Anästhesie bei Myasthenia gravis: Leitlinien und Empfehlungen

Millionen Menschen weltweit leiden unter seltenen Erkrankungen wie Myasthenia gravis. Da Narkosen für diese Patientinnen und Patienten nicht immer unbedenklich sind, stellt die Initiative „OrphanAnesthesia“ seit mehr als zehn Jahren hilfreiche Empfehlungen im Internet bereit. Anästhesistinnen und Anästhesisten können diese vor einer Narkose herunterladen. Diese Empfehlungen sind besonders wichtig, da Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten unter Umständen nicht alle Medikamente oder diese nicht in den üblichen Dosierungen vertragen. Zudem benötigen manche Patienten nach der Narkose eine spezielle Überwachung.

Einführung in Myasthenia gravis

Myasthenia gravis (MG) ist eine Autoimmunerkrankung, die durch eine schmerzlose, belastungsabhängig zunehmende Schwäche der quergestreiften Muskulatur gekennzeichnet ist. Der Begriff leitet sich von den griechischen Wörtern "mys" (Muskel) und "asthenia" (Schwäche) sowie dem lateinischen Wort "gravis" (schwer) ab. Die Inzidenz liegt bei 1-2/100.000, die Prävalenz bei 1-5:10.000, wobei Frauen etwas häufiger betroffen sind als Männer (Verhältnis 3:2). Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter auftreten, manifestiert sich jedoch am häufigsten zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr (v. a. bei Frauen) sowie zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr (v. a. bei Männern).

Klassifikation der Myasthenia gravis

Die gängigste Einteilung der Myasthenia gravis ist die Klassifikation nach Osserman, welche eine okuläre (Osserman I) von einer generalisierten (Osserman II-IV) Form unterscheidet. Neuere Publikationen verwenden zunehmend die Klassifikation der amerikanischen Myasthenia gravis Gesellschaft (MGFA), die Patienten nach dem maximalen klinischen Schweregrad klassifiziert und nicht nach dem aktuellen Status.

Osserman-Klassifikation

  • Typ I: Lokale, okuläre Myasthenie
  • Typ IIa: Leicht generalisierte Form
  • Typ IIb: Schwere generalisierte Form mit Beteiligung der faziopharyngealen und Atemmuskulatur
  • Typ III: Akute, rasch progrediente generalisierte Form mit Beteiligung der Atemmuskulatur
  • Typ IV: Spätform mit generalisierter Symptomatik, die sich innerhalb von 2 Jahren aus Typ IIa und b entwickelt hat
  • Typ V: Defektmyasthenie. Entwicklung aus Typ II und III.

Bei der okulären Myasthenia gravis kommt es durch Ermüdung der Augenmuskulatur zu einer im Tagesverlauf zunehmenden Ptosis (Herabhängen des Augenlids) und Diplopie (Doppelbilder). Das "Signe des cils" (Wimpernzeichen) beschreibt das Sichtbarbleiben der Wimpern bei schwachem Lidschluss, was auch bei einer peripheren Fazialisparese zu beobachten ist. Die generalisierte Form der Myasthenia gravis beinhaltet eine Beteiligung der kranialen, Extremitäten- und Rumpfmuskulatur sowie der faziopharyngealen und Atemmuskulatur. Eine Sonderform ist die neonatale Myasthenie, die Neugeborene myasthener Mütter betrifft. Durch den Übertritt von IgG-Autoantikörpern über die Plazentaschranke können transitorische myasthene Symptome beim Säugling ausgelöst werden. Diese Symptome klingen meist innerhalb von drei Wochen ab, und es ist nicht mit einer späteren Myasthenie beim Kind zu rechnen.

Diagnostik

Die Diagnose erfolgt neben der Anamnese und dem klinischen Befund serologisch, elektrophysiologisch oder pharmakologisch. Serologisch können spezifische Autoantikörper gegen Acetylcholinrezeptoren bzw. MuSK (muskelspezifische Kinase) nachgewiesen werden. Elektrophysiologisch zeigt sich ein "Dekrement", d. h. eine Abnahme der Muskelkontraktionskraft bei repetitiver Stimulation. Der pharmakologische Nachweis erfolgt mit der Gabe des kurzwirksamen Cholinesteraseinhibitors Edrophonium (Tensilon®). Nach Gabe von Edrophonium bessert sich das klinische Bild, da die Konzentration des Agonisten Acetylcholin im synaptischen Spalt erhöht wird.

