Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die durch fehlgesteuerte Immunzellen verursacht wird, die die Isolierschicht der Nervenfasern (Myelin) angreifen. Dies führt zu einer gestörten Signalübertragung und kann eine Vielzahl von Symptomen auslösen, darunter zittrige Finger, taube Füße, Sprech- und Schluckstörungen sowie Gleichgewichtsprobleme. Obwohl es keine Heilung für MS gibt, haben sich in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte bei der Entwicklung neuer Therapieansätze ergeben, die darauf abzielen, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen, Schübe zu reduzieren und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.
Aktuelle Therapieansätze bei Multipler Sklerose
Die Behandlung der Multiplen Sklerose stützt sich auf mehrere Säulen:
- Schubtherapie: Behandlung akuter Schübe, damit Beschwerden sich schnell zurückbilden. Bei akuten Schüben können Cortison-Präparate die Symptome dämpfen.
- Verlaufsmodifizierende Therapie (Basistherapie): Reduktion der Schwere und Häufigkeit der Schübe, um die beschwerdefreie oder -arme Zeit zu verlängern.
- Symptomatische Therapie: Linderung von MS-Beschwerden und Vorbeugung möglicher Komplikationen.
Für Patientinnen und Patienten mit schubförmig verlaufender Erkrankung stehen mehrere Medikamente zur Verfügung, die den Angriff des Immunsystems auf die Nervenzellen abschwächen. Zu den schon am längsten verfügbaren Basistherapeutika zählen die Betainterferon-Präparate und das synthetische Peptidgemisch Glatirameracetat; sie alle müssen regelmäßig gespritzt werden. Schlägt eins dieser Basistherapeutika an, kann das etwa ein Drittel bis die Hälfte aller neuen Schübe verhindern und die Schwere vermindern.
Schon seit 2011 kamen aber auch Basistherapeutika in Tablettenform heraus, mit den Wirkstoffen Fingolimod, Siponimod, Ponesimod, Ozanimod, Teriflunomid, Dimethylfumarat und Cladribin. Diese neueren Medikamente eliminieren bestimmte Zellen des Immunsystems oder dämpfen ihre Aktivität, damit deren Angriffe im ZNS unterbleiben.
Leiden Patienten trotzdem an einer hohen Schubrate, kann auch ein Antikörperpräparat oder ein Chemotherapeutikum (zur Schub- oder Dauerbehandlung) eingesetzt werden, was jedoch mit höheren Risiken für die Patienten durch belastende, in Einzelfällen auch schweren Nebenwirkungen verbunden sein kann. Drei Antikörperpräparate (Natalizumab, Ocrelizumab und Ofatumumab) werden in Dauertherapie eingesetzt, für ein weiteres (Alemtuzumab) genügen zwei kurze Behandlungsphasen für eine langanhaltende Wirkung.
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Für Patienten mit primär-progredienter MS (PPMS) gab es lange Zeit trotz intensiver Forschung kein zugelassenes Basis-Medikament. Im Jahr 2018 kam erstmals ein solches Medikament heraus; das Präparat enthält den Antikörper Ocrelizumab und kann die Krankheitsaktivität dämpfen. Besonders bei jüngeren Betroffenen mit kürzerer Erkrankungsdauer und nachweisbarer Krankheitsaktivität kann das Fortschreiten der Erkrankung durch die Behandlung mit Ocrelizumab gebremst werden.
Die Medikamente in der MS-Therapie greifen an verschiedenen Stellen in den Entzündungsprozess ein. Einige Präparate verhindern die Vermehrung bestimmter Immunzellen. Ein anderes hindert T- und B-Lymphozyten daran, die Lymphknoten zu verlassen und ins ZNS einzudringen. Ein weiteres stört die Kommunikation zwischen Immunzellen, so dass diese ihren Angriff nicht koordinieren können.
Stammzelltransplantation als "Reboot" des Immunsystems
Für MS-Patient:innen mit einem hochaggressiven, fortschreitenden Verlauf, bei denen andere Medikamente keine Wirkung zeigen, kann eine autologe Stammzelltransplantation eine vielversprechende Option sein. Dieses Verfahren, das ursprünglich für die Krebsmedizin entwickelt wurde, beinhaltet eine Art "Neustart" des Immunsystems.
