Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, die durch eine belastungsabhängige Schwäche der Skelettmuskulatur gekennzeichnet ist. Die Anästhesie bei Patienten mit Myasthenia gravis erfordert besondere Aufmerksamkeit, da bestimmte Medikamente und Verfahren die neuromuskuläre Funktion beeinträchtigen und das Risiko von Komplikationen erhöhen können. Ziel dieses Artikels ist es, einen umfassenden Überblick über die Anästhesieleitlinien bei Myasthenia gravis zu geben, um Anästhesisten und anderem medizinischen Fachpersonal evidenzbasierte Empfehlungen für die sichere und effektive perioperative Versorgung dieser Patienten zu bieten.
Seltene Erkrankungen und OrphanAnesthesia
Millionen Menschen weltweit leiden unter seltenen Erkrankungen wie Myasthenia gravis. Die Initiative „OrphanAnesthesia“ stellt seit über zehn Jahren hilfreiche Empfehlungen für Anästhesisten bereit, da Narkosen für diese Patientinnen und Patienten nicht immer unbedenklich sind. Diese Empfehlungen können vor einer Narkose heruntergeladen werden und bieten Informationen darüber, welche Medikamente in welchen Dosierungen sicher sind und welche spezielle Überwachung nach der Narkose erforderlich ist. Die Datenbank umfasst inzwischen mehr als 200 Handlungsempfehlungen in sechs verschiedenen Sprachen und wurde im vergangenen Jahr fast vierzigtausendmal genutzt.
Notfallmanagement bei Myasthenia Gravis
Im Notfall ist es von größter Bedeutung, gut vorbereitet zu sein. Ein Notfallausweis mit essenziellen Angaben über die Erkrankung, Medikamente und Allergien sollte stets mitgeführt werden. Es ist auch wichtig, das engste Umfeld über die Krankheit zu informieren, um im Notfall schnell und angemessen handeln zu können. Technische Hilfsmittel wie Hausnotrufgeräte und Notfallarmbänder können ebenfalls hilfreich sein. Eine regelmäßige Einnahme der Medikamente ist entscheidend, um eine Verschlechterung der Erkrankung zu vermeiden.
Herausforderungen in der Anästhesie
Die Anästhesie ermöglicht heute Operationen bei immer älteren und kränkeren Patienten. Vor der postoperativen Versorgung gilt es, schwierige hämodynamische Situationen, bedingt durch massive Volumenschwankungen, schwere Vorerkrankungen und Polypharmazie, zu meistern. Weitere Herausforderungen sind Atemwegs-, Temperatur- und Patient-Blood-Management sowie die Wahl des optimalen anästhesiologischen Verfahrens mit adäquater Schmerztherapie. Entscheidend für ein positives Ergebnis sind eine umfassende präoperative Risikoevaluation, medizinische Optimierung, frühzeitiges Erkennen von Gefahrensituationen und eine zeitgerechte, an die Pathophysiologie adaptierte Therapie sowie das Vermeiden von Fehlern.
Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI)
In Anlehnung an verschiedene Initiativen gibt die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) fünf Positiv- und fünf Negativempfehlungen, die entscheidend für die Prognose von kritischen Patienten sein können.
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Positivempfehlungen
- Sicherheitsprotokolle etablieren und nutzen: Die Nutzung von Sicherheitsprotokollen (wie die WHO Surgical Safety Checklist) sowie von Protokollen für die Patientenübergabe verbessert das Outcome und die Versorgungsqualität operativer Patienten.
- Fehlervermeidungssysteme etablieren und nutzen: Die Einführung von Strategien zur Fehlervermeidung respektive -reduktion erscheint unverzichtbar. Farbkodierungen für Spritzen nach europäischer Norm wurden seitens der DGAI 2009 eingeführt.
- Patient-Blood-Management (PBM) etablieren und nutzen: Patient-Blood-Management ist ein multidisziplinäres, multimodales, evidenzbasiertes Behandlungskonzept, das darauf abzielt, patienteneigene Blutressourcen bestmöglich zu schonen und zu stärken.
