Traumatische Erfahrungen können tiefgreifende Auswirkungen auf unser Nervensystem haben, was zu einer Vielzahl von körperlichen, emotionalen und psychischen Symptomen führen kann. Dieser Artikel untersucht, wie Traumata das Nervensystem beeinflussen und welche Strategien zur Regulierung und Heilung zur Verfügung stehen.
Einführung
Das Nervensystem spielt eine entscheidende Rolle bei der Verarbeitung von Stress und traumatischen Erlebnissen. Ein gesundes Nervensystem ermöglicht es uns, mit Stress umzugehen und uns nach belastenden Situationen wieder zu beruhigen. Bei traumatisierten Menschen kann diese Fähigkeit jedoch beeinträchtigt sein, was zu chronischem Stress, Angstzuständen und anderen Symptomen führen kann.
Das autonome Nervensystem und Trauma
Das autonome Nervensystem (ANS) ist ein Teil des Nervensystems, der automatische Körperfunktionen wie Herzschlag, Blutdruck, Atmung und Verdauung steuert. Es besteht aus zwei Hauptteilen:
- Sympathisches Nervensystem: Aktiviert den Körper in Stresssituationen ("Kampf-oder-Flucht"-Reaktion).
- Parasympathisches Nervensystem: Beruhigt den Körper und fördert Entspannung und Erholung.
Bei einem traumatischen Erlebnis wird das sympathische Nervensystem aktiviert, was zu körperlichen Reaktionen wie erhöhter Herzfrequenz, erhöhtem Blutdruck und erhöhter Atemfrequenz führt. Nach dem Ereignis sollte das parasympathische Nervensystem den Körper wieder in einen Zustand der Ruhe und Entspannung bringen. Bei traumatisierten Menschen kann dieser Prozess jedoch gestört sein, was zu einem chronisch erhöhten Stressniveau führt.
Trauma und Stresstoleranz
Jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens eine individuelle Stresstoleranz, die maßgeblich durch frühkindliche Erfahrungen mit primären Bezugspersonen geprägt wird. Eine gut entwickelte Stresstoleranz ermöglicht es, Alltagsherausforderungen zu meistern und sich bei moderatem Stress selbst zu regulieren. Dies führt zu einem regulierten oder integrierten Zustand des autonomen Nervensystems, in dem man sich entspannt und offen gegenüber der Umwelt fühlt. Hantke/Görges (2023) bezeichnen diesen Zustand auch als Ressourcenbereich, in dem alle Ressourcen zugänglich sind.
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Stresstoleranz nach Trauma
Ein traumatisches Erlebnis kann das Stresslevel extrem erhöhen und die Fähigkeit des Körpers zur Selbstregulation beeinträchtigen. Der Körper mobilisiert Kampf-/Flucht-Energie, um das Überleben zu sichern. Wenn die Sicherheit nicht wiederhergestellt wird, kann dies zu einem Zustand der Übererregung oder Erstarrung führen, in dem die mobilisierte Energie im System gespeichert bleibt. Dies kann sich als Schockstarre (Immobilität bei innerer Hochspannung) oder als Totstellreflex (Shut-down) äußern. Posttraumatisch ist die Stresstoleranz oft reduziert, was zu schnellerer Überforderung und Retraumatisierung führen kann. Jede erneute Erstarrung/Dissoziation bedeutet eine Retraumatisierung, bei der keine Verarbeitung des Traumas stattfindet.
Trauma-Typologie
Es gibt verschiedene Arten von Traumata, die sich an den auslösenden Ereignissen orientieren (vgl. Beckrath-Wilking et al. 2013, S. 36 f.).
Neurobiologische Veränderungen durch Trauma
Chronische Erfahrungen mit überwältigendem Stress oder Bedrohungen können das Gehirn nachhaltig verändern. Dies betrifft sowohl die Strukturen (Größe und Aktivität verschiedener Hirnstrukturen) als auch die Biochemie des Gehirns (z.B. Ausschüttung von Cortisol oder Oxytocin). Diese Veränderungen werden epigenetisch gespeichert und können als Anpassung an eine gefährliche Umwelt interpretiert werden.
Auswirkungen auf Verhalten und Emotionsregulation
Die Veränderungen im Gehirn können sich auf das Verhalten und die Emotionsregulation auswirken. Beispielsweise kann eine erhöhte Reaktivität der Amygdala (zuständig für die Reaktion auf Bedrohungen) zu einer erhöhten Bedrohungsempfindlichkeit führen. Auch die Verbindungen im Gehirn, die für die Emotionsregulation wichtig sind, können beeinträchtigt sein.
