Myasthenia gravis (MG), oft auch nur Myasthenie genannt, ist eine seltene Autoimmunerkrankung, bei der es zu einer Störung der Kommunikation zwischen Nerven und Muskeln kommt. Die Erkrankung führt zu einer belastungsabhängigen Muskelschwäche, die sich im Laufe des Tages verstärken kann. Besonders häufig sind die Augenmuskeln betroffen, was zu Doppelbildern und hängenden Augenlidern führen kann.
Was ist Myasthenia Gravis?
Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise körpereigene Zellen angreift. Bei MG richten sich die Autoantikörper gegen Rezeptoren und Enzyme, die für die Kommunikation zwischen Nervenzellen und Muskeln wichtig sind. Dies führt zu einer gestörten Reizübertragung an der neuromuskulären Endplatte, dem Übergang zwischen Nerv und Muskelfaser.
Ursachen und Risikofaktoren
Die genauen Ursachen der Myasthenia gravis sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird jedoch vermutet, dass die Thymusdrüse eine entscheidende Rolle spielt. Bei vielen Patient:innen mit MG ist die Thymusdrüse vergrößert oder weist einen Tumor (Thymom) auf.
Weitere Risikofaktoren können hormonelle Schwankungen, Stressfaktoren wie Infekte, Medikamente, grelles Licht oder Wärme sowie genetische Faktoren sein. Frauen sind häufiger betroffen als Männer, insbesondere im Alter zwischen 20 und 40 Jahren.
Epidemiologie
Myasthenia gravis ist eine seltene Erkrankung, von der etwa 1 von 10.000 Menschen in der EU betroffen ist. In Deutschland liegt die geschätzte Prävalenz bei rund 39 betroffenen Personen pro 100.000 Einwohnern. Die Erkrankung kann in jedem Alter auftreten, wobei Frauen häufiger im Alter zwischen 30 und 50 Jahren und Männer zwischen 60 und 89 Jahren betroffen sind.
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Symptome der okulären Myasthenia Gravis
Die okuläre Form der Myasthenia gravis (EOMG) ist durch eine isolierte Affektion der Augenmuskeln gekennzeichnet. Typische Symptome sind:
- Ptosis: Hängende Augenlider, die ein- oder beidseitig auftreten können.
- Diplopie: Doppelbilder, die durch die Lähmung eines oder mehrerer Augenmuskeln entstehen.
- Verschwommensehen: Kann ebenfalls auftreten.
- Müde Augen: Verstärkte Anstrengung beim Lesen, Fernsehen oder bei Bildschirmarbeit.
Die Symptome können im Tagesverlauf variieren und sich bei Belastung verstärken.
Diagnostik
Die Diagnose der Myasthenia gravis basiert auf den typischen Beschwerden, der Anamnese des Patienten und verschiedenen Untersuchungsmethoden:
- Neurologische Untersuchung: Prüfung der Muskelfunktion, Reflexe und Sensibilität.
- Belastungstests: Beobachtung der Muskelermüdung bei wiederholten Bewegungen. Zum Beispiel der Simpson Test (Blick nach oben für mind. 1 Minute => Auftreten oder Verstärkung einer vorbestehenden Ptose) oder Jollys Test (Wiederholtes Faustöffnen/- schließen mit Nachlassen der Kraft).
- Kältetest: Kühlung des Auges kann bei okulärer Myasthenie zu einer Verbesserung der Symptome führen.
- Tensilontest: Intravenöse Gabe von Edrophoniumchlorid (Acetylcholinesterasehemmer) führt zu einer kurzzeitigen Besserung der Symptomatik.
- Elektromyographie (EMG): Messung der elektrischen Aktivität der Muskeln, um eine gestörte Impulsübertragung zwischen Nerv und Muskel festzustellen. Hierbei wird eine repetitive Stimulation eines peripheren Nerven mit einer Frequenz von 2-3 Hz durchgeführt.
- Einzelfaser-EMG: Erhöhte Variabilität des zeitlichen Abstands der Muskelaktionspotentiale zweier benachbarter Fasern einer motorischen Einheit.
- Blutuntersuchungen: Nachweis von Autoantikörpern gegen Acetylcholinrezeptoren (AChR-AK), MuSK (muskelspezifische Tyrosinkinase) oder LRP4 (Lipoprotein-Rezeptor-related Protein 4).
- Bildgebende Verfahren: Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) zur Untersuchung der Thymusdrüse auf Vergrößerungen oder Tumoren.
