Myasthenia Gravis (MG), oft auch nur Myasthenie genannt, ist eine seltene Autoimmunerkrankung, bei der die Kommunikation zwischen Nerven und Muskeln gestört ist. Das Immunsystem greift fälschlicherweise gesunde Zellen und Gewebe an, was zu einer belastungsabhängigen Muskelschwäche führt.
Was ist Myasthenia Gravis?
Die Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem Autoantikörper bildet, die sich gegen körpereigenes Gewebe richten. Diese Autoantikörper greifen Rezeptoren und Enzyme an, die für die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln wichtig sind. Autoimmunerkrankungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie weder effektiv verhindert noch geheilt werden können. Myasthenia gravis tritt häufig bei Patient*innen auf, die bereits an einer anderen Autoimmunerkrankung leiden.
In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn maximal 5 von 10.000 Menschen betroffen sind. Die geschätzte Prävalenz in Deutschland liegt bei rund 39 betroffenen Personen pro 100.000 Einwohnern. Weltweit sind über 700.000 Menschen an Myasthenia gravis erkrankt.
Ursachen und Risikofaktoren
Die genauen Ursachen der Myasthenia gravis sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird jedoch vermutet, dass die Thymusdrüse eine entscheidende Rolle spielt. Bei 50-60 % der Patient*innen mit Myasthenia gravis kann eine Vergrößerung der Thymusdrüse festgestellt werden. Die Thymusdrüse steht daher unter Verdacht, bei der Produktion der Autoantikörper beteiligt zu sein.
Weitere Risikofaktoren können hormonelle Einflüsse sein, insbesondere bei Frauen. Östrogene oder Progesteron könnten das Risiko einer Myasthenia gravis erhöhen oder die Erkrankung beeinflussen. Auch Stressfaktoren wie Infekte, bestimmte Medikamente, grelles Licht oder Hitze können die Symptome verschlimmern. Genetische Faktoren spielen eine geringere Rolle, da nur etwa 4-7 % der Erkrankungsfälle mit einer familiären Häufung assoziiert sind.
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Symptome der Myasthenia Gravis
Die Symptome der Myasthenia gravis können stark variieren und unterschiedliche Muskelgruppen betreffen. Typisch ist eine belastungsabhängige Muskelschwäche, die sich im Laufe des Tages verstärkt und durch Ruhephasen gelindert werden kann.
Okuläre Symptome
Bei etwa 85 % der Betroffenen äußern sich die ersten Symptome im Bereich der Augenmuskeln. Dies wird als okuläre Myasthenie bezeichnet. Zu den häufigsten Symptomen gehören:
- Doppelbilder (Diplopie): Eine Myasthenia gravis im Bereich der Augen geht mit Doppelbildern einher. Die Doppelbilder entstehen durch eine Lähmung eines oder mehrerer Augenmuskeln, was zu einer fehlerhaften Zusammenarbeit der Augen führt.
- Herabhängen der Augenlider (Ptosis): Mindestens eines der Augenlider beginnt zu hängen.
- Verschwommensehen: Erste Beschwerden im Bereich der Augen können auch Verschwommensehen sein.
- Müde Augen: Betroffene klagen über „müde Augen“.
- Schwere Oberlider: Die Oberlider fühlen sich schwer an.
- Verstärkte Anstrengung: Verstärkte Anstrengung beim Lesen, Fernsehen, bei Bildschirmarbeit oder greller Beleuchtung.
Generalisierte Symptome
Bei etwa 50 % der Patient*innen weitet sich die Erkrankung innerhalb von 2 Jahren zu einer generalisierten Muskelschwäche aus, die weitere Bereiche des Körpers betrifft. Mögliche Symptome sind:
- Schluck- und Sprachstörungen: Etwa 60 % der Patient*innen erleiden Einschränkungen im Bereich der Rachenmuskulatur, wodurch die Bewegung des Kiefers und somit auch das Kauen und Sprechen erschwert wird.
- Schwäche in Armen und Beinen: Die Erkrankung kann sich außerdem auf die Skelettmuskulatur in den Armen und Beinen auswirken.
- Atemprobleme: In seltenen Fällen erleiden die Betroffenen innerhalb der ersten 2 Jahre nach Krankheitsausbruch Symptome bezüglich ihrer Atemmuskulatur. Dies kann zu einer lebensbedrohlichen myasthenen Krise führen.