- Mobilisierung und Sammlung von Stammzellen: Zunächst werden körpereigene Stammzellen aus dem Knochenmark ins Blut mobilisiert und gesammelt. Diese sogenannten Mutterzellen sind in der Lage, neue Blutzellen und Blutplättchen zu bilden. Die gesammelten Stammzellen werden anschließend eingefroren.
- Hochdosierte Chemotherapie: Im nächsten Schritt wird das fehlprogrammierte Immunsystem mit einer hochdosierten Chemotherapie ausgeschaltet.
- Rückgabe der Stammzellen: Die zuvor eingefrorenen Stammzellen werden aufgetaut und dem Patienten zurückgegeben. Diese Stammzellen bauen ein neues blutbildendes System mit einer neuen, idealerweise nicht mehr gegen die Nerven gerichteten Immunabwehr auf.
Am UKE wird das Verfahren seit einigen Jahren bei MS-Patient:innen angewandt. Die Bilanz bisher: „Bei 15 von 20 Transplantierten kam die Krankheit zum Stillstand, vier Patient:innen sind beschwerdefrei.
Neue Erkenntnisse über die Ursachen von MS eröffnen Therapieoptionen
Ein US-Forschungsteam hat eine Entdeckung gemacht, die die Tür zu einer Therapie öffnen könnte. Die Forschenden beschreiben es als eine Art Bremse, die die Reifung wichtiger Gehirnzellen steuert. Bei Multipler Sklerose (MS), so das Team, scheine diese Bremse zu lange angezogen zu bleiben. Könnte man diese Bremse lösen, die Zellreifung steuern, dann würde das einen potenziellen Ansatz liefern, um durch MS und ähnliche Erkrankungen des Nervensystems verursachte Schäden zu reparieren.
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Dabei geht es um die Myelinscheiden im Gehirn, die zu den Behinderungen bei MS führen. "Und die einzigen Zellen, die sie reparieren können, sind sogenannte Oligodendrozyten", beschreibt es der leitende Autor der Studie, Paul Tesar, Direktor des Institute for Glial Sciences, Cleveland, USA. Oligodendrozyten gehören zur Zellkategorie der Gliazellen, die mehr als die Hälfte der Zellen unseres Nervensystems ausmachen. Sie bilden eine isolierende Myelinscheide um die Nervenzellen. Bei MS geht dieser Schutz verloren.
Um die Ursache dafür zu finden, untersuchten die Forschenden den gesamten Entwicklungsprozess der myelinbildenden Oligodendrozyten. Dabei fiel immer wieder ein Protein namens SOX6 auf. Das Team fand heraus, dass SOX6 wie eine Bremse wirkt und Zellen durch ein als "Genschmelze" bekanntes Phänomen in einem unreifen Zustand blockiert. Im Hirngewebe von MS-Patienten stellten die Forschenden dann aber fest, dass ungewöhnlich viele Zellen in einem unreifen Zustand steckengeblieben waren. Und das war spezifisch für MS: In Proben von Alzheimer- und Parkinson-Patienten gab es dafür keine Hinweise. Die SOX6-Bremse schien zu lange angezogen.
Um das zu testen, verwendete das Team ein auf das Protein gerichtetes molekulares Medikament namens Antisense-Oligonukleotid (ASO), um SOX6 in Mausmodellen zu reduzieren. "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Oligodendrozyten bei MS nicht dauerhaft zerstört, sondern möglicherweise einfach blockiert sind", sagte Jesse Zhan, Co-Leiter der Studie und Medizinstudent im Medical Scientist Training Program der School of Medicine.
Immuntherapie mit peptidgekoppelten Zellen
Ein völlig neues Verfahren zur Behandlung der multiplen Sklerose, das mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) erfolgreich in einer klinischen Studie geprüft wurde, basiert auf der Idee, das Immunsystem der Betroffenen, genauer die T-Zellen, dazu zu bringen, ihre Angriffe auf die Myelinscheide der Nervenzellen einzustellen.
Aus dem Blut der MS-Patienten werden über ein spezielles Aufbereitungsverfahren (Leukozytapherese) weiße Blutkörperchen, die Leukozyten, entnommen. Anschließend werden die Zellen in einem Reinlabor unter sehr hohen Sicherheitsauflagen weiterverarbeitet. Der wichtigste Schritt dabei ist, dass sieben Peptide, also kurze Eiweiße, an die Oberfläche der Zellen gekoppelt werden. Sie sind Bestandteil der Myelinscheide. „Genau diese Peptide werden vom Immunsystem der MS-Patienten fälschlicherweise als fremd erkannt, obwohl sie ein wichtiger Bestandteil des eigenen Nervensystems sind“, erklärt Martin.
