Neurologische Erkrankungen stellen in Europa und Deutschland eine erhebliche Belastung dar, von der fast 60 % der Bevölkerung betroffen sind. Insbesondere aufgrund des demografischen Wandels nehmen Diagnosen wie Schlaganfall, Parkinson und Epilepsie weiter zu. Parallel dazu macht die Forschung jedoch vielversprechende Fortschritte. Moderne neurophysiologische Methoden, fortschrittliche Bildgebungsverfahren und der Einsatz künstlicher Intelligenz ermöglichen präzisere Diagnosen und innovative Therapieansätze.
Fortschritte in der Akuttherapie des Schlaganfalls
Jährlich erleiden in Deutschland etwa 270.000 Menschen einen Schlaganfall, der ihre Selbstständigkeit und Lebensqualität erheblich beeinträchtigt. Die Möglichkeiten der Therapie nach einem Gefäßverschluss im Gehirn oder einer Hirnblutung - beides mögliche Auslöser für einen Schlaganfall - haben sich jedoch deutlich verbessert. Für die Akuttherapie gilt „Time is Brain“ - im Vordergrund steht die schnelle Wiederherstellung einer ausreichenden Durchblutung der betroffenen Areale. Ein Meilenstein in der akuten Behandlung ist die Erweiterung des Zeitfensters für die Katheterbehandlung (Thrombektomie).
Die medikamentöse Schlaganfalltherapie hat ebenfalls deutliche Fortschritte gemacht: Das Thrombolytikum Tenecteplase hat in vielen deutschen Schlaganfallzentren den Einsatz des bisherigen Medikaments Alteplase abgelöst. Es vereinfacht aufgrund der deutlich kürzeren Applikationsdauer (Bolusgabe anstatt einstündiger Infusion) bei gleicher Wirkung die Abläufe in der akuten Schlaganfalltherapie deutlich, auch was Transfers zwischen Krankenhäusern für weitere Therapien wie Thrombektomie betrifft. Die Substanz Tenecteplase wurde 2024 zugelassen, um Gerinnsel aufzulösen, die Hirngefäße verstopfen und so einen akuten Schlaganfall verursachen. Sie wirkt genauso gut wie der Wirkstoff Alteplase, der in Deutschland seit 1987 im Einsatz ist. Der Vorteil: Tenecteplase lässt sich mit einer einzigen Injektion verabreichen.
Gerade in Deutschland hat die akute Schlaganfalltherapie große Fortschritte gemacht, nicht zuletzt durch die flächendeckende Etablierung und Zertifizierung von Stroke Units. Obwohl die Zahl der Patienten mit Schlaganfall um 25% gestiegen ist, hat sich die Krankheitslast für die einzelnen Betroffenen, gemessen an den durch Mortalität verlorenen Jahren und den Jahren mit krankheitsbedingt verminderter Lebensqualität (DALYs, „disability-adjusted life-years“) um 54% reduziert.
Die Thrombektomie soll möglichst schnell möglichst vielen Patienten zugutekommen. Dafür habe sich eine enge Zusammenarbeit von Stroke Units und Neurovaskulären Zentren bewährt, teilen die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG), die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und die Deutsche Gesellschaft für Neuroradiologie (DGNR) mit. Rund 80 Prozent aller jährlich 250.000 Schlaganfälle werden in Deutschland durch ein Blutgerinnsel (Thrombus), das ein Blutgefäß verschließt, verursacht. Als Folge können Teile des Gehirns nicht mehr mit Blut versorgt werden. Der Wirkstoff kann das Blutgerinnsel in den Hirnarterien auflösen. Diese Lysetherapie ist in allen deutschen Schlaganfalleinheiten (Stroke Units) seit Mitte der 1990er-Jahre Standard.
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Aktuell erweitern Kliniken, die eine Stroke Unit besitzen, ihr Angebot um eine neue Therapieoption, die sich kürzlich in fünf Studien als wirksam erwiesen hat: Spezialisierte Neuroradiologen schieben von der Leiste aus einen Katheter bis an die Stelle des Gehirns, wo das Blutgerinnsel eine Arterie blockiert hat. Der Katheter durchbohrt den Thrombus und umschließt das Gerinnsel mit einem Stent wie ein Drahtkäfig. „Diese Behandlungsmethode, auch mechanische Thrombektomie genannt, wurde in den letzten Jahren so weit verfeinert, dass fast 90 Prozent der Gefäße wieder eröffnet werden können“, sagt Professor Dr.
