Myasthenia gravis (MG) ist eine seltene Autoimmunerkrankung, die durch belastungsabhängige Muskelschwäche gekennzeichnet ist. Die Krankheit manifestiert sich am häufigsten zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr (vor allem bei Frauen) und dem 60. und 70. Lebensjahr (betrifft dann vor allem Männer). Die Prävalenz wird auf 1-5:10.000 geschätzt. Weil Narkosen für diese Patientinnen und Patienten nicht immer unbedenklich sind, hält die Initiative „OrphanAnesthesia“ im Internet seit mehr als zehn Jahren hilfreiche Empfehlungen bereit. Anästhesistinnen und Anästhesisten können sie vor einer Narkose herunterladen. Zum „Tag der seltenen Erkrankungen“ heute am 28..
Grundlagen der Myasthenia Gravis
Die Myasthenia gravis (MG) gehört zu den eher seltenen Krankheitsbildern der Neurologie. Patienten zeigen eine Muskelschwäche, die unter andauernder Belastung zunimmt und sich nach einer Ruhephase wieder zu bessern vermag. Zugrunde liegt eine Autoimmunerkrankung, wobei sich Antikörper insbesondere gegen den nicotinergen Acetylcholin-Rezeptor (AChR) der neuromuskulären Endplatte nachweisen lassen. Durch Blockade und nachfolgende Zerstörung dieser Rezeptoren wird die Reizweiterleitung und Innervation des dem motorischen Nerv nachgeschalteten Muskels beeinträchtigt. Neben recht kleinen Muskeln (z. B. okulär oder bulbär) können schließlich auch die der Extremitäten und die Atemmuskulatur betroffen sein, was zu dramatischen Notfällen führen kann.
Seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts hat man mit den Acetylcholinesterase-Hemmstoffen ein wirksames Grundprinzip zur symptomatischen Therapie gefunden. Diese bewirken eine vermehrte Bereitstellung des Neurotransmitters Acetylcholin und zählen noch immer zu den wichtigen Optionen. Erweiterte Erkenntnisse zu den pathologischen und immunologischen Prozessen haben zur rationalen Nutzung von Immunsuppressiva geführt, die heute einen zuverlässigen Anteil an der sicheren Therapieführung und Krankheitskontrolle innehaben. Dennoch ist eine spontane Verschlechterung (myasthene Krise) infolge von Infektionen, Stress, Hormonumstellungen oder Komedikationen möglich, wodurch der Autoimmunprozess getriggert wird. Die Beteiligung von klinischen Pharmazeuten kann bei der Optimierung der Medikation wertvoll sein.
Epidemiologie: Vorkommen - Dimension
Mit einem Vorkommen von etwa 1 zu 5000 und einer Inzidenz von 10 (Neuerkrankungen pro einer Million Bewohner) ist die Myasthenie eine eher seltene Krankheit, die allerdings während der letzten Jahre etwas häufiger aufzutreten scheint. Das liegt womöglich an einer verbesserten Diagnostik und einer allgemein höheren Lebenserwartung. Die Ausprägung der Symptomatik und Schwere der Muskelschwäche variiert von Fall zu Fall sehr stark, sodass von einem höchst individuell verlaufenden, heterogenen Geschehen mit marginaler Beeinträchtigung bis hin zum intubationsbedürftigen Notfall die gesamte Bandbreite vorkommen kann.
Insgesamt ist davon auszugehen, dass sich die Muskellähmungen über die Zeitspanne hinweg, das heißt progredient, ausweiten: Nach anfänglichen Effekten auf die kleineren Augen- und Gesichtsmuskeln werden in der Folge die des Kopfhalteapparats sowie die proximalen Muskeln der Extremitäten beeinträchtigt. Sehr schwere Fälle zeigen eine Beteiligung der Atemmuskulatur. Noch vor etwa 80 Jahren wurden letale Verläufe von immerhin mehr als 30 % gesehen. Grundsätzlich können alle Altersgruppen betroffen sein, wobei sich zwei Erkrankungsgipfel, einmal um das 30. Lebensjahr (mit deutlichem Überwiegen des Frauenanteils) und dann um das 70. Lebensjahr (eher Männer) erkennen lassen.
