Myasthenia gravis (MG) ist eine chronische neurologische Erkrankung, die die Kommunikation zwischen Nerven und Muskeln beeinträchtigt und zu Muskelschwäche und Müdigkeit führt. Obwohl die Erkrankung selbst nicht heilbar ist, gibt es verschiedene medikamentöse Therapien und immuntherapeutische Ansätze, die die Symptome lindern und den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen können. Neben den körperlichen Auswirkungen der Myasthenie spielen psychische Gesundheitsprobleme eine wesentliche Rolle im Leben der Betroffenen. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte der Myasthenie, ihre Behandlungsmöglichkeiten und den Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit.
Was ist Myasthenie?
Myasthenie ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das körpereigene Abwehrsystem fälschlicherweise die Acetylcholin-Rezeptoren (AChR) an der Kontaktstelle zwischen Nerv und Muskel angreift. Diese Kontaktstelle wird als Endplatte bezeichnet. An dieser Stelle sind Nerv und Muskelfaser nicht direkt miteinander verbunden, sondern es liegt ein Spalt vor. Über diesen Spalt muss das elektrische Signal, der Nervenimpuls, in ein chemisches Signal umgewandelt werden, damit sich der Muskel zusammenziehen kann. Dies geschieht über die Ausschüttung des Botenstoffs Acetylcholin. Dieser Botenstoff bindet sich an Aufnahmestellen in der Muskelfaser, die Acetylcholin-Rezeptoren. Daraufhin öffnen sich kleine Kanäle, durch die positiv geladene Ionen strömen - das Signal ist im Muskel angekommen und er kann arbeiten.
Durch die Antikörperbildung werden diese Rezeptoren verstärkt abgebaut, der Nervenimpuls kann nicht mehr richtig weitergeleitet werden und die Muskeln erschlaffen. Die Folge ist eine Muskelschwäche, die sich bei Belastung verstärkt und nach Ruhephasen wieder bessert. Unbehandelt kann sich die Muskelschwäche immer weiter verschlimmern. Die Erkrankung ist relativ selten. Durchschnittlich kommen auf eine Million Menschen 100 bis 200 Betroffene.
Symptome der Myasthenie
Die Symptome der Myasthenie können sehr unterschiedlich sein und variieren im Schweregrad. Erste Krankheitszeichen treten häufig im Gesichtsbereich auf. Zu den häufigsten Symptomen gehören:
- Hängendes Augenlid
- Augen können nicht komplett geschlossen werden
- Sehstörungen wie Doppelbilder
- Probleme in der Mimik: Der Betroffene kann nicht richtig sprechen, lachen oder kauen, es fällt ihm schwer, den Mund ganz zu schließen
- Probleme, den Kopf oben zu halten, weil die Nackenmuskulatur betroffen ist
- Muskelschwäche im Bereich der Rachen- und Kiefermuskeln, dadurch Probleme beim Essen und Schlucken. In manchen Fällen kann der Betroffene gar nicht mehr schlucken, dann muss der Speichel abgesaugt und Nahrung künstlich zugeführt werden.
- Atemprobleme
- Beschwerden im Bereich der Gliedmaßen sind in den Armen oft stärker als in den Beinen.
Grundsätzlich kann die Myasthenie alle Skelettmuskeln betreffen. Die Muskulatur der inneren Organe und des Herzmuskels ist nicht beeinträchtigt. Die Beschwerden sind oft belastungsabhängig, das heißt, nach körperlicher Anstrengung stärker als am Morgen und nach Ruhephasen.
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Gefährliche Komplikationen
Wenn die Erkrankung die Atemmuskeln befällt, droht Lebensgefahr. In schweren Fällen muss der Patient künstlich beatmet werden. Auch Schluckstörungen können zu ernsten Komplikationen führen. Wenn Speiseteile oder Getränke in die Lunge statt in die Speiseröhre gelangen, kann es zu einer Lungenentzündung kommen. Bestimmte Medikamente, Begleiterkrankungen, Schwangerschaft oder Operationen können bei einer stark geschwächten Atem- und Schluckmuskulatur zu einer raschen Verschlechterung der Symptome führen. Man spricht dann von einer myasthenen Krise. Das ist ein dringender Notfall, der intensivmedizinisch behandelt werden muss.
