Multiple Sklerose: Neue Behandlungsmethoden eröffnen Perspektiven

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die vor allem junge, beruflich aktive Menschen betrifft und erhebliche arbeits- und sozialmedizinische Bedeutung hat. Weltweit sind etwa 2,5 Millionen Menschen von MS betroffen. In Europa belaufen sich die jährlichen volkswirtschaftlichen Krankheitskosten auf mehr als 15 Milliarden Euro.

Neuere Forschungsanstrengungen haben eine neue Ära in der Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) eingeläutet. Hochwirksame Therapieansätze mit spezifischen monoklonalen Antikörpern und oralen Substanzen geben neue Hoffnung, obwohl diese bisher nur für die schubförmig verlaufende Form der Erkrankung zugelassen sind und nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung und unter striktem Risikomanagement eingesetzt werden sollten.

Krankheitsbild und Ursachen

Neuropathologisch ist die MS durch herdförmige (fokale), entzündlich-entmarkende Läsionen im ZNS mit unterschiedlich ausgeprägtem Verlust an Axonen und reaktiver Gliose gekennzeichnet. Möglicherweise führen verschiedene immunologische Mechanismen zum Verlust der Markscheiden. Die MS-typischen entzündlichen Entmarkungsherde, die durch den Angriff körpereigener Immunzellen auf die Myelinscheiden der Nervenzellfortsätze verursacht werden, können im gesamten ZNS auftreten - und somit fast jedes neurologische Symptom verursachen.

Derzeit wird von einer multifaktoriellen Genese ausgegangen, die ein Zusammenspiel von Suszeptibilitätsgenen und bisher nur teilweise identifizierten Umweltfaktoren umfasst. Es wurden bis heute neben den HLA-Allelen DR15, DR3 und DR13 mehr als 150 mit Multipler Sklerose assoziierte SNPs (single-nucleotide-Polymorphismen) identifiziert, die mögliche Risikogene markieren. Umweltfaktoren werden als Trigger diskutiert, unter ihnen virale Infektionen, Vitamin-D-Mangel, salzreiche Nahrung, Nahrungsfette sowie Zigarettenkonsum.

Therapieansätze bei Multipler Sklerose

Ziel der Therapie ist die bestmögliche Krankheitskontrolle. Die bisher zugelassenen Therapien wirken vorwiegend über die Beeinflussung immunologischer Komponenten der Erkrankung und versprechen eine Reduktion der Krankheitsaktivität und sollen damit das Fortschreiten der Behinderung vermindern. Die Leitlinien gehen empirisch von sogenannten verlaufsmodifizierenden Therapien aus. Sie unterscheiden zwischen Therapien für milde und moderate Verlaufsformen (früher „Basistherapien“), die hier auch zuerst eingesetzt werden sollten. Falls die Erkrankung hohe klinisch und kernspintomografisch nachweisbare entzündliche Aktivität besitzt ([hoch]aktive Verlaufsform), sollten entsprechend hochwirksame, aber auch potenziell risikobehaftetere Substanzen zum Einsatz kommen (Therapie der [hoch]aktiven MS). Früher nannte man dies Eskalationstherapie.

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Insbesondere für die vergleichende Beurteilung neu zugelassener Therapeutika fehlen leider belastbare Vergleichsstudien. Deshalb werden in naher Zukunft neben Daten aus nationalen und internationalen „Registern“ oder Phase-IV-Studien Parameter wie individuelle Erfahrung, Verträglichkeit, Langzeitnebenwirkungen und Familienplanung eine zunehmende Rolle bei der Therapiewahl spielen.

Medikamentöse Therapie der milden/moderaten MS

Pegyliertes Beta-Interferon

Schon in den Neunzigerjahren erfolgte die Zulassung von rekombinanten Interferon-beta-Präparaten, die inzwischen für den Einsatz beim schubförmigen Verlauf, bei Patienten mit erstmaligem CIS und teils für sekundär chronisch-progrediente MS mit aufgesetzten Schüben zugelassen sind. Es existieren drei verschiedene molekulare Varianten dieser Interferonpräparate, sie unterscheiden sich zudem in der Häufigkeit der Injektionen. IFN-ß wirkt immunmodulierend, jedoch konnte auch die Induktion von Proteinen mit antioxidativem und neurotrophem Potenzial in vivo nachgewiesen werden. Als großmolekulare, relativ hydrophile Glykoproteine müssen sie parenteral appliziert werden. Dies kann kurz-/mittelfristig zu Problemen bei der Compliance der Patienten führen.