Die beteiligten Fachgesellschaften haben die Studienergebnisse zum Anlass genommen, ihre Leitlinie zu ergänzen. „Die Leitlinie gibt umfassende Anleitungen zu allen Aspekten der neuen Therapie“, berichtet Professor Dr. Peter Ringleb, Mitglied im Vorstand der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft und Leiter der Sektion Vaskuläre Neurologie am Universitätsklinikum Heidelberg. „Im Regelfall werden beide Therapien, die Lysetherapie und die mechanische Thrombektomie, miteinander kombiniert“, so Peter Ringleb. Im Ärzte-Jargon heißt das „Drip-and-ship“.
„Dass diese Vorgehensweise gut funktioniert, wurde jüngst von dem neurovaskulären Rhein-Ruhr Netzwerk belegt“, berichtet Professor Dr. Christoph Groden, Leiter der Abteilung für Neuroradiologie des Universitätsklinikums Mannheim. Zu dem Netzwerk gehörten zum Zeitpunkt der Studie 17 Stroke Units im Ruhrgebiet, von denen acht 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche eine Katheterbehandlung anbieten. „Die Überlebensrate der Patienten, die aus anderen Kliniken überwiesen wurden, war vergleichbar mit jenen, die in den Zentren direkt behandelt wurden“, so Christoph Groden. „Wir sind auf einem sehr guten Weg und haben bereits in kurzer Zeit die Zahl der Neuroradiologen bzw. Radiologen ausgebaut, die in der Thrombektomie erfahren sind“, sagt er. Die Thrombektomie wird bereits in vielen Regionen verlässlich angeboten.
Es ist vor allem das Zeitfenster, das sich in der akuten Schlaganfalltherapie bei Gefäßverschluss weiter geöffnet hat. Bis vor wenigen Jahren galt hier noch die 6-Stunden-Regel bei einem Verschluss großer hirnversorgender Gefäße. Studien haben jetzt gezeigt, dass Patienten - abhängig von modernen Bildgebungsverfahren - sogar bis zu 24 Stunden nach dem Ereignis von der Thrombektomie profitieren. Seit Februar ist zudem in Deutschland ein neu zugelassenes Medikament auf dem Markt, das dem Patienten zur Auflösung des Blutgerinnsels als Spritze direkt verabreicht werden kann. Die bisherige Medikation musste über eine Stunde als Infusionslösung gegeben werden. Hier mussten die Mediziner sehr genau das Körpergewicht des Patienten vor der Gabe ermitteln - was im Notfall durchaus ein Problem darstellen kann. 62 oder 68 Kilogramm Körpergewicht? „Bei dem neuen Medikament können wir in 10-Kilo-Schritten sehr grob abschätzen.
Postakute Therapien und neuronale Reorganisation
Neben der Akuttherapie werden zunehmend postakute Therapien entwickelt, die die Regeneration nach einem Schlaganfall signifikant verbessern können. Die neuronale Reorganisation gilt als entscheidender Faktor für die funktionelle Erholung. Innovative Methoden zur Reduktion von durch Schlaganfall bedingten Behinderungen werden systematisch erforscht. Die Kombination von bildgebenden Verfahren und transkranieller Magnetstimulation (TMS) hat sehr vielversprechende Ergebnisse bei der Reorganisation neuronaler Netzwerke gezeigt. Die funktionelle Bildgebung mittels MRT oder Elektroenzephalografie (EEG) macht die Hirnareale sichtbar, die am meisten von einer TMS profitieren. Moderne Bildgebungsverfahren und Konnektivitätsanalysen ermöglichen es, die Anpassungsprozesse des Gehirns nach einem Schlaganfall zu untersuchen und zu verstehen, warum manche Betroffene sich besser erholen als andere. So können Behandlungsmethoden individuell optimiert werden.
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Die Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) trägt ebenfalls zu einer präziseren, personalisierten Therapie bei: KI-Algorithmen können anhand von Patientendaten den individuellen Verlauf eines Schlaganfalls vorhersagen und Faktoren identifizieren, die eine schnelle Regeneration oder einen komplizierten Verlauf begünstigen.