Veränderung des autonomen Nervensystems
Frühe Traumatisierungen können die Fähigkeit des autonomen Nervensystems, uns zur Ruhe zu bringen, beeinträchtigen. Insbesondere die Funktion des parasympathischen Nervensystems (Nervus Vagus) kann vermindert sein. Dies kann jedoch auch als Anpassung an eine Umwelt interpretiert werden, in der Wachsamkeit und schnelle Reaktionen wichtig sind.
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Feststellung neurobiologischer Veränderungen
Neurobiologische Veränderungen nach Trauma können in Studien durch den Vergleich von traumatisierten und nicht-traumatisierten Personengruppen im Hirnscanner oder durch Messung der Konzentration bestimmter Stoffe im Blutplasma oder Speichel festgestellt werden. Eine individuelle Diagnose ist jedoch aufgrund der Komplexität der Prozesse und der Vielzahl der Variablen nicht möglich.
Möglichkeiten der "Normalisierung" des Gehirns
Es gibt Hinweise darauf, dass sich das Gehirn nach traumatischen Erfahrungen wieder "umlernen" bzw. "normalisieren" kann. Epigenetische Veränderungen scheinen den Menschen an seine Umwelt anpassen zu können. Wenn sich die Umwelt ändert, kann sich auch die Biologie ändern. Wichtig sind hierbei das Einüben anderer Interaktionsmuster, das Verlassen von Teufelskreisen, die Beruhigung des Stresssystems (z.B. durch Yoga) und die Psychotherapie.
Neurobiologische Erkenntnisse für die Pädagogik
Für die pädagogische Arbeit mit traumatisierten Menschen ist es wichtig zu verstehen, dass der Einfluss von Einsicht begrenzt ist. Veränderungen erfordern die Berücksichtigung der inneren Biochemie (z.B. Beruhigung des Stresssystems durch Yoga und Atemübungen, Stimulation der Oxytocinfreisetzung durch mehr Miteinander) und die Inanspruchnahme von Psychotherapie.
Symptome von (Schock-)Trauma
Traumasymptome können vielfältig sein und reichen von körperlichen Beschwerden bis hin zu emotionalen Problemen:
- Flashbacks: Plötzliche, lebhafte Rückblicke auf das traumatische Ereignis
- Schlafstörungen: Schwierigkeiten beim Ein- oder Durchschlafen
- Ängste: Starke Angstzustände, insbesondere in Situationen, die an das Trauma erinnern
- Depressionen: Niedergeschlagenheit und Verlust des Interesses an Aktivitäten
- Körperliche Beschwerden: Kopfschmerzen, Magenbeschwerden, Herzklopfen
- Vermeidungsverhalten
- Vegetative Übererregbarkeit/Hyperarrousal, Reizbarkeit, Stimmungswechsel, Schreckhaftigkeit
- Dissoziation
Bindungstraumata
Erlebnisse, die im Nervensystem Traumaspuren hinterlassen, können zu Bindungsverletzungen führen:
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- Nicht adäquate Reaktionen von Bezugspersonen auf die Bedürfnisse von Kindern oder emotionale oder körperliche Vernachlässigung
- Häufige Trennungen von primären Bezugspersonen
- Dauerhafter Stress der Bezugspersonen, der sich auf die Kinder überträgt
- Fehlende Co-Regulation durch die Bezugspersonen bei Überforderung
- Psychische Erkrankungen der Bezugspersonen, die eine adäquate Spiegelung der Gefühlszustände verhindern
- Unzureichende oder fehlende emotionale Nähe und Verfügbarkeit der Bezugspersonen
- Sexueller, körperlicher oder emotionaler Missbrauch
- Verantwortlichfühlen der Kinder für die Bezugspersonen (Parentifizierung)
- Situationen, in denen sich das Kind verlassen gefühlt hat
- Bedingte Liebe (Unterdrückung von Wut)
- Wenige Erfahrungen von Sicherheit, Kontinuität und Zuwendung
- Wenig echter Kontakt und Körperkontakt in der Kindheit
- Inkonsistente, wechselhafte, nicht vorhersehbare oder ambivalente Zuwendung der Bezugspersonen
- Emotionaler und verbaler Missbrauch
- Häufige Umzüge
- Instabile Familienumstände
- Mobbingerfahrungen
- Unterdrückte Emotionen und unausgesprochene Konflikte
- Chronischer Stress und Unsicherheit
- Krankenhausaufenthalte oder Pflegefamilien
- Frühe Trennungen der Kinder von den Bezugspersonen nach der Geburt
- Andauernde stressaktivierende Umgebungsfaktoren wie Lärm, Geschrei, Naturkatastrophen
- Reaktion der Bezugspersonen auf emotional aufgeladene Erlebnisse des Kindes (fehlende emotionale Unterstützung)
Je häufiger, intensiver, langandauernder, früher und vielfältiger diese Situationen und Lebensumstände sind, desto ausgeprägter ist die Symptomausprägung. In schweren Fällen können auch psychische Störungen wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die komplexe PTBS (ICD-11) oder die dissoziative Identitätsstörung (DIS) auftreten.