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Pathophysiologie
Als gut gesichert gilt, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt, wobei sich nahezu regelhaft sogenannte Autoantikörper gegen Proteine der neuromuskulären Endplatte, insbesondere den Acetylcholin-Rezeptor nachweisen lassen. Die zugrunde liegende Ursache ist bis heute unbekannt. Obwohl eine gewisse familiäre Häufung zur Ausbildung autoimmun vermittelter Erkrankungen zu bestehen scheint, kann kein wirklich gut gesicherter genetischer Anhaltspunkt für eine Erblichkeit nachgewiesen werden.
Die Myasthenia gravis kann auch - weit seltener - mit weiteren Autoimmunerkrankungen (z. B. Thyreoiditis, rheumatoide Arthritis, Lupus erythematodes) gemeinsam vorkommen, eine differenzialdiagnostische Abklärung ist obligat. Es erscheint sehr lohnend, sich näher mit der Myasthenie zu befassen, da sie ganz im Sinne einer Modellerkrankung für weitere Autoimmunkrankheiten dienen kann. Nicht zuletzt auch deshalb, da ein dynamisches Zusammenspiel der Steuerungsmechanismen mit nervaler, immunologischer und hormoneller Beteiligung vorgefunden wird und zudem gute therapeutische Interventionen bereitstehen.
Merkmale der neuromuskulären Transmission
Als Teil des somatischen Nervensystems im Bereich der neuromuskulären Übertragung kommt dem Transmitter Acetylcholin (ACh) mit seinen nicotinergen Acetylcholin-Rezeptoren (AChR) der motorischen Endplatte die tragende Rolle zu. Das Signal des Motoneurons löst (nach Aktivierung des präsynaptisch gelegenen Calciumkanals) die Verschmelzung von Acetylcholin-speichernden Vesikeln mit der Membran aus; die sodann freigesetzten ACh-Moleküle diffundieren zu den Rezeptoren der nachgeschalteten Muskelzelle, um dort anzukoppeln. Die Stimulierung führt dort zur Öffnung von Natriumkanälen und in der Folge innerzellulärer Prozessvermittlung kommt es zur Muskelkontraktion [1].
Das ACh verlässt die Bindung und wird rasch durch eine Esterase gespalten, wobei das Cholin in die Nervenzelle rückresorbiert und nach Acetyl-CoA-Aktivierung recycelt wird, um erneut zur Verfügung zu stehen. Im Falle von pathophysiologischen Veränderungen werden durch den Thymus (Auto-)Antikörper produziert, die gegen die eigenen AChR gerichtet sind und deren Zerstörung bewirken. Wenn mehr als 50 % der AChR inaktiviert sind, zeigen sich die Muskelermüdungserscheinungen bzw. Lähmungen, da trotz Neusynthese keine Kompensation mehr möglich ist. Neben diesen AChR-Antikörpern können auch solche gegen die abbauenden Folgeprozesse vorkommen (z. B. Anti-MuSK) sowie eine Komplement-Aktivierung erfolgen. In der Konsequenz findet sich eine Zerstörung der postsynaptischen Muskelzellmorphologie (Glättung der sonst üblichen wellenartigen Struktur, vgl. Abb. 1). Deren Degeneration geht mit einer Weitung des synaptischen Spalts sowie letztlich mit dem Funktionsverlust der entsprechenden Endplatte einher.