Auf der Basis von Einjahresdaten der Studie ADVANCE, erhielt im Juli 2014 Peginterferon beta-1a (PEG-IFN) in Europa die Zulassung zur Behandlung der schubförmig remittierenden MS. PEG-IFN ist eine neue Molekulareinheit, in der Interferon beta-1a Pegyliert wird, um die Halbwertzeit des Präparats und die Zeitspanne, die der Wirkstoff im Körper verbleibt, zu verlängern. Dadurch konnte ein günstiges Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil nach zweiwöchentlicher s.c.-Gabe nachgewiesen werden. Die Wirkstärke und initialen Nebenwirkungen sind wahrscheinlich mit denen der traditionellen IFN-ß-Präparate vergleichbar, obwohl es keine direkten Vergleichsstudien gibt.

Orale Substanzen

Teriflunomid

Teriflunomid ist der aktive Metabolit von Leflunomid, einem seit vielen Jahren gebräuchlichen langwirksamen Antirheumatikum. Im Vergleich zu Leflunomid ist die hepatische Verträglichkeit und die Spezifität deutlich gebessert. Als ein reversibler Inhibitor der mitochondrialen Dihydroorotatdehydrogenase führt Teriflunomid zu einer Pyrimidindepletion und hemmt dadurch die Proliferation von Immunzellen. Das Prinzip entspricht einer selektiven Immunsuppression. Seit Herbst 2013 ist Teriflunomid (14 mg täglich) zur Behandlung der milden, schubförmig-remittierenden MS zugelassen.

In den Zulassungsstudien wurde die jährliche Schubrate mit der 14-mg-Dosierung von Teriflunomid im Vergleich zu Placebo über zwei Jahre um etwa 35 Prozent reduziert und gleichzeitig auch in beiden Studien die Behinderungsprogression signifikant um mehr als 30 Prozent verzögert. Zudem ist für Teriflunomid der Einsatz bei CIS getestet worden. Hier kam es im Vergleich mit Placebo unter Therapie mit 14 mg Teriflunomid zu einer etwa 40-prozentigen Reduktion des Risikos, eine klinisch definierte MS zu entwickeln. Allerdings ist die Substanz bisher nicht zur Therapie des CIS zugelassen.

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Zu den unerwünschten Ereignissen, die in den Studien häufiger waren als unter Placebo, zählt eine leichte Erhöhung der Alaninaminotransferasewerte innerhalb der ersten sechs Monate. Reversible Haarausdünnung durch Wachstumsstörung wurde bei 15,2 Prozent der mit 14 mg Teriflunomid versus 4,3 Prozent der mit Placebo behandelten Patienten innerhalb der ersten sechs Monate der Behandlung berichtet. In den Placebo-kontrollierten Studien betrug die Inzidenz bestätigter peripherer Neuropathien 2,2 Prozent unter 14 mg Teriflunomid im Vergleich zu 0,6 Prozent unter Placebo.

Durch die enterohepatische Zirkulation verbleibt Teriflunomid nach Absetzen noch mehrere Monate im Körper, wenn keine beschleunigte Elimination durch Cholestyramin (3 × 8 g über elf Tage) vorgenommen wird. Da Teriflunomid potenziell teratogen ist, wird besonderer Wert auf zuverlässige Verhütungsmethoden bei Frauen im gebärfähigen Alter gelegt. Die Verträglichkeit des Präparates ist sonst gut.

Dimethylfumarat

Die Dicarboxylsäure Fumarsäure, deren Ester antiinflammatorische Wirksamkeit haben, wurde zunächst erfolgreich bei Psoriasis eingesetzt. Seit Februar 2014 ist Dimethylfumarat (DMF) als Basistherapie der MS in Deutschland zugelassen. Die Anfangsdosis von 120 mg wird je nach Verträglichkeit auf die empfohlene Dosis von 240 mg zweimal täglich erhöht. Wahrscheinlich beruht die Wirksamkeit auf Monomethylfumarat (MMF), dem aktiven Hauptmetabolit.