Ursachen der Myasthenie
Die genauen Ursachen der Myasthenie sind noch nicht vollständig geklärt. Forschende vermuten, dass Infektionen, etwa mit Viren oder Bakterien, die körpereigene Abwehr fehlleiten, sodass sich eine Myasthenie entwickelt. Myasthenia gravis ist in der Regel nicht erblich bedingt.
Diagnose der Myasthenie
Bei Verdacht auf Myasthenie wird der Arzt verschiedene Tests durchführen, um die Diagnose zu sichern. Dazu gehören:
- Krankheitsgeschichte und körperliche Untersuchung: Der Arzt erfasst die Krankheitsgeschichte des Patienten und führt eine neurologische Untersuchung durch, um die Muskelfunktion zu beurteilen.
- Simpson-Test: Der Arzt prüft, wie lange der Patient die Augenlider weit geöffnet halten kann.
- Test der Muskelreaktion nach elektrischer Stimulation bestimmter Nerven
- Untersuchung des Blutes und von Muskelgewebe auf typische Antikörper: Bei vielen Betroffenen hat der Körper Antikörper gebildet, die sich gegen die Acetylcholin-Rezeptoren oder andere für die Signalübertragung wichtige Bestandteile der Endplatte richten. Die Blutwerte zeigen an, ob diese Antikörper vorhanden sind.
- Neurophysiologische Untersuchung: Die Behandelnden messen dabei die elektrische Aktivität in den Muskeln und Nerven.
- Computertomografie (CT) des Brustkorbs: In einigen Fällen liegt bei Menschen mit Myasthenie eine Vergrößerung des Thymus vor.
- Logopädische Untersuchung der Rachen- und Kaumuskeln
Behandlungsmöglichkeiten der Myasthenie
Obwohl Myasthenie nicht heilbar ist, gibt es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, die die Symptome lindern und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern können. Wird die entzündlich neuromuskuläre Autoimmunerkrankung dagegen frühzeitig erkannt und behandelt, können Betroffene mithilfe einer medikamentösen Therapie ein nahezu unbeeinträchtigtes Leben führen. Ziel ist immer die weitestgehende Symptomfreiheit. Einen nahezu oder vollständig beschwerdefreien Patienten zu haben, ist auch für den behandelnden Arzt erstrebenswert. Allerdings ist der Krankheitsverlauf im Einzelfall nicht immer vorhersagbar. Autoimmunerkrankungen können manchmal ein paar Jahre stärkere Beschwerden verursachen und sich dann wieder beruhigen.
Zu den wichtigsten Therapieansätzen gehören:
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- Medikamentöse Therapie:
- Acetylcholinesterasehemmer: Mit diesem Wirkstoff wird der Abbau des Botenstoffes Acetylcholin (ACh) gebremst und damit die Reizübertragung von den Nerven zu den Muskeln verbessert. Azetylcholin (ACh) wird durch das Enzym Azetylcholinesterase (AChE) abgebaut. Wird das Enzym medikamentös gehemmt, wird der Abbau des ACh vermindert und es steht mehr ACh zur Verfügung. Dadurch wird die Signalübertragung an der Schnittstelle zwischen Nervenfaser und Muskelzelle verbessert.
- Kortikosteroide (Kortison): Kortison zählt zu den Standardtherapeutika. Mit dem körpereigenen Hormon wird die Überaktivität des Immunsystems gedämpft.
- Immunsuppressiva: Sie werden eingesetzt, um die Neubildung von Antikörpern zu bremsen. Sie haben in der Regel während einer Langzeitbehandlung weniger starke Nebenwirkungen als Kortison. Der Behandlungserfolg tritt mit diesen Medikamenten jedoch erst mit einer gewissen Verzögerung ein.
- Biologika: Neuartige monoklonale Antikörper wie Rituximab und Eculizumab, greifen spezifisch in den Krankheitsprozess ein und können das Krankheitsgeschehen in bestimmten Konstellationen nachhaltig positiv zu beeinflussen.