Exkurs: Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndrom (LEMS)
Hierbei finden sich spezifische Auto-AK gegen den präsynaptisch gelegenen Calciumkanal (vergl. Abb. 1), dessen Funktionsfähigkeit erfolgskritisch für die Freisetzung von ACh aus den Vesikeln ist. Die neuromuskuläre Transmission wird somit bereits vorzeitig präsynaptisch beeinträchtigt. Klinisch zeigen die Betroffenen eine rasche Ermüdbarkeit der rumpfnahen Extremitäten, was sich beispielsweise im Alltag beim Treppensteigen sehr eindrücklich bemerkbar macht. ACh-AK können allerdings gleichwohl beim LEMS zusätzlich vorkommen. Es ist bis dato nicht bekannt, wieso es im Thymus zur Fehlfunktion mit Bildung der Autoantikörper kommt. Denkbar erscheint, dass der Pathomechanismus infolge prägender Kontakte durch Viren bzw. Bakterien (molekulare Mimikry) oder auch durch sogenannte Myoidzellen des Thymus in Gang gesetzt wird und später die korrigierende Selektion durch regulierende Immunzellen unterbleibt, was sich in der gestörten Toleranz zeigt.
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Bei Patienten mit Myasthenia gravis findet sich fast regelmäßig ein morphologisch veränderter Thymus (90 %) mit einer Dys- bzw. Hyperplasie, mitunter als Thymom imponierend (etwa 15 %). Die Entfernung dieses Tumors führt immerhin bei etwa einem Drittel der Betroffenen zur vollständigen Ausheilung. Die Thymektomie ist insbesondere für jüngere Erwachsene eine aussichtsreiche therapeutische Option.
Klinische Merkmale, Symptomatik und Verlauf
Die Mehrzahl der Betroffenen berichtet zunächst über okuläre Probleme mit Sehstörungen (Doppelbilder) und/oder einer Ptosis (hängendes Augenlid). Nach einigen Wochen bis Monaten können sogenannte bulbäre Symptome (Kau-, Schluck-, Sprechstörungen) hinzukommen. Nur selten bleibt die wahrgenommene Muskelschwäche auf eine funktionelle Partie beschränkt, sondern breitet sich im Krankheitsverlauf auf weitere Bezirke der Willkürmotorik aus: Nacken, Schulter, Oberarm, Oberschenkel, bis hin zur Atemmuskulatur. Dann wird von einer generalisierten Myasthenia gravis gesprochen, die sich bei der Mehrzahl der Betroffenen nach etwa zwei bis drei Jahren entwickeln kann. Das Suffix gravis ist hinweisgebend auf das Krankheitsbild in seiner schweren Ausprägung.
Ein wichtiges diagnostisches Charakteristikum zeigt sich in der raschen Ermüdbarkeit beanspruchter Muskeln, die allerdings nach einer ausreichenden Ruhephase wieder ihre Funktion zurückgewinnen können. Auch der Aspekt, noch am Morgen mit Muskeltätigkeiten wenig beeinträchtigt zu sein (z. B. Essen, d. h. Kauen und Schlucken sind gut möglich), was sich hingegen im Tagesverlauf deutlich verschlechtert, kann auf eine Myasthenia gravis hinweisen.
Da sich die Myasthenia gravis nicht homogen präsentiert, wurde ein Klassifizierungssystem entworfen, das die klinische Situation mit ihrer Schwere-Ausprägung der betroffenen Muskelgruppen abbildet. Hiernach werden fünf aufsteigende Grade festgelegt. Andere Möglichkeiten der Klassifikation beziehen den Krankheitsbeginn, die Antikörper-Spezifitäten und die Thymus-Histologie ein. Vor allem der Laborbefund zur Serologie mit dem Nachweis spezieller Antikörper gewinnt immer mehr an Beachtung und kann hinweisgebend auf das Vorliegen beispielsweise eines Thymoms sein.
