zur gesunden Seite
  • Das Hörvermögen ist in der Regel nicht beeinträchtigt

Ursachen:

  • Vermutlich Reaktivierung eines latenten Herpes-simplex-Virus (HSV)-1-Infektion.
  • Diskutiert werden auch Durchblutungsstörungen und Autoimmunkrankheiten

Diagnose:

  • Anamnese und neurologische Untersuchung
  • Beobachtung der Augenbewegungen mit einer Frenzel-Brille
  • Ausschluss anderer Ursachen (z.B. Schlaganfall)

Behandlung:

  • Medikamente gegen Übelkeit und Schwindel
  • Kortison (in den ersten Tagen)
  • Gleichgewichtsübungen und Physiotherapie

Schlaganfall

Ein Hirnstamm- oder Kleinhirninfarkt kann ebenfalls ein AVS verursachen, das einer Neuritis Vestibularis ähnelt. Es ist wichtig, einen Schlaganfall schnell zu erkennen, da eine sofortige Behandlung erforderlich ist, um bleibende Schäden zu vermeiden.

Symptome:

  • Plötzlicher Schwindel
  • Übelkeit und Erbrechen
  • Gangunsicherheit (Ataxie)
  • Weitere neurologische Ausfälle (z.B. Doppelbilder, Dysarthrie, Hemisymptomatik)

Risikofaktoren:

  • Hohes Alter
  • Bluthochdruck
  • Diabetes
  • Vaskuläres Risikoprofil

Diagnose:

  • Neurologische Untersuchung
  • Bildgebung (CT oder MRT) des Gehirns

Differenzierung zwischen peripheren und zentralen Ursachen:

Bei peripher-vestibulärer Ursache korrelieren die Symptome der vestibulären Tonusimbalance (Vertigo, Spontannystagmus, Übelkeit, Ataxie/Fallneigung) eng miteinander. Bei zentraler Ursache ist dies in der Regel nicht der Fall.

Klinische Tests zur Differenzierung:

  • Kopfimpulstest: Bei peripherer Läsion pathologisch (Korrektur-Sakkade bei Drehung zur Läsionsseite), bei zentraler Läsion meist unauffällig.
  • Nystagmus-Test: Bei peripherer Ursache horizontaler Spontannystagmus zur nicht betroffenen Seite, der sich durch Fixierung unterdrücken lässt. Bei zentraler Läsion ändert sich die Richtung des Nystagmus mit der Blickrichtung, und er wird kaum durch Fixierung beeinflusst. Vertikaler oder rotierender Nystagmus deutet fast immer auf einen Infarkt hin.
  • Vertikale Divergenz (Skew Deviation): Hinweis auf eine Hirnstamm- oder Kleinhirnläsion. Die Bulbi stehen auf unterschiedlicher vertikaler Höhe.

TiTrATE- und ATTEST-Schema

Aktuelle Publikationen empfehlen das Vorgehen nach dem TiTrATE-Schema ("Triage, Timing, Triggers, And Targeted Exams") und dem daraus abgeleiteten ATTEST-Schema (Associated symptoms, Timing, Trigger, Examination Signs, Test):

  1. Triage: Identifizierung gefährlicher Ursachen aufgrund von Begleitsymptomen und Vorerkrankungen (Synkope, Arrhythmie, Dyspnoe, Verwirrtheit, neurologische Herdsymptome, Hörstörungen, Panikgefühl).
  2. Timing: Klärung der zeitlichen Manifestationsform (akut beginnender Dauerschwindel, chronischer Dauerschwindel, Attackenschwindel).
  3. Trigger: Frage nach Auslösern des Schwindels (Lagewechsel, Orthostase, Kopfhaltung, Blickrichtung, Valsalva, körperliche Belastung, visuelle oder vestibuläre Reize, Trauma, Medikamente).
  4. Targeted Exam: Klinische Untersuchung von Augenbewegungen und vestibulären Funktionen.
  5. Test: Bildgebung, Neurophysiologie, Labor.

Weitere Ursachen für Schwindel

Neben Neuritis Vestibularis und Schlaganfall gibt es viele andere Ursachen für Schwindel, darunter:

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  • Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPPV): Häufigste Schwindelform, ausgelöst durch Lagewechsel.
  • Morbus Menière: Erkrankung des Innenohrs mit Drehschwindel, Tinnitus und Hörverlust.
  • Vestibuläre Migräne: Migräne mit Schwindelattacken.
  • Vestibularisparoxysmie: Sekundenschwindel durch Gefäß-Nerven-Kontakt des N. vestibularis.
  • Bilaterale Vestibulopathie: Beidseitige Störung des Gleichgewichtsorgans.
  • Psychogener Schwindel: Schwindel aufgrund psychischer Ursachen.
  • Internistische Ursachen: Hypotonie, Arrhythmien, Elektrolytentgleisungen, Anämie, Hypoglykämie, Intoxikationen.

Die Rolle der Bildgebung

Die Magnetresonanztomographie (MRT) spielt eine wichtige Rolle bei der Abklärung von Schwindel, insbesondere um andere Ursachen wie Tumore oder Entzündungen auszuschließen. Studien haben gezeigt, dass die MRT die diagnostische Sicherheit bei der Schwindelabklärung deutlich erhöht.

Therapie

Die Therapie von Schwindel richtet sich nach der Ursache. Bei Neuritis Vestibularis werden Medikamente gegen Übelkeit und Schwindel, Kortison und Gleichgewichtsübungen eingesetzt. Bei einem Schlaganfall ist eine sofortige Behandlung zur Wiederherstellung der Durchblutung des Gehirns erforderlich.

Zusammenfassung

Die Differenzialdiagnose von Neuritis Vestibularis und Schlaganfall ist entscheidend, da beide Erkrankungen ähnliche Symptome verursachen können, aber unterschiedliche Behandlungen erfordern. Eine sorgfältige Anamnese, neurologische Untersuchung und gegebenenfalls Bildgebung sind wichtig, um die richtige Diagnose zu stellen und die geeignete Therapie einzuleiten.

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