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Nach mehreren Wasch- und Kontrollschritten werden die veränderten Leukozyten den Patienten noch am selben Tag als Infusion wieder verabreicht. Die veränderten Leukozyten sterben durch programmierten Zelltod. Nach gegenwärtigem Wissen werden die toten Leukozyten in die Milz transportiert. Dort werden ihre Bestandteile - und damit auch die sieben Myelinpeptide - dem Immunsystem präsentiert. Es entwickelt sich Immuntoleranz, d. h., den T-Zellen wird „beigebracht“, diese Myelinpeptide nicht als fremd, sondern als körpereigen zu erkennen.
In einer ersten klinischen Studie wurde der innovative Therapieansatz an neun MS-Patienten geprüft. Das Ergebnis: Die Therapie wurde von allen neun Patienten gut vertragen. Es traten keine Hinweise auf Sicherheitsrisiken auf. „Bei den Patienten, die eine hohe Dosierung erhalten hatten, konnten wir sogar positive Effekte auf den Krankheitsverlauf beobachten.
Tolebrutinib: Hoffnung auf Wirkung unabhängig von akuten Entzündungen
Der Wirkstoff Tolebrutinib weckt große Hoffnungen für die Therapie der Multiplen Sklerose (MS): Zwei groß angelegte, internationale Phase-III-Studien zeigen positive Effekte bzw. Tendenzen für den Verlauf der MS. Damit rückt ein Medikament in greifbare Nähe, das nicht nur Schübe reduziert, sondern möglicherweise auch das Fortschreiten der Behinderung verlangsamt - und das unabhängig von sichtbarer Entzündung.
Die Studien zeigen, dass Tolebrutinib bei schubförmiger MS mindestens ebenso gut wie das Standardmedikament Teriflunomid akute Schübe reduziert. Darüber hinaus gab es deutliche Hinweise darauf, dass die Krankheit langsamer voranschreitet - auch unabhängig von Rückfällen, ein Phänomen, das unter dem Begriff PIRA (progression independent of relapse activity) bekannt ist.
Parallel dazu belegte eine weitere Studie erstmals signifikant positive Effekte bei sekundär progredienter MS. Der primäre Endpunkt der Studie, nämlich dass das Fortschreiten der Behinderung verzögert wurde, wurde erreicht. Damit ist Tolebrutinib eines der wenigen Medikamente mit Wirkung bei dieser schwer behandelbaren Verlaufsform.
„Unsere Ergebnisse zeigen dass Tolebrutinib bei MS-Patient*innen wirkt, bei denen keine aktiven Entzündungen mehr nachweisbar sind - und das ist ein absolut entscheidender Innovationspunkt“, sagt Wiendl. Das sei ein bedeutender Fortschritt gegenüber bisherigen Therapien, die primär auf die Kontrolle akuter Entzündungsprozesse abzielen.
Neues Medikament schleust Antikörper ins Gehirn
Am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden wird ein Medikament getestet, das die Abwehrzellen des Körpers mithilfe von Antikörpern dort abtötet, wo sie Schaden anrichten: im Gehirn. Bei dem neuartigen Medikament macht sich die Forschung nun die Eigenschaften von speziellen Proteinen zunutze, wobei man den Antikörper mit einem Transport-„Shuttle“-Eiweiß verknüpft. Am Uniklinikum nimmt bereits die zweite MS-Patientin an einer Phase-I-Studie teil.
Bei dem neuen Medikament fungieren Protein-Moleküle als eine Art Shuttle, das - bestückt mit dem Antikörper - die Barriere zwischen Gefäß und Gehirn überwindet. Dort, wo die B-Zelle des eigenen Immunsystems an entzündlichen Prozessen im Gehirn beteiligt ist, hofft man, dass der Antikörper die B-Zelle gezielt ausschalten kann. Ob dies tatsächlich genauso funktioniert, wie sich das die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vorstellen, muss mithilfe von an MS erkrankten Menschen getestet werden. Dafür wird nun zunächst in der Phase-I-Studie überprüft, wie verträglich das Medikament ist.