Zur Diagnostik
Grundlage der Diagnostik bilden die gründliche Anamnese, die klinischen Befunde, insbesondere die körperliche Untersuchung: das wiederholte Durchführen lassen von Muskelbewegungen mit dem Ergebnis rascher Ermüdbarkeit (z. B. Augen-Lidschluss, Handöffnen), der Simpson-Test (längeres Nachobenblicken mit Ptosis-Provokation) oder auch der Einsatz von Kälte-Packs, die eine Verbesserung der Muskelleistung bewirken.
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Pharmakologische Testung: Der sogenannte Tensilon®-Test mit Injektion des kurzwirkenden Acetylcholinesterase-Inhibitors Edrophoniumchlorid, der unmittelbar eine Besserung zeigt, ist heute mangels Verfügbarkeit faktisch bedeutungslos geworden. Einzig ein Präparat mit japanischer Zulassung (Antirex®) wäre als Import beziehbar. Ausweichend kann Pyridostigmin (p. o.) zur pharmakologischen Testung verwendet werden. Etwa eine Stunde nach Gabe sollte sich eine grundlegende Besserung zeigen. Auch Neostigmin (s. c.) erzeugt relativ rasch eine etwa halbstündig andauernde Besserung der präsentierten Muskellähmung.
Elektrophysiologische Untersuchung: Es zeigt sich nach repetitiver Nervenstimulation eine typische Amplitudenabnahme (Dekrement von > 10 %) des Nervs, der den Muskel versorgt. Dies ist zwischen erster und fünfter Reizung deutlich ausgeprägt und kann danach wieder steigen. Besonders bei generalisierter Myasthenia gravis kann mit einem derartigen Messergebnis gerechnet werden (80 %), während es bei der rein okulären Form wesentlich seltener gefunden wird (etwa 20 %).
Labor: Ein Nachweis von Antikörpern im Serum, insbesondere gegen AChR, ist aufschlussreich, da sie bei etwa 80 bis 85 % der Patienten vorkommen. Dieses Ergebnis sollte durch weitere serologische Befunde gesichert werden. Ein positiver AChR-AK-Nachweis ist noch nicht beweisend, da er auch beim Lambert-Eaton-Syndrom, der amyotrophen Lateralsklerose und einigen weiteren Erkrankungen vorliegen kann. Es sollten auch das Alter und die Krankheitsdauer des Patienten beachtet werden, da im Verlauf zunehmend weitere Antikörper gegen Proteine der quergestreiften Muskulatur exprimiert werden.
An Autoantikörpern sind bei Myasthenia gravis evident:
- AChR-AK (bei etwa 80 bis 85 % der Patienten)
- MuSK-AK (bei etwa 5 % nachweisbar; muskelspezifische Tyrosinkinase des AChR)
- Anti-Lrp4-AK (bei etwa 2 %, ein Transmembranprotein, Low-Density-Lipoproteine)
Weitere AK-Nachweise sind gegebenenfalls noch relevant und Gegenstand aktueller Evaluation:
- Anti-Titin-AK (Titin ist ein Strukturprotein des Muskelsarkomers)
- Anti-RyR-AK (Ryanodin-Rezeptor findet sich am Calciumkanal des Sarkomers)
- Anti-Agrin-AK (Agrin ist ein Proteoglycan-Protein, das die Aggregation des ACh mit seinem Rezeptor fördert)
Interesse erfährt das Vorliegen von Titin-AK (Eiweiß des Muskelsarkomers) bei jüngeren Patienten (< 40 Jahre), da sich hier eine hohe Korrelation zu einem Thymom belegen lässt. Ähnliches wird für den Anti-Ryanodin-Rezeptor-AK (RyR-AK) beschrieben. Immerhin verbleiben heute noch etwa 5 % als sogenannte seronegative MG-Patienten, bei denen oben beschriebene Antikörper nicht nachweisbar sind bzw. als solche noch nicht bekannt sind.
