Nervensystem heilen: Trauma-Therapie für mehr Balance und Lebensqualität

Hyperarousal, oft als Übererregung des Nervensystems bezeichnet, ist ein Zustand dauerhafter innerer Anspannung und erhöhter Alarmbereitschaft, der die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen kann. Betroffene fühlen sich, als ob ihr Körper ständig in Alarmbereitschaft ist, selbst in sicheren Situationen. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen, Symptome und verschiedene Therapieansätze, um das Nervensystem nach traumatischen Erfahrungen wieder in Balance zu bringen und die Selbstheilungskräfte zu aktivieren.

Was ist Hyperarousal?

Hyperarousal ist kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern ein Symptom, das häufig im Zusammenhang mit psychischen Belastungen wie chronischem Stress, Angststörungen, Traumata oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auftritt. Das autonome Nervensystem befindet sich in einem anhaltenden Stressmodus, selbst wenn keine reale Gefahr besteht. Betroffene erleben eine ständige Überaktivierung ihres Körpers, die sowohl psychisch als auch körperlich belastend ist.

Ursachen von Hyperarousal

Die Ursachen für Hyperarousal sind vielfältig und oft komplex. In vielen Fällen handelt es sich um eine Reaktion auf anhaltenden psychischen oder physischen Stress, der das Nervensystem langfristig überfordert. Ein Trauma hinterlässt nicht nur seelische Spuren, sondern prägt auch den Körper. Besonders deutlich zeigt sich dies bei Hyperarousal, einem der zentralen Symptome der PTBS. Das Verständnis der Ursachen ist eine wichtige Grundlage für eine wirksame Behandlung.

Symptome von Hyperarousal

Hyperarousal kann sich auf verschiedene Weisen zeigen. Zu den häufigsten Symptomen gehören:

  • Dauerhafte innere Anspannung: Ein Gefühl ständiger Unruhe und Anspannung, selbst in entspannten Situationen.
  • Erhöhte Reizbarkeit: Betroffene reagieren oft überempfindlich auf Geräusche, Bewegungen oder unerwartete Ereignisse.
  • Schlafstörungen: Schwierigkeiten beim Ein- oder Durchschlafen, Albträume oder unruhiger Schlaf.
  • Konzentrationsschwierigkeiten: Probleme, die Aufmerksamkeit zu fokussieren oder sich an Dinge zu erinnern.
  • Erhöhte Schreckhaftigkeit: Übermäßige Reaktionen auf unerwartete Geräusche oder Bewegungen.
  • Vigilanz: Ein Gefühl ständiger Wachsamkeit und des Misstrauens.

Therapieansätze zur Heilung des Nervensystems nach Trauma

Hyperarousal ist herausfordernd, aber es gibt verschiedene Wege, das Nervensystem wieder in Balance zu bringen. Professionelle Hilfe ist entscheidend, um das Nervensystem zu stabilisieren und langfristige Verbesserungen zu erzielen.

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Psychotherapie

Psychotherapeutische Verfahren spielen eine zentrale Rolle bei der Behandlung von Hyperarousal und traumabedingten Störungen.

  • EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing): Ursprünglich zur Verarbeitung traumatischer Erlebnisse entwickelt, kann EMDR dazu beitragen, belastende Erinnerungen neu zu verarbeiten und emotionale Anspannung zu reduzieren. Durch die bilaterale Stimulation beider Gehirnhälften können schmerzhafte Gedanken und Gefühle neu beurteilt und eingeordnet werden. Viele Patienten erleben bereits nach den ersten EMDR-Sitzungen einen deutlichen Fortschritt.
  • Kognitive Verhaltenstherapie (CBT): CBT hilft dabei, Stressmuster zu durchbrechen, indem automatische Gedanken und Reaktionsmuster erkannt werden, die das Nervensystem in Alarmbereitschaft halten. Sie unterstützt Betroffene dabei, neue Bewältigungsstrategien zu entwickeln und ihre Denkmuster zu verändern.
  • Trauma-sensitives Yoga (TCTSY): Dieses evidenzbasierte Programm wurde am Center for Trauma and Embodiment in Boston entwickelt und kann bei komplexen Traumata, PTBS, Depressionen und Ängsten eingesetzt werden. Ziel der Yogapraxis ist es, wieder im Körper anzukommen und ein Gefühl von Sicherheit zu entwickeln. Der Fokus liegt auf Interozeption, Achtsamkeit und Empowerment der Praktizierenden.
  • Somatic Experiencing (SE): Diese körperorientierte Traumatherapie wurde von Dr. Peter Levine entwickelt und zielt darauf ab, die im Körper als Folge von Schock und Trauma entstandenen Symptome zu wandeln. SE definiert Trauma nicht in erster Linie durch das Ereignis, sondern durch die körperliche Reaktion darauf. Durch nonverbale Kommunikation mit dem Körpergedächtnis wird das Nervensystem sanft angeleitet, die blockierten Energien zu entladen.
  • Ego-State-Therapie: Dieser psychotherapeutische Ansatz arbeitet mit inneren Persönlichkeitsanteilen (Ego-States) und bietet sich insbesondere für Patienten an, die als Schutzmechanismus gegenüber einer Traumatisierung eine dissoziative Identitätsstörung entwickelt haben. Ziel ist es, die Anteile miteinander in Einklang zu bringen, um innerpsychische Spannungszustände aufzulösen und Selbstbestimmtheit sowie Beziehungsfähigkeit zu fördern.