Übertragung und Gegenübertragung
Übertragung und Gegenübertragung sind Phänomene, die in der Arbeit mit traumatisierten Menschen eine wichtige Rolle spielen.
Übertragung
Übertragung beschreibt die unbewusste Übertragung früherer Bindungserfahrungen auf aktuelle Kontexte und Personen. Bei traumatisierten Menschen ist die Übertragungsintensität oft höher, da unsichere oder desorganisierte Bindungstypen vorliegen. Sie erleben andere Menschen eher als bedrohlich, unzuverlässig oder zurückweisend, selbst wenn dies objektiv nicht der Fall ist. Heftige Übertragungsgefühle können die pädagogische Beziehung hemmen. Die Übertragung sollte jedoch als Informationsquelle dienen, die Auskunft darüber gibt, wie sich der/die KlientIn fühlt und was sein/ihr Bedarf ist. Nach Hantke/Görges (2023) können KlientInnen und Fachkräfte aufgrund des Übertragungsphänomens die Rollen Retter, Opfer, Täter oder Mitwisser einnehmen.
Gegenübertragung
Gegenübertragung bezeichnet alle Emotionen, Wünsche, Erwartungen, Körperempfindungen und Handlungsimpulse, die im Kontakt mit KlientInnen entstehen. In der Arbeit mit traumatisierten Menschen werden traumaspezifische Übertragungen oft nicht erkannt, was dazu führen kann, dass Fachkräfte impulsiv und reflexhaft reagieren und ihre Gegenübertragungsimpulse ungefiltert ausagieren. Dies kann zu Ungeduld oder Wut gegenüber den KlientInnen führen und retraumatisierend wirken.
Auswirkungen auf die Praxis
Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühle können den Eindruck vermitteln, es gehe um Leben und Tod, was Hilfen zum Scheitern bringen kann. Das Gefühl von Überlastung und/oder Burnout ist nicht selten eine Folge von ausagierten Gegenübertagungsimpulsen einer Retter-Übertragung.
Wie lässt sich das autonome Nervensystem regulieren?
Es gibt verschiedene Strategien, um das autonome Nervensystem nach frühkindlichen Traumata zu regulieren:
- Professionelle Hilfe: Therapieformen wie NARM, Somatic Experiencing, Traumafokussierte Verhaltenstherapie, Körperorientierte Therapiemethoden, EMDR oder EFT können helfen, das autonome Nervensystem zu regulieren.
- Gesunder Lebensstil: Regelmäßige Bewegung, ausreichend Schlaf, Entspannungsmethoden, Yoga und gesunde Ernährung können dazu beitragen, das autonome Nervensystem ins Gleichgewicht zu bringen und Stress abzubauen.
Übungen zur Regulierung des Nervensystems
Es gibt verschiedene Übungen, die helfen können, das Nervensystem zu beruhigen und die Stresstoleranz zu erhöhen:
- Tiefe Atmung: Achtsame Beobachtung des eigenen Atems vertieft auf natürliche Weise den Atem und löst die Entspannungsreaktion aus. Tiefes Atmen beeinflusst über den Vagusnerv den Grad der Aktivierung des Nervensystems.
- Erdung: Sich aktiv zu erden, die Füße zu spüren und die Knie locker zu machen, stellt eine tiefe Verbindung mit der Erde und der gemeinsamen Realität her.
- Orientierung: Sich auf ein Gefühl von Sicherheit hin zu orientieren, bedeutet zu prüfen, ob wir sicher sind. Durch die Bewegung unseres Halses können wir nach potenziellen Bedrohungen um uns herum suchen. Dies ermöglicht es, uns mit der aktuellen Realität auseinanderzusetzen, unsere Sicherheit einzuschätzen und die anstehenden Probleme effektiv anzugehen.