Bildgebung: Bildgebende Verfahren (CT, MRT) des Brustkorbs sind zur Feststellung von Veränderungen am Thymus stets angebracht, da ein eventuell vorliegendes Thymom erkennbar wird. Eine Indikation zur raschen operativen Entfernung (Thymektomie) ist zunehmend Konsensus, lediglich bei der leichten/okulären Myasthenie älterer Patienten wird Zurückhaltung empfohlen.
Therapeutische Möglichkeiten - Überblick
Die Therapie orientiert sich am Verlauf, am aktuellen Krankheitszustand, der Verträglichkeit und dem Ansprechen auf die Maßnahmen. Wesentliche Ziele werden dabei in der Remission von Muskellähmungen, der Verhinderung weiterer Progredienz sowie einer Vorbeugung von lebensbedrohlichen Krisen gesehen. In Bezug auf den zeitlichen Verlauf wird man bei nur leichten Beeinträchtigungen zunächst eher abwartend vorgehen, zumal Spontanremissionen mit etwa 10 % vorkommen. Im weiteren Krankheitsgeschehen - einhergehend mit Symptomverstärkung - ist allerdings eine Medikation oder weitere Interventionen angezeigt.
An Therapieprinzipien können folgende Optionen grundsätzlich in Betracht gezogen werden:
- Symptomatische Basis-/Dauermedikation mit Hemmstoffen der Acetylcholinesterase
- Immunsuppressive Dauertherapie
- Thymektomie
- Plasmapherese
- Gabe von Immunglobulinen
- Reserve-Optionen (Gabe von Antikörpern bzw. Komplement-Inhibitoren)
Da die Myasthenia gravis überwiegend leicht und mit unsteten Funktionsstörungen kleinerer Muskeln beginnt, kann sich die Zeit bis zur sicheren Diagnose über Monate oder sogar Jahre hinziehen. Auch nach Diagnosestellung wird bei leichterer Präsentation häufig noch abgewartet. In der Regel wird medikamentös zunächst mit Acetylcholinesterase-Inhibitoren behandelt. Im weiteren Krankheitsverlauf wird dann ein Glucocorticoid gebraucht. Bei Bedarf wird ein Immunsuppresivum hinzugefügt, nicht zuletzt, um Glucocorticoide zu sparen, was die Verträglichkeit insgesamt verbessert. Die immunsuppressive Therapie zielt darauf ab, die pathogen agierenden Autoantikörper zu reduzieren, um die fortgesetzte Schädigung der neuromuskulären Endplatte weitgehend zu verhindern.
Da bei nahezu 80 % der Betroffenen ein progredienter Krankheitsverlauf erwartet werden kann, der zu einer Verstärkung der Symptomatik mit Generalisierung führen kann, sind konsequente Interventionen im Rahmen der sogenannten Basistherapie wichtig. Dennoch kann es infolge besonderer Umstände (z. B. Stress, Infektionen, Medikamente) zu krisenhaften Zuständen kommen, bei denen eine intensivmedizinische Behandlung mit Beatmung erforderlich wird.
Anästhesiologische Aspekte bei Myasthenia Gravis
Die Anästhesie bei Patienten mit Myasthenia gravis erfordert besondere Aufmerksamkeit und ein individualisiertes Vorgehen, um Komplikationen zu vermeiden.
Präoperative Vorbereitung
Elektive Operationen sollten nach Möglichkeit dann durchgeführt werden, wenn keine oder nur geringe Symptome der Myasthenie vorliegen. Ansonsten ist zuvor eine medikamentöse Optimierung anzustreben. Abhängig von der Dringlichkeit des Eingriffs und der Schwere der Symptome sind auch Austauschverfahren (IA, PLEX) in Erwägung zu ziehen.
Die Einnahme der zur Therapie der Myasthenie verordneten Medikamente sollte so kurz wie möglich unterbrochen werden. Allerdings kann erwogen werden, Immunsuppressiva und Steroide vorübergehend in der Dosis zu reduzieren bzw. zu pausieren (cave: kein abruptes Absetzen von Glucocorticoiden), um Wundheilungsstörungen zu vermeiden. Cholinesteraseinhibitoren sollten bis kurz vor und möglichst bald nach der Operation verabreicht werden.