Achtsamkeitsbasierte Methoden

Achtsamkeitsbasierte Methoden fördern die Selbstregulation des Nervensystems und können helfen, mehr Gelassenheit und Stabilität zu gewinnen.

  • Meditation: Regelmäßige Meditation kann helfen, den Geist zu beruhigen und die innere Anspannung zu reduzieren.
  • Atemübungen: Spezielle Atemtechniken können das vegetative Nervensystem beruhigen und die Entspannung fördern.
  • Progressive Muskelentspannung: Diese Technik hilft, körperliche Anspannung abzubauen und ein Gefühl der Entspannung zu erzeugen.

Medikamentöse Unterstützung

In schweren Fällen können Medikamente helfen, das übererregte Nervensystem zu stabilisieren und Symptome wie Schlafstörungen, innere Unruhe und Reizbarkeit zu lindern. Wichtige Zielstrukturen sind Serotonin, Noradrenalin und GABA. SSRI oder SNRI können die Stimmung stabilisieren und die Schlafqualität verbessern, indem sie das autonome Nervensystem beruhigen. Sedierende Medikamente wie niedrig dosierte trizyklische Antidepressiva oder GABA-verstärkende Wirkstoffe können ebenfalls eingesetzt werden. Trotz ihrer unterstützenden Wirkung sollten Medikamente immer nur begleitend zur Psychotherapie eingesetzt werden.

Selbsthilfetechniken für den Alltag

Neben professioneller Hilfe gibt es auch verschiedene Selbsthilfetechniken, die im Alltag angewendet werden können, um das Nervensystem zu beruhigen und die innere Anspannung zu reduzieren.

  • Bewusste Atmung: Längeres Ausatmen als Einatmen kann helfen, den Parasympathikus zu aktivieren und das Nervensystem zu beruhigen.
  • Erdungsübungen: Die bewusste Wahrnehmung des Körpers und der Umgebung kann helfen, sich im Hier und Jetzt zu verankern und den Stresslevel zu senken. Eine einfache Übung ist, die Füße bewusst auf dem Boden zu spüren und die Aufmerksamkeit auf die Empfindungen zu richten.
  • Orientierungsübungen: Bei großer Aufregung oder Unruhe kann es helfen, sich aufmerksam im Raum umzusehen und Gegenstände bewusst zu benennen. Dies lenkt die Aufmerksamkeit von den belastenden Gedanken ab und hilft, sich wieder im Hier und Jetzt zu orientieren.
  • Entspannung der Zunge: Die Entspannung der Zunge, indem sie leicht an den oberen Zähnen liegt, kann das System beruhigen und zu tieferen Atemzügen führen.
  • Achtsame Bewegung: Achtsame Bewegungsformen wie Yoga, Tai-Chi und Qi Gong fördern die Entspannung, bewegen die Energie im Körper und verbinden Körper und Geist.

Die Polyvagal-Theorie und ihre Bedeutung für die Traumatherapie

Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges erklärt, wie das autonome Nervensystem auf Stress und Gefahr reagiert. Sie unterscheidet drei Möglichkeiten: Kampf, Flucht und Erstarrung, und fügt den Totstellreflex hinzu. Ein wichtiger Aspekt ist das "soziale Nervensystem", ein Teil des Vagusnervs, der für soziale Interaktion und Kommunikation zuständig ist. Traumatisierungen können dazu führen, dass dieses System abgeschaltet wird, was soziale Auswirkungen hat. Die Polyvagal-Theorie betont die Bedeutung von Sicherheit und Beziehung für die Heilung von Traumata.

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Die Rolle des Körpergedächtnisses

Traumata können einen großen Einfluss auf das Körpergedächtnis haben. Somatic Experiencing (SE)® ist eine Methode, die sich mit der Kommunikation mit diesem Körpergedächtnis beschäftigt. Sie hilft, Traumata auf eine Art und Weise zu bearbeiten, die den Körper miteinbezieht. Durch gezielte Übungen und Techniken ermöglicht SE® die Auflösung von Traumaspuren im Körpergedächtnis. So können Sie lernen, wieder ein Gespür für Ihren Körper zu entwickeln und körperliche Reaktionen besser zu verstehen.

Stabilisierung als wichtiger erster Schritt

Zu Beginn der Traumatherapie ist es wichtig, den Patienten zu entlasten und emotional zu stabilisieren. Die Voraussetzung dafür ist eine gute Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Der Patient muss sich bei dem Therapeuten wohlfühlen und ihm vertrauen. Um seinem Patienten nicht zu schaden, muss sich der Therapeut langsam an das Erlebnis herantasten. Ein zu schnelles Vorgehen würde den Patienten überfordern.

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