Psychische Auswirkungen
Neben den körperlichen Symptomen beeinflusst eine Mysthenia gravis auch das psychische Wohlbefinden von Betroffenen. Die körperliche Belastung erhöht beispielsweise das Risiko für Depressionen und/oder Angstzustände. Außerdem kann der Alltag mit der Erkrankung durch Krankenhausaufenthalte aufgrund schwerer Schübe stark beeinträchtigt werden.
Diagnose der Myasthenia Gravis
Wenn ein Verdacht auf eine Myasthenia gravis besteht, können verschiedene Untersuchungen durchgeführt werden, um die Diagnose zu sichern. Dazu gehören:
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- Belastungstests: Hierbei werden die Patient*innen aufgefordert, bestimmte Übungen durchzuführen, um die Muskelermüdung zu testen.
- Antikörpertests: Durch Untersuchungen der Blutwerte kann festgestellt werden, welche und wie viele Autoantikörper im Körper produziert werden.
- Nervenstimulation im EMG-Labor: Bei einem Elektromyogramm (EMG) werden Nerven wiederholt mit elektrischen Signalen gereizt, um die Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel zu überprüfen.
- Kälte-Test: Eine Kühlung des Auges kann bei okulärer Myasthenie zu einer Verbesserung der Symptomatik führen.
- Pharmakologische Tests: Der Einsatz von Acetylcholinesterasehemmern kann die Symptome verbessern, wenn eine Myasthenia gravis vorliegt.
- Bildgebende Verfahren: Mit Hilfe einer Computertomografie (CT), Magnetresonanztomographie (MRT) oder Positronen-Emissions-Tomographie (PET) kann eine Veränderung der Thymusdrüse analysiert werden.
Differenzialdiagnose
Es gibt verschiedene Erkrankungen, die ähnliche Symptome wie die Myasthenia gravis verursachen können. Dazu gehören das Lambert-Eaton-Syndrom und kongenitale myasthene Syndrome (CMS).
- Lambert-Eaton-Syndrom (LES): Eine Autoimmunerkrankung des Nervensystems, die der Myasthenia gravis sehr ähnlich ist. Der Unterschied ist, dass beim Lambert-Eaton-Syndrom Autoantikörper vor der motorischen Endplatte aktiv werden und die Ausschüttung von Botenstoffen stören.
- Kongenitale Myasthene Syndrome (CMS): Seltene genetische Erkrankungen, die nicht auf autoimmunen, sondern genetischen Störungen der neuromuskulären Übertragung beruhen.
Formen und Schweregrade der Myasthenia Gravis
Die Myasthenia gravis kann anhand verschiedener Kriterien in unterschiedliche Formen unterteilt werden. Dazu gehören der Zeitpunkt des Auftretens der ersten Symptome und die Typen von Antikörpern, die die Erkrankung verursachen.
Formen
- Form mit frühem Krankheitsbeginn: Erstes Auftreten der Erkrankung in einem Alter von unter 50 Jahren, häufig bei Frauen mit einer Vergrößerung der Thymusdrüse.
- Form mit spätem Krankheitsbeginn: Erstes Auftreten der Erkrankung in einem Alter von über 50 Jahren, häufig bei Männern.
- Thymom-assoziierte Form: Vorliegen eines Tumors der Thymusdrüse (Thymom).
- MuSK-assoziierte Form: Nachweisbare Autoantikörper gegen skelettmuskelspezifische Rezeptortyrosinkinase (MuSK), Muskelschwäche vor allem im Bereich von Kopf und Nacken.
- Form ohne nachweisbare Antikörper: Keine nachweisbaren Antikörper gegen Acetylcholin oder MuSK, verschiedene Unterformen möglich.
Schweregrade
Der Schweregrad der Myasthenia gravis wird anhand der auftretenden Symptomatik in verschiedene Klassen eingeteilt:
- Klasse I: Rein okulär, betrifft nur den Bereich der Augenmuskulatur.
- Klasse II: Leichter bis mäßiger generalisierter Schweregrad, bei dem neben der Augenmuskulatur auch andere Muskeln betroffen sind.
- Klasse III: Mäßiger generalisierter Schweregrad, bei dem neben der Augenmuskulatur auch andere Muskeln betroffen sind.
- Klasse IV: Schwerer generalisierter Schweregrad, bei dem neben der Augenmuskulatur auch andere Muskeln betroffen sind.