Differentialdiagnose
Die Differenzialdiagnose der okulären Myasthenia gravis umfasst andere Erkrankungen, die ähnliche Symptome verursachen können, wie z. B.:
- Chronisch progressive externe Ophthalmoplegie (CPEO)
- Endokrine Orbitopathie
- Chronische orbitale (Pan)Myositis
- Okulopharyngeale Muskeldystrophie
- Myotone Dystrophie Typ 1
- Abetalipoproteinämie
- Refsum-Krankheit
Therapie der okulären Myasthenia Gravis
Die Behandlung der Myasthenia gravis zielt darauf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Patient:innen zu verbessern. Es gibt verschiedene Therapieansätze:
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Medikamentöse Therapie
- Cholinesterasehemmer: Pyridostigmin ist ein häufig eingesetztes Medikament, das den Abbau von Acetylcholin verzögert und so die Signalübertragung an der neuromuskulären Endplatte verbessert.
- Immunsuppressiva: Kortikosteroide (Prednison, Prednisolon) und Azathioprin werden eingesetzt, um die Autoimmunreaktion zu unterdrücken und die Bildung von Autoantikörpern zu reduzieren.
Weitere Behandlungsmöglichkeiten
- Thymektomie: Die operative Entfernung der Thymusdrüse kann bei Patient:innen mit Thymom oder einer Vergrößerung der Thymusdrüse zu einer Besserung der Symptome führen.
- Plasmapherese: Bei dieser Behandlung werden die Autoantikörper aus dem Blut entfernt.
- Intravenöse Immunglobuline (IVIG): Die Gabe von IVIG kann das Immunsystem modulieren und die Symptome der Myasthenia gravis lindern.
Behandlung okulärer Symptome
- Ptosis: Bei hängenden Augenlidern können Hilfsmittel wie Lidretraktoren an der Brille oder eine operative Raffung des Augenlids eingesetzt werden.
- Diplopie: Doppelbilder können vorübergehend durch Abdecken eines Auges oder langfristig durch Prismenfolien für Brillengläser behandelt werden. In manchen Fällen kann auch eine Schieloperation in Erwägung gezogen werden.
Neugeborenenmyasthenie
Eine Sonderform der Myasthenia gravis ist die Neugeborenenmyasthenie. Dabei passieren Autoantikörper der IgG-Klasse die Plazentaschranke und rufen eine transiente (vorübergehende) neonatale Myasthenie hervor. Die Ausprägungen der neonatalen Krankheitsvariante entwickeln sich in den ersten Tagen nach der Geburt. Die Häufigkeit liegt bei etwa 1:12 Neugeborene von Müttern, die an Myasthenie erkrankt sind. Auch über das Kolostrum (Vormilch) können in den ersten Tagen nach der Geburt Autoantikörper übertragen werden. Einwände gegen das Stillen bestehen aber nicht, da die Symptome üblicherweise nach wenigen Wochen wieder abklingen. Nach mehr als drei Monaten sind die Acetylcholinrezeptorantikörper nicht mehr nachweisbar.
Chronisch progressive externe Ophthalmoplegie (CPEO)
Bei der chronisch progressiven externen Ophthalmoplegie (CPEO) handelt es sich um eine Mitochondriopathie, die i. d. R. durch Mutationen in der mitochondrialen DNA (mtDNA) bedingt ist. Das klinische Spektrum von Mitochondriopathien ist hoch variabel und reicht von milder Myopathie bis zu schwerer Multiorganmanifestation wie dem Kearns-Sayre-Syndrom (KSS). Patienten mit CPEO entwickeln meist eine Ptosis als Erstsymptom, initial häufig erst einseitig oder asymmetrisch ausgeprägt. Seltener ist eine reduzierte Augenbeweglichkeit das Erstsymptom. Typisch ist die symmetrische Einschränkung der Augenbeweglichkeit in alle Richtungen.
Leben mit Myasthenia Gravis
Patient:innen mit Myasthenia gravis sollten auf eine ausgewogene Ernährung und regelmäßige Bewegung achten. Übermäßige Belastung sollte vermieden werden, um die Symptome nicht zu verstärken. Es ist wichtig, die individuellen Belastungsgrenzen zu kennen und ausreichend Ruhepausen einzuplanen. Auch seelische Belastungen, Schlafmangel, Alkoholkonsum, Fieber sowie grippale Infekte können die Symptome verstärken.
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