Zu den potenziellen Wirkmechanismen gehört eine Verschiebung der T-Helferzell-Populationen von Th1- zu Th2-Zellen, eine mögliche antioxidative Neuroprotektion durch Aktivierung des Transkriptionsfaktors Nrf2 (nuclear factor E2-related factor 2). 210 Minuten nach Einnahme erreicht MMF die höchste Plasmakonzentration mit einer Halbwertzeit von circa 30-60 Minuten. MMF wird hauptsächlich über die Atemluft ausgeschieden. MMF überschreitet die Blut-Hirn-Schranke und erreicht dort in experimentellen Studien wirksame Gewebskonzentrationen.

In den beiden Zulassungsstudien bei RRMS wurde gegenüber Placebo eine Reduktion der jährlichen Schubrate um etwa 50 Prozent beobachtet. Die MRT-Ergebnisse zeigten im Mittel etwa 80 Prozent weniger Gadolinium aufnehmende Herde und eine um etwa 75 Prozent geringere T2-Herdlast gegenüber der Plazebogruppe. Im Vergleich zu Glatirameracetat, das als aktive, aber nicht geblindete Vergleichssubstanz in einem Arm der CONFIRM-Studie mitgeführt wurde, zeigte sich keine Überlegenheit von DMF im Hinblick auf die primären klinischen Endpunkte, auch wenn die Studie nicht entsprechend gepowered war.

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Die am häufigsten berichteten Nebenwirkungen, die zu einem Therapieabbruch führten, waren gastrointestinale Ereignisse, deren Häufigkeit (Diarrhoe [14 % versus 10 %], Übelkeit [12 % versus 9 %], Erbrechen [85 % versus 5 %]) bei Patienten unter DMF im Vergleich zu mit Placebo behandelten Patienten erhöht war. Im Allgemeinen nimmt dies jedoch nach etwa zwei- bis dreiwöchiger Einnahme ab. Gleiches trifft für das paroxysmale Hitzegefühl (Flush) zu.

Aus circa 130 000 weltweit mit dem Präparat behandelten MS-Patienten wurde ein Fall mit progressiver multifocaler Leukencephalopathie (PML), einer opportunistischen ZNS-Infektion, berichtet, wo allerdings eine über mehrere Jahre anhaltende Lymphopenie vorlag. Weitere Fälle von PML traten allerdings mit anderen Fumaraten auf, die bei der Psoriasis eingesetzt wurden.

In den Studien wurde eine Abnahme der mittleren Lymphozytenzahlen um ungefähr 30 Prozent nach einem Jahr beobachtet; deshalb wurden vom KKNMS im ersten Jahr regelmäßige sechs- bis achtwöchentliche Kontrollen von Leberwerten und ein großes Blutbild angeraten. Es bleibt zu beobachten, inwieweit bei der Langzeittherapie gehäuft opportunistische Infektionen auftreten. Grundsätzlich sollte auch unter Fumaraten Schwangerschaftsverhütung praktiziert werden, obwohl es aus den Schwangerschaftsregistern bisher keinen Hinweis auf eine erhöhte Teratoginität oder Abortrate gibt.

Antikörpertherapien bei der (hoch)aktiven MS

Ein weiterer Fortschritt in der Behandlung von (hoch)aktiver MS, allerdings bei sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung, wurde mit der Zulassung eines zweiten humanisierten monoklonalen Antikörpers erreicht. Alemtuzumab ist ein IgG1k-Antikörper, der sich spezifisch an das Glykoprotein CD52 auf der Zelloberfläche der meisten Leukozyten, allerdings nicht von Neutrophilen und hämatopoetischen Stammzellen bindet und diese so innerhalb von Stunden zerstört. Alemtuzumab war von 2001 bis 2012 für die Behandlung der chronisch lymphatischen Leukämie und Non-Hodgkin-Lymphomen zugelassen, seit September 2013 in Europa für die MS-Therapie.