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Pathophysiologie

Myasthenia gravis ist die häufigste Autoimmunerkrankung der neuromuskulären Endplatte. Die detaillierte Pathophysiologie ist noch nicht vollständig geklärt. Es bestehen jedoch Zusammenhänge zwischen myasthenie-relevanten Autoantikörpern, dem Thymus und der kausalen Pathologie, einer gestörten neuromuskulären Übertragung. Für eine suffiziente neuromuskuläre Überleitung ist eine kritische Anzahl an Acetylcholinrezeptoren an der neuromuskulären Endplatte nötig. In vielen Muskeln kann die Anzahl der Acetylcholinrezeptoren auf 25 % des Ausgangswerts abfallen, ohne die neuromuskuläre Übertragung zu beeinflussen oder klinisch als Muskelschwäche in Erscheinung zu treten. Es besteht daher eine große Sicherheitsreserve für die neuromuskuläre Übertragung.

Bei 80 % der Patienten mit generalisierter Myasthenia gravis und bei 40 % der Patienten mit einer okulären Myasthenia gravis lassen sich Autoantikörper gegen die α-Untereinheit des nikotinischen Acetylcholinrezeptors der neuromuskulären Endplatte nachweisen. Diese Anti-Azetylcholinrezeptor-Antikörper führen zu einem erhöhten Abbau von Acetylcholinrezeptoren, einer direkten Blockade funktionsfähiger Rezeptoren sowie einer komplementvermittelten Zerstörung der postsynaptischen Membran. Wird die Sicherheitsreserve der neuromuskulären Übertragung überschritten, entsteht das klinische Bild einer Myasthenie.

Bei bis zu 40 % der Patienten mit generalisierter Myasthenia gravis können Antikörper gegen die Rezeptortyrosinkinase MuSK nachgewiesen werden. MuSK spielt bei der Aggregation und Expression des Azetlycholinrezeptors eine entscheidende Rolle. Patienten, bei denen weder Anti-Azetylcholinrezeptor- noch Anti-MuSK-Antikörper nachgewiesen werden können, werden als „seronegativ“ bezeichnet. Es ist jedoch anzunehmen, dass bei diesen Patienten Antikörper gegen andere Proteine der neuromuskulären Endplatte vorhanden sind und kausale Ursache der Erkrankung sind. Die Bildung der Antikörper erfolgt im Thymus und im lymphatischen System. Bei etwa 70 % der Patienten unter 40 Jahren mit Anti-Azetylcholinrezeptor-Antikörpern zeigt der Thymus histologisch das Bild einer Thymitis mit lymphofollikulärer Hyperplasie mit Keimzentren. Bei über 40-jährigen Patienten liegt meist eine altersgerechte Thymusatrophie vor.

Therapie

Myasthenia gravis ist eine der am besten behandelbaren Autoimmunerkrankungen. Ziel ist die klinische Beschwerdefreiheit mit optimaler Lebensqualität. Die operative Thymektomie ist ein kausaltherapeutischer Ansatz, um die Bildung von weiteren Autoantikörpern zu verhindern. Insbesondere bei Vorliegen eines Thymoms und bei Patienten, welche jünger als 45 Jahre sind, kann der Krankheitsverlauf deutlich verbessert werden. Bei einer rein okulären Myasthenie sowie bei Patienten, die älter als 60 Jahre sind, ist die Indikation zur Thymektomie kritisch zu stellen.