- Immuntherapie: Am Deutschen Zentrum Immuntherapie kann die Erkrankung in interdisziplinärere Zusammenarbeit mit den beteiligten Kliniken zudem mittels Immuntherapie behandelt werden. Bei dieser kommen spezielle Immuntherapeutika zum Einsatz, die die Bildung schädigender Antikörper unterdrücken.
- Thymektomie: Lässt sich jedoch ein Thymustumor nachweisen, reicht eine medikamentöse Therapie allein meist nicht mehr aus und eine Operation wird notwendig. Bei einigen Patienten oder Patientinnen ist der Thymus gutartig vergrößert, was scheinbar im Zusammenhang mit der Entstehung von Myasthenia gravis steht. In diesen Fällen wird der Thymus entfernt, um den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen.
- Plasmapherese: Im Falle einer myasthenen Krise, bei der ein Atemstillstand droht, ist eine Notfalltherapie notwendig: Betroffene bekommen über eine Infusion sogenannte Immunglobuline, also spezielle Immunzellen aus dem Spenderblut gesunder Menschen. In einigen Fällen kann eine sogenannte Plasmapherese Teil der Behandlung sein. Bei der Immunadsorption wird Blut durch ein spezielles Filtersystem geleitet, das gezielt die schädlichen Antikörper bindet und herausfiltert.
- Physiotherapie: In der Physiotherapie liegt der Fokus darauf, die Bewegungs- und Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers wiederherzustellen, zu verbessern oder zu erhalten. Gemeinsam mit Ihnen erfassen Physiotherapeut*innen Ihre aktuelle Situation. Dabei werden Ihre individuellen Lebensbereiche mit Ihren Schwierigkeiten und Ressourcen betrachtet. Physiotherapeutische Untersuchungen, u. a. Funktions- und Krafttests, werden durchgeführt.
Was Patienten selbst tun können
Patienten mit Myasthenia gravis können selbst einiges zum Behandlungserfolg beitragen. Wichtig ist dabei, dass sie sich über die Krankheit und die Behandlungsmöglichkeiten gut informieren und sich einen Spezialisten suchen, beispielsweise in einem integrierten Myasthenie-Zentrum, der Erfahrung in der Therapie dieser seltenen Erkrankung hat. Zusätzlich sollten sie einen guten niedergelassenen Neurologen und einen zuverlässigen Hausarzt haben.
- Therapietreue: Die Therapietreue ist natürlich wichtig, aber bei Myasthenia gravis meist kein großes Problem. Wenn die Behandlung gut wirkt, wenden sie die meisten Patienten auch regelmäßig an. Ein Problem sind hier viel häufiger die nötigen Laboruntersuchungen bei Arzneimitteln, die das Immunsystem unterdrücken, den Immunsuppressiva. Hier müssen bei Behandlungsbeginn und bei jeder Dosisänderung häufige Blutentnahmen durchgeführt werden, um mögliche Nebenwirkungen zu entdecken. Eine Leberfunktionsstörung oder Veränderungen der weißen Blutkörperchen merken die Patienten selbst erst dann, wenn es wirklich gefährlich wird. Sie sollten auf jeden Fall rasch ihren behandelnden Arzt kontaktieren.
- Dokumentation des Krankheitsverlaufs: Es ist hilfreich, den Krankheitsverlauf zuhause zu dokumentieren, beispielsweise indem sie den MG-ADL-Fragebogen ausfüllen. Auch die Lebensqualität ist ein wichtiges Maß, etwa in Bezug auf eine Depression oder eine chronische Erschöpfbarkeit, die sogenannte Fatigue. Die Patienten können aber auch eigene Kriterien bestimmen, zum Beispiel, wie lange sie es schaffen, spazieren zu gehen. Je besser ein Patient seinen Krankheitsverlauf schildern kann, umso besser ist die Grundlage für die Therapieentscheidung. Der sogenannte Myasthenia Gravis Activities of Daily Living-Fragebogen, kurz MG-ADL, ist wissenschaftlich anerkannt und ermöglicht es dir, einen langfristigen Überblick über deinen Krankheitsverlauf zu erhalten. 1Wolfe GI et al.