- Vagusnerv Stimulation: Der Vagusnerv ist der größte Nerv des Parasympathikus und spielt eine wichtige Rolle bei der Entspannung und Regulation des Nervensystems. Übungen wie Summen, Singen, Gurgeln oder Kaltwasseranwendungen können den Vagusnerv stimulieren und die Entspannung fördern.
- Schütteln: Den Körper für ein paar Minuten ausschütteln, um Stress und angesammelte Energie loszuwerden.
- Atemtechniken: Die 4-7-8 Atemtechnik (4 Sekunden einatmen, 7 Sekunden Atem anhalten, 8 Sekunden ausatmen) kann helfen, das Nervensystem zu beruhigen.
- Meditation und Achtsamkeitsübungen: Regelmäßige Meditation und Achtsamkeitsübungen können den Geist und das Nervensystem beruhigen und die Stressresilienz stärken.
- Ausreichend Schlaf: Sorgen Sie für ausreichend Ruhezeit in der Nacht und nutzen Sie die Regeln der Schlafhygiene, um Ihren Schlaf zu verbessern.
- Emotionen zulassen: Erlauben Sie sich, Ihre Emotionen herauszulassen (z.B. durch Weinen).
- Soziale Interaktionen: Lockere, freundliche und liebevolle soziale Interaktionen vermitteln dem Gehirn, dass die Welt ein sicherer Ort ist.
- Sport: Körperliche Aktivität hilft, Adrenalin und Cortisol abzubauen und signalisiert dem Gehirn, dass die Bedrohung erfolgreich überlebt wurde.
Übungen für den Alltag
Einige Übungen können unauffällig in den Alltag integriert werden, um das Nervensystem zu regulieren:
- Füße spüren: Die Aufmerksamkeit auf die Füße richten und spüren, wie sie am Boden stehen.
- 5-4-3-2-1 Übung: In der Öffentlichkeit 5 Dinge sehen, 4 Dinge fühlen, 3 Dinge hören, 2 Dinge riechen und 1 Ding schmecken.
- Nah- und Fernsicht: Den Blick abwechselnd auf einen nahen und einen fernen Punkt richten, um den Vagusnerv zu stimulieren.
Was tun bei Hyperarousal?
Hyperarousal (Übererregung des Nervensystems) ist ein Zustand anhaltender innerer Anspannung und Alarmbereitschaft. Betroffene fühlen sich, als wäre ihr Körper in ständiger Alarmbereitschaft - selbst in völlig sicheren Situationen.
Behandlungsmöglichkeiten:
- EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing): Kann helfen, belastende Erinnerungen neu zu verarbeiten und emotionale Anspannung zu reduzieren.
- Kognitive Verhaltenstherapie (CBT): Hilft, Stressmuster zu durchbrechen und automatische Gedanken und Reaktionsmuster zu erkennen.
- Achtsamkeitsbasierte Methoden: Techniken wie Meditation, Atemübungen oder progressive Muskelentspannung fördern die Selbstregulation des Nervensystems.
- Medikamente: In schweren Fällen können Medikamente helfen, das übererregte Nervensystem zu stabilisieren und Symptome wie Schlafstörungen, innere Unruhe und Reizbarkeit zu lindern.
- Atemtechniken: Langsames, tiefes Atmen kann helfen, das Nervensystem zu beruhigen.
Es ist wichtig zu wissen, dass Sie nicht allein sind und dass es Hoffnung gibt. Suchen Sie frühzeitig professionelle Hilfe von einem Psychotherapeuten oder Trauma-Coach, informieren Sie sich über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten und achten Sie auf sich selbst, um die besten Chancen auf Heilung und Genesung zu haben.
Somatic Experiencing (SE)
Somatic Experiencing ist ein körperorientierter Ansatz zurTraumabewältigung, der von Dr. Peter A. Levine entwickelt wurde. SE basiert auf der Beobachtung, dass Tiere in der Lage sind, die hohe Stress-Energie, die im Überlebenskampf mobilisiert wird, wieder abzubauen. Beim Menschen kann diese Fähigkeit jedoch durch den „rationalen“ Teil des Gehirns gehemmt werden.
Kernprinzipien von SE:
- Resilienz: SE zielt darauf ab, die Resilienz des Nervensystems wiederherzustellen, d.h. die Fähigkeit, sich nach Schwierigkeiten wieder zu „berappeln“.
- Entladung von Energie: SE hilft, die im Nervensystem gebundene traumatische Energie zu entladen.
- Körperwahrnehmung: SE fördert die Körperwahrnehmung, um feine Hinweise des Körpers auf Stress und Anspannung wahrzunehmen.
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