Für kleinere Eingriffe bei klinisch unauffälligen, medikamentös gut eingestellten Patienten mit Myasthenia gravis sind keine speziellen Voruntersuchungen nötig. Bei größeren Eingriffen (z. B. Thymektomie) muss präoperativ die Lungenfunktion untersucht werden. Neben den üblichen Laboruntersuchungen muss ein Elektrolytstatus erhoben werden, der auch Kalzium-, Phosphor- und Magnesiumspiegel beinhaltet.
Anästhesieführung
Wenn eine Vollnarkose notwendig wird, können Propofol, Opioide und nicht depolarisierende Muskelrelaxantien zur Einleitung und Aufrechterhaltung eingesetzt werden (z. B. Propofol, Remifentanil, Rocuronium). Für Muskelrelaxantien ist häufig eine geringere Dosis als bei Gesunden notwendig. Auf den Einsatz depolarisierender Relaxantien sollte verzichtet werden. Ein Monitoring von Narkosetiefe und Relaxierung ist obligat.
Alle Pharmaka mit erwünschten oder nicht-erwünschten Wirkungen an der neuromuskulären Endplatte können die neuromuskuläre Funktion verschlechtern. Wenn möglich sollte die Regionalanästhesie (peripher oder rückenmarksnah) bevorzugt werden. Der Vorteil der Regionalanästhesie liegt im Verzicht von Narkotika und Muskelrelaxanzien bei suffizienter Analgesie und verbesserter Ventilation. Das Risiko postoperativer Komplikationen wird dadurch erheblich verringert.
Die Gabe von Muskelrelaxanzien bei Patienten mit Myasthenia gravis ist ein zentrales, bisher kritisch diskutiertes Thema. verbessern die Intubationsbedingungen, vermindern daher das Risiko für eine postoperative Heiserkeit und Stimmbandschäden beim Patienten und verbessern die Operationsbedingungen für die chirurgischen Kollegen. Die Zerstörung der neuromuskulären Endplatte macht die Patienten jedoch außerordentlich sensibel gegenüber nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien. So unterschiedlich die Ausprägung der Krankheit bei den verschiedenen Patienten ist, so variabel kann auch ihr individueller Bedarf an nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien sein. Ein TOF-Quotient unter 0,90 vor Einleitung der Narkose, also ohne Anwendung eines Muskelrelaxans, weist auf eine erhöhte Sensibilität für nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien hin und macht deshalb eine vorsichtige Titrierung notwendig.
Pharmakokinetisch und -dynamisch am sinnvollsten erscheint jedoch die Kombination eines steroidalen Muskelrelaxans (Rocuronium, Vecuronium) zur Narkoseeinleitung und -führung und die Gabe des Enkapsulators Sugammadex zur Aufhebung der neuromuskulären (Rest-)Blockade am Ende der Operation. Durch den rezeptorfernen Mechanismus der Enkapsulierung inaktiviert Sugammadex Steroidmuskelrelaxanzien und greift nicht wie Cholinesteraseinhibitoren in die bereits gestörte neuromuskuläre Übertragung ein.
Die Wirkung von Succinylcholin ist bei Patienten mit Myasthenia gravis unsicher. Wegen der reduzierten Anzahl von Azetylcholinrezeptoren ist es möglich, dass Succinylcholin die Endplatte nicht effektiv depolarisiert. Daraus resultiert unter Umständen eine etwas verlängerte Anschlagzeit und eine Rechtsverschiebung der Dosis-Wirk-Beziehung für Succinylcholin. Für eine „rapid sequence induction“ (RSI) mit Verwendung von Succinylcholin sollte daher die Dosis auf 1,5-2,0 mg/kg erhöht werden.