- Vorsorgeuntersuchungen: Ich rate zudem Betroffenen, die allgemein empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen wirklich planmäßig in Anspruch zu nehmen. Bei Anwendung von Immunsuppressiva ist zudem ein konsequenter UV-Schutz wichtig.
- Anpassungen am Arbeitsplatz: Wenn die Myasthenia gravis zu Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz führt, kann zudem ein Gespräch mit dem Betriebsarzt sinnvoll sein. Für manche Betroffene ist beispielsweise der Wechsel von einer normalen Computer-Maus auf eine Rollmaus eine große Hilfe. Bei Kopfhalteschwäche kann eine Kopfstütze helfen und bei Doppelbildern Prismenbrillen.
- Aktiver Lebensstil: Im Gegensatz zu früher raten wir unseren Patienten heute außerdem, aktiv zu bleiben. Eine gute Mischung aus Muskelaufbau und Kardiotraining ist auf jeden Fall sinnvoll. Menschen mit Myasthenia gravis sollten dabei nicht bis an die Belastungsgrenze trainieren, sondern etwas davor aufhören. Sollte es ein Patient einmal übertreiben, passiert zum Glück nichts Schlimmes, aber er kann beim nächsten Mal besser einschätzen, wie weit er gehen kann. Manchen hilft es auch, sich eine Physiotherapie verschreiben zu lassen. Grundsätzlich sind die meisten Sportarten auch für Myasthenie-Patientinnen möglich. Myasthenie-Patientinnen mit milder und stabiler Erkrankung können allgemeine Empfehlungen zu Bewegung befolgen. Ein Training von Kraft und Ausdauer kann durchgeführt werden.
Myasthenie und psychische Gesundheit
Psychische Gesundheitsprobleme sind bei Menschen mit chronischen neurologischen Erkrankungen wie Myasthenie häufig. Diese Bedingungen können das Risiko erhöhen, Depressionen und Angstzustände zu entwickeln, was die Lebensqualität der Patienten und ihrer Betreuer weiter beeinträchtigen kann.
Eine Studie hat gezeigt, dass 31 % der Patienten Symptome einer Depression und 36 % Symptome einer Angststörung aufwiesen. Die Mehrheit (93,9 %) derjenigen, die sich einer Psychotherapie unterzogen, berichteten, dass sie von dieser Therapie profitierten.
Es ist wichtig, psychische Begleiterkrankungen bei der Myasthenie-Versorgung zu diagnostizieren und zu behandeln. Screening-Tools für psychische Erkrankungen sollten in spezialisierten Myasthenie-Zentren implementiert werden, um sicherzustellen, dass Patienten und Betreuer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, um die emotionalen und körperlichen Anforderungen der Erkrankung zu bewältigen.
Abgesehen davon sollten Menschen mit Myasthenia gravis versuchen, ihre Erkrankung auch psychisch zu bewältigen. Da kann neben professioneller psychologischer Hilfe auch beispielsweise eine Selbsthilfegruppe helfen.
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Leben mit Myasthenie
Obwohl die Myasthenie eine chronische Erkrankung ist, können viele Betroffene ein erfülltes Leben führen. Nach meiner Erfahrung kann etwa ein Drittel der Betroffenen ein fast komplett oder komplett normales Leben führen, ein weiteres Drittel hat Einschränkungen, mit denen die Patienten gut leben können. Und ungefähr ein Drittel leidet unter schweren Einbußen. In diesen Fällen kann das Berufsleben nicht mehr in der gewohnten Weise fortgeführt werden und auch die Freizeitgestaltung ist dann eine andere. Aber auch wenn der Krankheitsverlauf letztlich nie ganz berechenbar ist, können Betroffene selbst einiges tun, um ihre Beschwerden bestmöglich in den Griff zu bekommen.
Es ist wichtig, sich über die Erkrankung zu informieren, eine gute medizinische Versorgung zu erhalten und Strategien zur Bewältigung der körperlichen und emotionalen Herausforderungen zu entwickeln. Mit der richtigen Unterstützung können Menschen mit Myasthenie ein aktives und erfülltes Leben führen.
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