Weitere Fortschritte in der Neurologie
Auch in anderen Bereichen der Neurologie gibt es vielversprechende Entwicklungen:
- Amyotrophe Lateralsklerose (ALS): Eine neue Behandlungsstrategie, die am Immunsystem ansetzt, gibt neue Hoffnung. Eine klinische Studie untersucht, ob Rituximab, ein Medikament aus der Immuntherapie, das Fortschreiten der ALS verlangsamen kann. Ein weiterer Durchbruch ist die Entwicklung von Tofersen, einem Antisense-Oligonukleotid, das im April 2023 von der FDA und im Februar 2024 von der europäischen Arzneimittelbehörde die Zulassung erhalten hat. Tofersen wirkt durch Gen-Silencing, indem es die SOD1-mRNA abbaut und so die SOD1-Proteinsynthese unterdrückt.
- Alzheimer-Demenz: Die Europäische Arzneimittelbehörde hat 2024 Lecanemab zugelassen, eine Antikörpertherapie, die Eiweiße aus dem Gehirn entfernt, welche für die Entstehung der Alzheimer-Erkrankung verantwortlich gemacht werden. Das als Infusion verabreichte Medikament stellt somit eine der ersten zugelassenen Therapien bei dieser sehr häufigen Demenzform dar und greift direkt in die Biologie der Krankheitsentwicklung ein, sodass das Voranschreiten verzögert werden kann.
- Multiple Sklerose (MS): Im Jahr 2021 wurden innerhalb eines Jahres allein sechs neue Medikamente gegen die Multiple Sklerose (MS) in Deutschland zugelassen. Auch 2024 wurde mit dem sogenannten monoklonalen Antikörper Ublituximab wieder ein neues Mittel gegen Multiple Sklerose (MS) zugelassen. Neue Studien zeigen zudem, dass bei MS bestimmte Werte im Blut gut anzeigen können, wie es um die Krankheitsaktivität im Gehirn, das Potenzial zur Verschlechterung und das Ansprechen auf Medikamente bestellt ist. Möglichkeiten zur Vorhersage individueller Krankheitsverläufe bei der Multiplen Sklerose (MS) eröffnet heute die Bestimmung von bestimmten Eiweißstoffen im Blut (zum Beispiel Neurofilamente). Damit können zielgerichtet unterschiedlich aktive Medikamente bei den Betroffenen eingesetzt werden.
- Parkinson-Krankheit: Eine aktuelle Studie zeigt, dass die klassischen Parkinson-Wirkstoffe Levodopa und Carbidopa besser als Infusion unter die Haut wirken. Diese können Erkrankte sich selbst verabreichen. Sie bleiben fast zwei Stunden am Tag länger mobil als bei Tabletten mit diesen Substanzen.
Ursachenforschung nach Schlaganfall
Genauso wichtig wie die schnelle Behandlung eines Schlaganfalls ist die Suche nach den Ursachen - um einen weiteren Schlaganfall vermeiden zu können. Bei der 63-Jährigen stellen die Ärzte in Lübeck fest: Das Gerinnsel könnte übers Herz ins Gehirn gelangt sein. Und: Braun hat hohen Blutdruck, vermutlich schon seit Jahren. Hoher Blutdruck führt dazu, dass sich die Gefäßwände verändern, es kommt zu Arteriosklerose, in den Gefäßen sammeln sich Ablagerungen, die den Blutfluss behindern. Sie selbst hatte in der Vergangenheit immer mal wieder Werte von 140, 150 systolisch, also der obere Wert, dem aber keine große Bedeutung beigemessen. "Das ist ganz normal, dass man aufgeregt ist in der Praxis“, dachte die 63-Jährige. Neben Bluthochdruck stellt auch ein hoher Cholesterinspiegel eine große Gefahr dar. Schon bei gesunden Menschen sollte das LDL-Cholesterin, also das "schlechte“ Cholesterin, laut europäischer Leitlinien unter 116 mg/dl liegen. Nach einem Schlaganfall streben Ärzte je nach individuellem Risiko wesentlich niedrigere Werte an. "Je niedriger, desto besser“, sagt Götz Thomalla vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und rät zur Einnahme von sogenannten Statinen - Medikamenten, die die Lipidkonzentration im Blut senken können. Ebenso wichtig: Ein Rauchstopp. Denn Menschen, die täglich 20 Zigaretten rauchen, haben nach Angaben der World Stroke Organization ein sechs Mal höheres Risiko einen Schlaganfall zu erleiden als Nichtraucher. Denn Zigarettenrauch enthält Kohlenmonoxid, das den Sauerstoffgehalt im Blut senkt. Dazu kommt das Nikotin, das einen beschleunigten Herzschlag und erhöhten Blutdruck bewirkt.