Auf Basis der Zulassung sowie der in Phase-III- Studien eingeschlossenen Patienten müssen in der Regel folgende Voraussetzungen zum Einsatz des Immuntherapeutikums vorliegen:

  • kernspintomografisch nachweisbar entzündliche Aktivität
  • mindestens zwei Schübe in den vergangenen zwei Jahren, davon einer innerhalb der letzten zwölf Monate unter einer mindestens sechsmonatigen Therapie mit einem Basistherapeutikum.
  • MS-typische MRT-Veränderungen müssen in jedem Fall vorliegen.
  • Die Gesamterkrankungsdauer sollte möglichst unter zehn Jahren liegen, da die Substanz ihre Wirksamkeit insbesondere bei Patienten mit geringer Behinderung gezeigt hat.

(Hoch)aktive unbehandelte MS-Patienten können unter bestimmten Voraussetzungen primär mit Alemtuzumab behandelt werden.

Alemtuzumab erhalten die Patienten in zwei Behandlungsphasen als Infusion: Im ersten Jahr an fünf, im zweiten Jahr an drei aufeinanderfolgenden Tagen mit jeweils 12 mg i.v. Infusionsassoziierte Reaktionen (zum Beispiel Kopfschmerz, Ausschlag, Fieber, Übelkeit) durch Depletion von Immunzellen treten in der Regel während und/oder bis zu 24 Stunden nach der Verabreichung auf, weshalb an jedem ersten der drei Tage einer Behandlungsphase die Vorbehandlung mit Kortikosteroiden und Antihistaminika durchgeführt werden sollte.

Bei Patienten, die nach dem zweiten Behandlungszyklus Krankheitsaktivität zeigen, kann im dritten Jahr ein erneuter Therapiezylus analog zur Behandlung im zweiten Jahr durchgeführt werden.

Alemtuzumab führt nach jeder Behandlungsphase zu einer nachhaltigen Depletion der zirkulierenden T- und B-Lymphozyten. Danach kommt es in der Regel innerhalb von sechs Monaten zur langsamen Repopulation der Lymphozyten mit einer deutlich rascheren Erholung der B-Zellen.

Das klinische Entwicklungsprogramm umfasste zwei randomisierte Phase-III-Studien. In CARE-MS I war Alemtuzumab signifikant wirksamer als Interferon beta-1a in Bezug auf die Verringerung der jährlichen Schubrate (Rückgang um 61 Prozent, p = 0,0056). Die Nebenwirkungen lassen sich in drei Bereiche gliedern:

  • infusions-assoziierte Nebenwirkungen,
  • das Auftreten sekundärer Autoimmunität,
  • das Auftreten von Infektionen (insbesondere in den ersten Wochen nach Infusion).

Überwiegend in der Phase der Rekonstitution des Immunsystems kommt es zum Auftreten klinisch sehr relevanter sekundärer Autoimmunphänomene: bei etwa einem Prozent der Patienten eine idiopathische thrombozytopenische Purpura, bei 0,3 Prozent Nephropathien einschließlich Goodpasture-Syndrom (Anti-GBM-Glomerulonephritis). Autoimmune Schilddrüsenerkrankungen (vor allem Hyper- und Hypothyreosen, aber auch Basedowkrankheit) wurden bei 20-30 Prozent der im Rahmen klinischer Studien behandelten Betroffenen beobachtet.

Deshalb müssen vor der Behandlung die Patienten über die Risiken und den Nutzen der Behandlung sowie die Notwendigkeit einer 48-monatigen Nachbeobachtung nach der letzten Infusion aufgeklärt werden. Diese umfassen Blutbild- und Urinanalysen (monatlich) sowie die TSH-Bestimmung (alle drei Monate).

Weitere Therapieansätze und Forschung

Ublituximab

Mit dem Wirkstoff Ublituximab steht demnächst neben Ocrelizumab, Ofatumumab und Rituximab (off-label) ein weiterer anti-CD-20-Antikörper in der Therapie der Multiplen Sklerose zur Verfügung. Der Antikörper des Wirkstoffes Ublituximab weist eine veränderte Glykosylierung an der Oberfläche auf. Diese Änderung soll für eine besonders stark depletierende (entfernende) Wirkung auf die CD-20 positiven B-Zellen des Immunsystems verantwortlich sein. Nach Meldungen der EMA kann Ublituximab die Schubrate senken und die Anzahl von akut-entzündlichen Läsionen reduzieren. Die häufigsten Nebenwirkungen sind injektionsbedingte Reaktionen und Infektionen.