Die medikamentöse Therapie erfolgt nach einem Stufenschema:

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  • Acetylcholinesteraseinhibitoren (Pyridostigmin): Verlängerung der Acetylcholinaktivität im synaptischen Spalt
  • Glukokortikosteroide: Immunsuppression
  • Plasmapherese: Entfernung von Autoantikörpern aus dem Blut

Anästhesiologische Aspekte bei Myasthenia gravis

Präoperative Vorbereitung

Die Thymektomie ist die häufigste Operation bei Patienten mit Myasthenie. Da der Eingriff elektiv stattfindet, kann die Narkose individuell geplant werden. Die Stadieneinteilung nach Osserman liefert Informationen zu Dauer und Ausprägung der Erkrankung und ermöglicht eine präoperative Risikoeinschätzung. Eine ausführliche klinische Untersuchung ist für die Beurteilung des kardiopulmonalen und neurologischen Status unverzichtbar. Die meisten Myasthenia gravis Patienten sind in kontinuierlicher neurologischer Behandlung und medikamentös gut eingestellt. Aus diesem Grund wird empfohlen, die Medikation eines gut therapierten Patienten bis zur Narkoseeinleitung im bisherigen Tagesrhythmus fortzuführen. Dies gilt insbesondere für die Cholinesteraseinhibitoren. Für kleinere Eingriffe bei klinisch unauffälligen, medikamentös gut eingestellten Patienten mit Myasthenia gravis sind keine speziellen Voruntersuchungen nötig. Bei größeren Eingriffen (z. B. Thymektomie) muss präoperativ die Lungenfunktion untersucht werden. Neben den üblichen Laboruntersuchungen muss ein Elektrolytstatus erhoben werden, der auch Kalzium-, Phosphor- und Magnesiumspiegel beinhaltet.

Anästhesieverfahren

Alle Pharmaka mit erwünschten oder nicht-erwünschten Wirkungen an der neuromuskulären Endplatte können die neuromuskuläre Funktion verschlechtern. Wenn möglich, sollte die Regionalanästhesie (peripher oder rückenmarksnah) bevorzugt werden. Der Vorteil der Regionalanästhesie liegt im Verzicht von Narkotika und Muskelrelaxanzien bei suffizienter Analgesie und verbesserter Ventilation. Das Risiko postoperativer Komplikationen wird dadurch erheblich verringert.

Muskelrelaxanzien

Die Gabe von Muskelrelaxanzien bei Patienten mit Myasthenia gravis ist ein zentrales, bisher kritisch diskutiertes Thema. Einerseits können Muskelrelaxanzien die Intubationsbedingungen verbessern, das Risiko für postoperative Heiserkeit und Stimmbandschäden vermindern und die Operationsbedingungen für die Chirurgen verbessern. Andererseits macht die Zerstörung der neuromuskulären Endplatte die Patienten außerordentlich sensibel gegenüber nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien. So unterschiedlich die Ausprägung der Krankheit bei den verschiedenen Patienten ist, so variabel kann auch ihr individueller Bedarf an nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien sein. Ein TOF-Quotient unter 0,90 vor Einleitung der Narkose, also ohne Anwendung eines Muskelrelaxans, weist auf eine erhöhte Sensibilität für nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien hin und macht deshalb eine vorsichtige Titrierung notwendig.

Die Gabe von Cholinesteraseinhibitoren am Ende der Narkose ist möglich. Pharmakokinetisch und -dynamisch am sinnvollsten erscheint jedoch die Kombination eines steroidalen Muskelrelaxans (Rocuronium, Vecuronium) zur Narkoseeinleitung und -führung und die Gabe des Enkapsulators Sugammadex zur Aufhebung der neuromuskulären (Rest-)Blockade am Ende der Operation. Durch den rezeptorfernen Mechanismus der Enkapsulierung inaktiviert Sugammadex Steroidmuskelrelaxanzien und greift nicht wie Cholinesteraseinhibitoren in die bereits gestörte neuromuskuläre Übertragung ein.

Die Wirkung von Succinylcholin ist bei Patienten mit Myasthenia gravis unsicher. Wegen der reduzierten Anzahl von Azetylcholinrezeptoren ist es möglich, dass Succinylcholin die Endplatte nicht effektiv depolarisiert. Daraus resultiert unter Umständen eine etwas verlängerte Anschlagzeit und eine Rechtsverschiebung der Dosis-Wirk-Beziehung für Succinylcholin. Für eine „rapid sequence induction“ (RSI) mit Verwendung von Succinylcholin sollte daher die Dosis auf 1,5-2,0 mg/kg erhöht werden.