Patienten mit Myasthenia gravis haben kein verändertes Ansprechen auf Opioide oder Hypnotika. Empfohlen wird, eine elektromyographische Messung vor Einleitung der Narkose am wachen Patienten durchzuführen. Dies wird unter ausreichender Analgesie mit kurzwirksamen Opioiden gut toleriert. Eine total intravenöse Anästhesie mit kurz wirksamen Medikamenten wie Propofol und Remifentanil ist gegenüber länger wirksamen Substanzen mit potenziellem postoperativem Überhang (z. B. Fentanyl, Dormicum) der Vorzug zu geben. Auch schnell abflutende inhalative Anästhetika (Desfluran, Sevofluran) eignen sich gut zur Aufrechterhaltung der Narkose. Sie wirken jedoch selbst muskelrelaxierend und verstärken die Wirkung von Muskelrelaxanzien.
Postoperative Überwachung
Die Extubation darf erst bei ausreichender Spontanatmung und vorhandenem Hustenreflex erfolgen. Der Effekt von Narkose und Relaxierung kann bei Menschen, die unter einer Myasthenie leiden, das bekannte Maß übersteigen, so dass Hypoventilation, Dysphagie und Aspiration länger fortbestehen. Deswegen muss niedrigschwellig eine postoperative Überwachung auf einer Wach-/Intensivstation erfolgen.
Im Rahmen des postoperativen Schmerz- und Delirmanagements können bei entsprechender Indikation peripher wirksame Analgetika, Opioide, niedrigpotente Neuroleptika, Clonidin u. a. eingesetzt werden. Kurz wirksame Substanzen sind zu bevorzugen, außerdem muss eine Überwachung der Atemfunktion gewährleistet sein (siehe oben). Gleiches gilt auch für den Gebrauch von Benzodiazepinen. Für die Schmerztherapie sind regionale Verfahren vorteilhaft, z. B. periphere Schmerzkatheter, wenn dies möglich ist.
Der Patient mit einer Myasthenia gravis muss vor Narkoseausleitung wie jeder andere Patient die Kriterien für eine sichere Extubation erfüllen. Ein besonderes Augenmerk muss allerdings auf einer guten Muskelfunktion liegen. Die TOF-Ratio muss über 0,9 liegen. Neuromuskuläre Restblockaden können entweder mit Sugammadex - bei Steroidmuskelrelaxanzien - reversiert oder mit Pyridostigmin antagonisiert werden. Die intravenöse Dosierung von Pyridostigmin beträgt etwa 1/30 der peroralen Tagesdosis. Da diese Dosierung im Rahmen der weiteren Therapie meist über Perfusoren in Milligramm pro Stunde verabreicht wird, muss die Stundendosierung errechnet werden (1/24). Zur Überprüfung der Effektivität ist das neuromuskuläre Monitoring essenziell.
Patienten mit einer Myasthenia gravis bedürfen postoperativ einer intensiven Überwachung. Bei schweren Krankheitsverläufen, großen Operationen und v. a. nach Thymektomien ist eine intensivmedizinische Behandlung notwendig. Die Patienten sollten möglichst bald wieder eine adäquate orale Medikation mit Pyridostgmin erhalten. Die übliche Dosis an Pyridostigmin wird nach einer Thymektomie daher um ( {1}\left/ {3}\right. ) reduziert. Da jedoch Über- als auch Unterdosierungen möglich sind und sich myasthene und cholinerge Krisen in ihren wichtigsten Symptomen wie Ateminsuffizienz, Unruhe und Schwitzen sehr ähnlich sind, fällt die klinische Unterscheidung nicht leicht. Mit Hilfe des neuromuskulären Monitorings können sie jedoch anhand des myasthenen Fading unterschieden werden. Eine myasthene Krise ist fast immer vorhersehbar, da sich die Symptome der Muskelschwäche, der respiratorischen Insuffizienz, Ptosis oder Schlucklähmung progredient entwickeln. Im neuromuskulären Monitoring nimmt das Fading zu. Eine Dosisteigerung der Cholinesterasehemmer verbessert diese rasch. Eine drohende cholinerge Krise ist in einer Abnahme des Fadings zu erkennen. Die Differenzialdiagnose wird schließlich durch adjuvantes Behandeln mit Cholinesterasehemmern gesichert.