Das Anwendungsgebiet für den Wirkstoff lautet: „Ublituximab wird angewendet für die Behandlung von erwachsenen Patienten mit schubförmiger Multipler Sklerose (RMS) mit aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung.“ Der Wirkstoff wird als intravenöse Infusion in einer 150 mg Erstdosis, gefolgt von einer 450 mg Zweitdosis nach zwei Wochen und weiteren 450 mg Folgedosen alle 24 Wochen verabreicht.

Eine Therapie mit Ublituximab sollte von spezialisierten Ärzten eingeleitet und überwacht werden, die in der Diagnose und Behandlung neurologischer Erkrankungen erfahren sind und die Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung haben, um schwere Reaktionen wie schwerwiegende infusionsbedingte Reaktionen zu behandeln.

Zelltherapie

Ein völlig neues Verfahren zur Behandlung der multiplen Sklerose wurde mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) erfolgreich in einer klinischen Studie geprüft. Die Idee: Das Immunsystem der Betroffenen, genauer die T-Zellen, sollen dazu gebracht werden, ihre Angriffe auf die Myelinscheide der Nervenzellen einzustellen.

Aus dem Blut der MS-Patienten werden über ein spezielles Aufbereitungsverfahren (Leukozytapherese) weiße Blutkörperchen, die Leukozyten, entnommen. Anschließend werden die Zellen in einem Reinlabor unter sehr hohen Sicherheitsauflagen weiterverarbeitet. Der wichtigste Schritt dabei ist, dass sieben Peptide, also kurze Eiweiße, an die Oberfläche der Zellen gekoppelt werden. Sie sind Bestandteil der Myelinscheide. Nach mehreren Wasch- und Kontrollschritten werden die veränderten Leukozyten den Patienten noch am selben Tag als Infusion wieder verabreicht.

Die veränderten Leukozyten sterben durch programmierten Zelltod. Nach gegenwärtigem Wissen werden die toten Leukozyten in die Milz transportiert. Dort werden ihre Bestandteile - und damit auch die sieben Myelinpeptide - dem Immunsystem präsentiert. Es entwickelt sich Immuntoleranz, d. h., den T-Zellen wird „beigebracht“, diese Myelinpeptide nicht als fremd, sondern als körpereigen zu erkennen.

Nach den langjährigen Vorarbeiten wurde der innovative Therapieansatz nun erstmals in einer klinischen Studie an neun MS-Patienten geprüft. Das Ergebnis: Die Therapie wurde von allen neun Patienten gut vertragen. Es traten keine Hinweise auf Sicherheitsrisiken auf. Bei den Patienten, die eine hohe Dosierung erhalten hatten, konnten die Wissenschaftler sogar positive Effekte auf den Krankheitsverlauf beobachten.

CAR-T-Zell-Therapie

Eine hochinnovative, zielgerichtete Immuntherapie ist die CAR-T-Zell-Therapie. Diese in der Onkologie bereits eingesetzte Therapie kann prinzipiell Autoimmunerkrankungen sogar heilen. Sie wurde in Einzelfällen bei neurologischen Erkrankungen angewendet, die zuvor therapierefraktär waren. Das Problem sind die potenziellen Nebenwirkungen, denn das Immunsystem wird so massiv aktiviert, dass es zu einer gefährlichen generalisierten, systemischen Entzündungsreaktion kommen kann. Nutzen und Risiken müssen gut abgewogen werden; eine CAR-T-Zell-Therapie bei MS ist nur in bestimmten Fällen geeignet. Klinische Studienprogramme zu CAR-T-Zelltherapien bei der MS laufen bereits.

Bruton-Tyrosin-Kinase-Inhibitoren (BTKi)

Bruton-Tyrosin-Kinase-Inhibitoren (BTKi) hemmen die B-Zell-Proliferation und werden nun auch bei Autoimmunerkrankungen getestet. Der Vorteil der BTKi ist, dass es „small molecules“ sind, die anders als Antikörper das Blut verlassen können und auch in Gewebe gelangen, wo sie neben der B-Zell-Hemmung weitere Immunzellen modifizieren, wie z. B. die Mikroglia im Gehirn.