- Klasse V: Patient*innen benötigen künstliche Beatmung aufgrund von Schwäche der Atemmuskulatur.
Behandlung der Myasthenia Gravis
Die Myasthenia gravis ist zwar nicht heilbar, aber es gibt verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, die die Symptome lindern und den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen können.
Medikamentöse Therapie
- Acetylcholinesterasehemmer: Diese Medikamente hemmen den Abbau des Botenstoffs Acetylcholin und verbessern die Reizübertragung von den Nerven zu den Muskeln.
- Kortison: Kortison dämpft die Überaktivität des Immunsystems.
- Immunsuppressiva: Diese Medikamente bremsen die Neubildung von Antikörpern.
- Biologika: Neuartige monoklonale Antikörper wie Rituximab und Eculizumab greifen spezifisch in den Krankheitsprozess ein und können das Krankheitsgeschehen positiv beeinflussen.
Thymektomie
Bei Patient*innen mit einem Thymom (Tumor der Thymusdrüse) ist eine operative Entfernung der Thymusdrüse (Thymektomie) notwendig. Teilweise wird auch eine Entfernung des Thymus erwogen, obwohl kein Tumor nachweisbar ist, da die Thymusdrüse eine wichtige Rolle bei der Bildung der Autoantikörper spielt.
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Behandlung von Doppelbildern
Doppelbilder können vorübergehend durch wechselseitiges Abdecken eines Auges bzw. langfristig beispielsweise durch Prismenfolien für Brillengläser behandelt werden. In manchen Fällen kann auch eine Schielkorrekturoperation angezeigt sein. Zusätzlich können bei hängenden Lidern Hilfsmittel wie etwa ein Lidretraktor an der Brille, ein durchsichtiges Klebeband oder auch eine Raffung des betroffenen Augenlids zu einer verbesserten Sicht führen. Eine Kühlung des Auges kann ebenfalls Linderung verschaffen.
Weitere Maßnahmen
- Regelmäßige Bewegung: Regelmäßige Bewegung ist auch bei Myasthenia gravis sinnvoll. Vor allem, wenn auch weitere Muskeln deines Körpers betroffen sind, solltest du Sportarten wählen, bei denen die Belastungsintensität und -ausdauer einfach dosiert werden können, z. B. einen täglichen Spaziergang. Sprich dazu am besten vorher mit deinem Arzt.
- Gewichtsnormalisierung: Wenn du übergewichtig bist, ist es auch hilfreich, dein Körpergewicht zu normalisieren, um deine Muskeln zu entlasten.
- Ausgewogene Ernährung: Eine ausgewogene Ernährung ist sinnvoll, einem maßvollen Alkoholkonsum spricht dabei meist nichts entgegen. Allerdings solltest du aufgrund des Chiningehalts auf Bitterlimonaden verzichten.
- Stressmanagement: Vermeide Stressfaktoren und plane ausreichend Ruhephasen ein.
Leben mit Myasthenia Gravis
Der Alltag mit Myasthenia gravis kann eine Herausforderung sein. Es ist wichtig, die eigenen Belastungsgrenzen zu kennen und den Alltag entsprechend anzupassen.
Reisen
Patient*innen mit myasthenen Syndromen können trotz ihrer Erkrankung in den Urlaub fahren. Im Vorfeld bedarf es einiger Organisation und eventuell auch, je nach Schweregrad und Behandlung, eine individuelle Abstimmung mit der behandelnden Ärztin / dem behandelnden Arzt. Beachten Sie bei der Planung ihre Therapieintervalle von regelmäßigen Infusionen (z. B. IVIG, Eculizumab, Efartigimod, Rituximab, etc.) und, dass diese eventuell vor Ort verabreicht werden müssen. Stellen Sie sicher, dass die medizinische Versorgung und neurologische Betreuung im Notfall vor Ort gewährleistet werden können. Führen Sie ihren Notfallausweis (deutsch, englisch) und einen Medikationsplan (deutsch, englisch, evtl. in der Landessprache) mit sich, damit Sie den bei Notwendigkeit vorlegen können. Vermeiden Sie Temperaturextreme und passen Sie die Aktivitäten am Urlaubsziel an Ihre aktuelle Konstitution an.
Unterstützung
Wenn du merkst, dass die Krankheitsbewältigung für dich eine Herausforderung ist und z. B. psychische Belastungen auftreten, suche dir professionelle Unterstützung.
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