Lokalanästhesie
Im Fall einer Lokalanästhesie (z. B. im Rahmen einer Zahnbehandlung) sind Lokalanästhetika vom Amid-Typ zu bevorzugen (u. a. Mepivacain, Prilocain).
Immuntherapie bei Myasthenia Gravis
Da die Myasthenie eine Autoimmunerkrankung ist, ist eine Regulation der fehlgeleiteten Immunreaktion durch Immuntherapien oft notwendig. Zugelassen sind Prednisolon (Wirkung nach Tagen bis Wochen) und Azathioprin (Wirkung nach einigen Monaten). Methotrexat und Ciclosporin A, als Reservemedikament Rituximab verwendet.
Prednisolon: Prednisolon ist sehr gut und relativ rasch wirksam. Nebenwirkungen der Prednisolon = (Kortikosteroid) Therapie sind dosisabhängig u.a. Veränderungen des Blutzuckerstoffwechsels, Zunahme des Körper-gewichts, Wassereinlagerungen, Bluthochdruck und Osteoporose. Daher sollte die Dosis von Kortikosteroiden langfristig so gering wie möglich gehalten werden.
Als kortikoidsparendes Immunsuppressivum ist Azathioprin zugelassen und wird am häufigsten eingesetzt. Die Wirkung setzt sehr verzögert ein (6-9 Monate). Nebenwirkungen sind Veränderungen der oben genannten Parameter, Magen-Darm-Beschwerden, Allergien oder langfristig ein erhöhtes Risiko an Haut-und anderen Tumoren. Daher muss die Haut konsequent gegen Sonne geschützt und alle Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen werden. Streng kontraindiziert ist die gleichzeitige Einnahme von Allopurinol (Gichtmittel), da dadurch toxische Nebenwirkungen von Azathioprin auf das Blutbild eintreten.
Durch Rituximab werden langfristig bestimmte weiße Blutkörperchen (B-Lymphozyten) aus dem Blut entfernt. Eculizumab wird bei therapierefraktärer schwerer Myasthenie als Reservemedikament eingesetzt. Efgartigimod ist 2022 zugelassen worden und reduziert pathogene IgG-Antikörper im Blut. Grundsätzliches Prinzip der Immuntherapie ist immer eine ausführliche Nutzen-/Risikoabwägung.
Fallbeispiel: Minimal-invasive Thymektomie ohne Beatmung
Ein Beispiel für innovative Behandlungsansätze bietet das Katholische Klinikum Koblenz · Montabaur. Dort wurde bei einer Patientin mit Myasthenia gravis eine Thymektomie minimal-invasiv und ohne Beatmung durchgeführt. Bei dieser Methode wird der Brustkorb nicht aufgesägt, sondern es wird lediglich ein kleiner Schnitt benötigt. Zudem wird ein spezielles Gerät eingesetzt, mit dem der Brustkorb leicht angehoben werden kann, um ideal an Gewebe und Drüse arbeiten zu können.
Die Narkose verzichtet auf Beatmung und den Einsatz von Muskelrelaxanzien. Stattdessen wird der Patient lediglich in einen Schlaf versetzt und der Schmerz wird örtlich durch den Einsatz von Schmerzmitteln unterdrückt. Diese Kombination aus minimal-invasivem Eingriff und schonender Narkoseform ermöglicht eine schnelle Genesung und minimiert das Risiko von Komplikationen.
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