Am weitesten fortgeschritten ist das klinische Studienprogramm EVOLUTION mit zwei randomisierten, doppelblinden Phase III-Studien mit Evobrutinib. Diese verfehlten jedoch den primären Endpunkt (Verringerung der jährlichen Schubraten), woraus abgeleitet wird, dass positive Therapieeffekte mit klassischen Studiendesigns vermutlich gar nicht mehr gezeigt werden können. Der Grund ist, dass die Schubraten heute durch die Therapiefortschritte des letzten Jahrzehnts schon zu gering ist, um eine weitere signifikante Reduktion zu zeigen.

Für Tolebrutinib stehen die Chancen für eine Zulassung aktuell gut. Den primären Endpunkt der Verringerung der jährlichen Schubrate konnte Tolebrutinib in den GEMINI-Studien im Vergleich mit dem bereits seit 2013 bei schubförmiger MS zugelassenen Teriflunomid nicht erreichen. Tolebrutinib zeigte hier zwar eine Wirkung, aber eben nicht stärker als das der niedrigsten Wirksamkeitskategorie angehörende Teriflunomid. Im sekundären Endpunkt, der Verringerung der Behinderungsprogression, zeigte es sich dem Vergleichswirkstoff jedoch überlegen. Und es erreichte den primären Endpunkt in der HERCULES-Studie: weniger Behinderungsprogression bei schubfreier wenig aktiver, sekundär-progredienter MS. Tolebrutinibs Stärken (und möglicherweise auch die anderer BTKi) scheinen also in der Eindämmung der progredienten Verschlechterung, weniger in der Entzündungshemmung zu liegen.

Möglicherweise wird Tolebrutinib daher in diesem Jahr zugelassen. Fraglich ist noch, ob nur bei sekundär-progredienter MS oder auch bei schubförmiger MS. Und, ob es in Kombination mit anderen Immunmodulatoren zugelassen werden könnte. Ein engmaschiges Leber-Monitoring wird wohl Voraussetzung sein.

Personalisierte Therapieansätze

Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur personalisierten MS-Therapie war die Entdeckung von drei Endophänotypen der frühen MS. In einer prospektiven, multizentrischen Kohorte von mehr als 1.200 therapienaiven Patienten mit früher MS konnten drei immunologische Subtypen der frühen MS identifiziert werden, die möglicherweise eine unterschiedliche Pathogenese haben. Jeder der drei zeigte ein anderes Muster zellulärer Signaturen und spezifische Merkmale der Immunzell-Kompartimente (z. B. unterschiedliche Anteile von CD4-Gedächtnis- oder CD8 T-Zellen). Das Vorhandensein der drei immunologischen Endophänotypen wurde in einer unabhängigen Validierungskohorte von 232 MS-Patienten bestätigt. MS ist nicht gleich MS: Forscher haben drei Untergruppen der Multiplen Sklerose ausgemacht, die sich wohl auch in der Entstehung unterscheiden.

Lebensstil-Management

Als neues Kapitel wurde das Lebensstil-Management aufgenommen, um der Bedeutung dieser von Menschen mit MS selbst modifizierbaren Faktoren Rechnung zu tragen. Dazu zählen beispielsweise eine hohe körperliche Aktivität und Sport. Die Leitlinie empfiehlt allen MS-Erkrankten, deren Behinderungsgrad auf der „Expanded Disability Status Scale“ (EDSS) unter 7 liegt, 75 Minuten lang ein intensives oder 150 Minuten lang ein moderates Ausdauertraining pro Woche zu absolvieren. Ebenso wichtig sei die Vermeidung von Übergewicht und Tabakkonsum. Beide Faktoren beeinflussen den Verlauf der Erkrankung negativ.

Patientenpartizipation und Kommunikation

Weiterhin wurde ein Kapitel zur patientenzentrierten Kommunikation ergänzt, da diese für die vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung und das Patient-Empowerment wesentlich sind.

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