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Anästhetika

Patienten mit Myasthenia gravis haben kein verändertes Ansprechen auf Opioide oder Hypnotika. Empfohlen wird, eine elektromyographische Messung vor Einleitung der Narkose am wachen Patienten durchzuführen. Dies wird unter ausreichender Analgesie mit kurzwirksamen Opioiden gut toleriert. Eine total intravenöse Anästhesie mit kurz wirksamen Medikamenten wie Propofol und Remifentanil ist gegenüber länger wirksamen Substanzen mit potenziellem postoperativem Überhang (z. B. Fentanyl, Dormicum) der Vorzug zu geben. Auch schnell abflutende inhalative Anästhetika (Desfluran, Sevofluran) eignen sich gut zur Aufrechterhaltung der Narkose. Sie wirken jedoch selbst muskelrelaxierend und verstärken die Wirkung von Muskelrelaxanzien.

Ausleitung der Narkose

Der Patient mit einer Myasthenia gravis muss vor Narkoseausleitung wie jeder andere Patient die Kriterien für eine sichere Extubation erfüllen. Ein besonderes Augenmerk muss allerdings auf einer guten Muskelfunktion liegen. Die TOF-Ratio muss über 0,9 liegen. Neuromuskuläre Restblockaden können entweder mit Sugammadex - bei Steroidmuskelrelaxanzien - reversiert oder mit Pyridostigmin antagonisiert werden. Die intravenöse Dosierung von Pyridostigmin beträgt etwa 1/30 der peroralen Tagesdosis. Da diese Dosierung im Rahmen der weiteren Therapie meist über Perfusoren in Milligramm pro Stunde verabreicht wird, muss die Stundendosierung errechnet werden (1/24). Zur Überprüfung der Effektivität ist das neuromuskuläre Monitoring essenziell.

Postoperative Überwachung

Patienten mit einer Myasthenia gravis bedürfen postoperativ einer intensiven Überwachung. Bei schweren Krankheitsverläufen, großen Operationen und v. a. nach Thymektomien ist eine intensivmedizinische Behandlung notwendig. Die Patienten sollten möglichst bald wieder eine adäquate orale Medikation mit Pyridostigmin erhalten. Die übliche Dosis an Pyridostigmin wird nach einer Thymektomie daher um ( {1}\left/ {3}\right. ) reduziert. Da jedoch Über- als auch Unterdosierungen möglich sind und sich myasthene und cholinerge Krisen in ihren wichtigsten Symptomen wie Ateminsuffizienz, Unruhe und Schwitzen sehr ähnlich sind, fällt die klinische Unterscheidung nicht leicht. Mit Hilfe des neuromuskulären Monitorings können sie jedoch anhand des myasthenen Fading unterschieden werden. Eine myasthene Krise ist fast immer vorhersehbar, da sich die Symptome der Muskelschwäche, der respiratorischen Insuffizienz, Ptosis oder Schlucklähmung progredient entwickeln. Im neuromuskulären Monitoring nimmt das Fading zu. Eine Dosisteigerung der Cholinesterasehemmer verbessert diese rasch. Eine drohende cholinerge Krise ist in einer Abnahme des Fadings zu erkennen. Die Differenzialdiagnose wird schließlich durch adjuvantes Behandeln mit Cholinesterasehemmern gesichert.

Differenzialdiagnose: Lambert-Eaton-Syndrom

Das Lambert-Eaton-Syndrom ist charakterisiert durch eine proximale Muskelschwäche mit Areflexie und autonomer Dysfunktion. Es handelt sich um ein paraneoplastisches Syndrom, das in ca. 60 % der Fälle mit einem kleinzelligen Bronchialkarzinom assoziiert ist. Bei 85 % der Patienten lassen sich Antikörper gegen die spannungsabhängigen präsynaptischen Kalziumkanäle (VGCC = „voltage-gated calcium channels“) der neuromuskulären Synapse nachweisen. Dadurch werden die Azetylcholinausschüttung und damit die neuromuskuläre Transmission beeinträchtigt. Eine Therapiemöglichkeit ist die Gabe von 3,4-Diaminopyridin. Cholinesterasehemmer führen eher zu einer Verschlechterung der Symptomatik. Die Patienten reagieren sehr empfindlich sowohl auf nichtdepolarisierende als auch nicht depolarisierende Muskelrelaxanzien.

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