CAR-T-Zellen-Therapie zeigt erste Erfolge bei MS
CAR-T-Zellen - die Immuntherapie mit diesem sperrigen Namen zeigte ihre ersten Erfolge im Einsatz gegen einige Arten von Blutkrebs. Dabei werden sogenannten T-Zellen aus dem Blut der Patienten entnommen und im Labor genetisch verändert - sie werden zu CAR-T-Zellen. Sie können jetzt andere Immunzellen erkennen, die werden B-Zellen genannt. Wenn diese B-Zellen sich zu bösartigen Krebszellen entwickelt haben, können die T-Zellen sie mit der neuen Oberfläche unschädlich machen.
Solche CAR-T-Zellen können auch bei Autoimmunerkrankungen wirksam sein - zum Beispiel bei seltenen Erkrankungen wie Lupus oder Myasthenie. Auch bei Multipler Sklerose gab es erste Erfolge. Das zeigen neue Forschungsergebnisse.
Stefan Tenoth erhielt seine CAR-T-Zellen im vergangenen Januar. Nach fünf Monaten erfolgte dann die entscheidende MRT-Untersuchung. “Und da hat man dann festgestellt, dass sämtliche Entzündungen und vor allem die Entzündung in meiner Halswirbelsäule komplett weg war. Das war unglaublich. Das hat noch kein anderes Medikament oder keine andere Behandlung geschafft, dass die Entzündung weg ist.
Personalisierte Therapieentscheidung dank genetischem Biomarker
Dank einer Studie unter Leitung der Universität Münster gibt es nun einen eindeutigen Maßstab für die Medikamentenwahl. Die internationale Arbeitsgruppe hat einen genetischen Biomarker identifiziert, der vorhersagt, ob MS-Patientinnen und -Patienten besonders gut auf eine Behandlung mit Glatirameracetat (GA) ansprechen. Menschen mit dem Gewebetyp HLA-A*03:01 profitieren demnach signifikant stärker von GA als von Interferon-beta (IFN).
„Unsere Studie zeigt zum ersten Mal, dass ein genetischer Marker mit dem Behandlungserfolg eines MS-Medikaments verknüpft ist“, erklärt Studienleiter Prof. Nicholas Schwab von der Universität Münster. „Damit lässt sich vor Therapiebeginn vorhersagen, ob Glatirameracetat oder Interferon die wahrscheinlich bessere Wahl ist.“
Das Besondere an der Entdeckung: Das neue Forschungsergebnis kann schon kurzfristig in der Therapieberatung angewendet werden - denn ein HLA-Test, wie er zum Beispiel für Transplantationen oder Arzneimittelsicherheit bereits etabliert ist, findet die fragliche Genvariante.
Medikamente in Erprobung oder Zulassungsverfahren
Ein wichtiger Schwerpunkt der klinischen Forschung liegt 2024 wie auch in den vergangenen Jahren auf der Weiterentwicklung von immunmodulatorischen Substanzen, die das Voranschreiten der Behinderung effektiver unterbinden sollen. Durch Immunmodulatoren kann die Immunantwort im Körper beeinflusst und neu ausgerichtet werden. Sie können beispielsweise Botenstoffe sein, die therapeutisch eingesetzt werden, um die Kommunikation zwischen den Immunzellen zu beeinflussen. Ein weiterer Fokus liegt auf der Erforschung der Zelle, insbesondere der Rolle von T-Zellen und B-Zellen, um die Mechanismen der Autoimmunreaktion besser zu verstehen. Andere Studien zielen darauf ab, den Anwendungskomfort durch längere Anwendungsintervalle oder eine orale Verabreichung zu erhöhen.
Wirkstoff; Einnahmeform; Wirkungsweise; Stand des Projekts:
- Siponimod = BAF-312; zum Schlucken; verhindert Freisetzung von T- und B-Lymphozyten aus den Lymphknoten; Mayzent ist in der EU seit 01/2020 gegen sekundär progrediente MS zugelassen.
- Ozanimod; zum Schlucken; verhindert als S1P1- und S1P5-Rezeptorantagonist die Freisetzung von T- und B-Lymphozyten aus den Lymphknoten; OCREVUS ist in der EU seit 05/2020 gegen schubförmige MS zugelassen.
- Ponesimod; zum Schlucken; verhindert Freisetzung von T- und B-Lymphozyten aus den Lymphknoten; in klinischer Erprobung, Phase III
- Immunoglobulin Octagamk
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