- Aktives Temperaturmanagement etablieren und nutzen: Perioperativ kommt es häufig zu einem Abfall der Körperkerntemperatur unter 36 °C, was zu vermehrten Wundinfektionen, verstärkten Blutungen und kardialen Komplikationen führen kann.
- Risikofaktoren identifizieren und Strategien zur Vermeidung von postoperativer Übelkeit und Erbrechen (PONV) nutzen: PONV hat einen wesentlichen Einfluss auf die Patientenzufriedenheit und ist mit negativen medizinischen und ökonomischen Folgen verbunden.
Negativempfehlungen
- Unnötige präoperative Tests und Untersuchungen vermeiden: Routinemäßige präoperative EKGs, Labortests und Thorax-Röntgenuntersuchungen sind beim primär gesunden Patienten in der Regel verzichtbar.
- Blutdruckabfälle auf einen mittleren arteriellen Druck (MAD) < 55-65 mmHg vermeiden beziehungsweise um > 40-50 % des systolischen Ausgangswertes therapieren: Intraoperative Abfälle des MAD können mit einer höheren Inzidenz akuten Nierenversagens und einer kardialen Schädigung assoziiert sein.
- Transfusionen von Erythrozyten-Konzentraten bei einem Hb > 7-8 g/dl vermeiden, sofern keine Zeichen einer Organischämie vorliegen bzw. der Patient keine massive Blutung aufweist: Auch ältere Patienten mit Vorerkrankungen scheinen nicht von einem liberalen Transfusionregime zu profitieren.
- Prämedikation mit Benzodiazepinen bei älteren Patienten vermeiden: Die Gabe von Benzodiazepinen kann zu einer verlängerten Aufwachzeit und einer verzögerten kognitiven Erholung führen.
- Routinemäßige Kolloidgabe bei medikamenteninduzierter Hypotonie vermeiden: Bei Blutdruckabfällen im Rahmen einer Narkose sollte die jeweils zugrunde liegende Pathophysiologie analysiert und die Verabreichung von Kristalloiden und/oder Vasokonstriktoren in Betracht gezogen werden.
Myasthenia Gravis: Grundlagen
Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, bei der Autoantikörper gegen Acetylcholinrezeptoren an der neuromuskulären Endplatte gerichtet sind. Dies führt zu einer gestörten neuromuskulären Übertragung und einer belastungsabhängigen Muskelschwäche.
Klassifikation
Die gängigste Einteilung der Myasthenia gravis ist die Klassifikation nach Osserman, welche eine okuläre von einer generalisierten Form unterscheidet. Neuere Publikationen verwenden zunehmend die Klassifikation der amerikanischen Myasthenia gravis Gesellschaft (MGFA), welche die Patienten nach dem maximalen klinischen Schweregrad klassifiziert.
Symptome
Bei der okulären Myasthenia gravis kommt es zu Ptosis und Diplopie. Die generalisierte Form beinhaltet eine Beteiligung der kranialen, Extremitäten- und Rumpfmuskulatur sowie der faziopharyngealen und Atemmuskulatur.
Diagnose
Die Diagnose erfolgt serologisch, elektrophysiologisch oder pharmakologisch. Serologisch können spezifische Autoantikörper gegen Azetylcholinrezeptoren bzw. MuSK nachgewiesen werden. Elektrophysiologisch zeigt sich ein „Decrement“ bei repetitiver Stimulation. Der pharmakologische Nachweis erfolgt mit der Gabe des Cholinesteraseinhibitors Edrophonium.
Pathophysiologie
Die detaillierte Pathophysiologie ist noch nicht vollständig geklärt. Es bestehen jedoch Zusammenhänge zwischen myasthenie-relevanten Autoantikörpern, dem Thymus und der gestörten neuromuskulären Übertragung.
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Therapie
Die Myasthenia gravis ist eine der am besten behandelbaren Autoimmunerkrankungen. Ziel ist die klinische Beschwerdefreiheit mit optimaler Lebensqualität. Die operative Thymektomie ist ein kausaltherapeutischer Ansatz, um die Bildung von weiteren Autoantikörpern zu verhindern. Die medikamentöse Therapie erfolgt nach einem Stufenschema mit Azetylcholinesteraseinhibitoren, Glukokortikosteroiden und Immunsuppressiva.