Vermeidung eines wiederholten Schlaganfalls
Nach einem Schlaganfall geht es nicht nur darum, die Folgen zu therapieren. Ein wichtiges Ziel ist die Vermeidung eines wiederholten Schlaganfalls, der Volksmund spricht von Blutverdünnung. Der Klassiker, der bis heute zum Einsatz kommt, ist ASS (Aspirin). In den vergangenen Jahren wurde viel geforscht, neue Medikamente erhielten eine Zulassung. Woran liegt das? Es gibt durchaus wirksame Mittel, die Blutgerinnung zu beeinflussen. In den meisten Fällen ist damit jedoch ein höheres Blutungsrisiko verbunden. Aktuell laufen große Studien zu einem neuen Präparat. Asundexian ist ein sogenannter Faktor-XI-Hemmer und ist noch nicht zugelassen. Ende 2025 rechnet man mit dem Abschluss der Studien. Die Fachleute der DGN sehen Potenzial in dem neuen Mittel - zumindest für ausgewählte Patientinnen und Patienten.
Neue Therapieansätze gegen wiederkehrende Schlaganfälle
Wiederkehrende Schlaganfälle in den Tagen und Wochen nach dem ersten Ereignis sind ein häufiges Problem unter Patienten, bei denen eine Arteriosklerose die Ursache war. Ein internationales Team von Forschenden unter Federführung des LMU Klinikums hat nun detailliert erforscht, warum es zu den häufig wiederkehrenden Schlaganfällen kommt: Aus Zellen freigesetzte Erbsubstanz (DNA) führt nach dem ersten Ereignis zu einer Entzündungsreaktion im gesamten Körper, die auch zu einer Verschlechterung der arteriosklerotischen Gefäßablagerungen führt und damit zu erneuten Gefäßverschlüssen - ein Teufelskreis. Das Forschungsteam schlägt daher auf Grundlage seiner neuen Erkenntnisse eine neue Therapie vor: die zellfreie DNA einfach durch entsprechende Medikamente (DNasen) abzubauen. Es zeigte sich: In der frühen Phase nach einem Schlaganfall kommt es zu einer Entzündungsreaktion im gesamten Körper - obwohl keine Infektion vorliegt. Als Ursache konnten die Forscher zellfreie DNA im Blut feststellen, die aktiv von sogenannten Neutrophilen, einem angeborenen Immunzelltyp, sezerniert wird. Sie bewirkt eine Entzündung, die auch die Arteriosklerose rasant fortschreiten lässt, denn „diese zellfreie DNA aktiviert in bestimmten Immunzellen das AIM2-Inflammasom“, sagt Postdoktorand Jiayu Cao. Als Inflammasom wird ein ganzer Komplex aus Proteinen in Entzündungszellen bezeichnet, der zur massiven Bildung des Botenstoffs Interleukin-1 führt. Dieser Botenstoff breitet sich durch das Blut im ganzen Körper aus und wirkt insbesondere auf bereits entzündete Gewebe - wie die arteriosklerotisch veränderten Gefäße. Das wiederum destabilisiert Hochrisiko-Plaques, die einreißen und Gerinnsel freisetzen, was zu weiteren Schlaganfällen führt. Mit diesem Wissen starteten die Forschenden bei ihren Tieren nach dem ersten Schlaganfall eine Therapie: Durch die Gabe von sogenannten DNasen - Enzyme, die DNA zerstören - sofort nach dem ersten Schlaganfall lässt sich der gesamte fatale Prozess stoppen. „Durch diese Behandlung haben wir die Rate wiederkehrender Schlaganfälle in unserem Tiermodell um bis zu 80 Prozent gesenkt“, sagt Postdoktorand Stefan Roth. Die DNA in Zellen bleibt von dieser Behandlung unberührt, weil DNasen nicht in Zellen eindringen können.
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