Anästhesiologische Besonderheiten bei Myasthenia Gravis
Die Anästhesie bei Patienten mit Myasthenia gravis erfordert besondere Sorgfalt, um Komplikationen zu vermeiden.
Präoperative Vorbereitung
Die Stadieneinteilung nach Osserman liefert Informationen zu Dauer und Ausprägung der Erkrankung und ermöglicht eine präoperative Risikoeinschätzung. Eine ausführliche klinische Untersuchung ist für die Beurteilung des kardiopulmonalen und neurologischen Status unverzichtbar. Die Medikation sollte bis zur Narkoseeinleitung im bisherigen Tagesrhythmus fortgeführt werden, insbesondere die Cholinesteraseinhibitoren. Bei größeren Eingriffen muss präoperativ die Lungenfunktion untersucht werden. Neben den üblichen Laboruntersuchungen muss ein Elektrolytstatus erhoben werden.
Anästhesieverfahren
Wenn möglich, sollte die Regionalanästhesie (peripher oder rückenmarksnah) bevorzugt werden. Der Vorteil der Regionalanästhesie liegt im Verzicht von Narkotika und Muskelrelaxanzien bei suffizienter Analgesie und verbesserter Ventilation.
Muskelrelaxanzien
Die Gabe von Muskelrelaxanzien ist ein zentrales, kritisch diskutiertes Thema. Die Zerstörung der neuromuskulären Endplatte macht die Patienten außerordentlich sensibel gegenüber nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien. Ein TOF-Quotient unter 0,90 vor Einleitung der Narkose weist auf eine erhöhte Sensibilität hin und macht eine vorsichtige Titrierung notwendig. Die Kombination eines steroidalen Muskelrelaxans (Rocuronium, Vecuronium) zur Narkoseeinleitung und -führung und die Gabe des Enkapsulators Sugammadex zur Aufhebung der neuromuskulären (Rest-)Blockade am Ende der Operation erscheint pharmakokinetisch und -dynamisch am sinnvollsten. Die Wirkung von Succinylcholin ist unsicher und sollte für eine „rapid sequence induction“ (RSI) mit einer erhöhten Dosis von 1,5-2,0 mg/kg eingesetzt werden.
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Narkoseführung
Patienten mit Myasthenia gravis haben kein verändertes Ansprechen auf Opioide oder Hypnotika. Eine total intravenöse Anästhesie mit kurz wirksamen Medikamenten wie Propofol und Remifentanil ist gegenüber länger wirksamen Substanzen vorzuziehen. Auch schnell abflutende inhalative Anästhetika (Desfluran, Sevofluran) eignen sich gut zur Aufrechterhaltung der Narkose, wirken jedoch selbst muskelrelaxierend und verstärken die Wirkung von Muskelrelaxanzien.
Postoperative Überwachung
Der Patient mit einer Myasthenia gravis muss vor Narkoseausleitung die Kriterien für eine sichere Extubation erfüllen. Ein besonderes Augenmerk muss auf einer guten Muskelfunktion liegen. Die TOF-Ratio muss über 0,9 liegen. Neuromuskuläre Restblockaden können entweder mit Sugammadex oder mit Pyridostigmin antagonisiert werden. Patienten mit einer Myasthenia gravis bedürfen postoperativ einer intensiven Überwachung. Die übliche Dosis an Pyridostigmin wird nach einer Thymektomie reduziert.
Differenzialdiagnose und spezielle Syndrome
Es ist wichtig, die Myasthenia gravis von anderen neuromuskulären Erkrankungen zu unterscheiden.
Lambert-Eaton-Syndrom
Das Lambert-Eaton-Syndrom ist ein Prototyp eines paraneoplastischen Syndroms, das häufig mit einem kleinzelligen Bronchialkarzinom assoziiert ist. Die Patienten reagieren sehr empfindlich sowohl auf nichtdepolarisierende als auch nicht depolarisierende Muskelrelaxanzien.
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