Die Auseinandersetzung mit dem Begriff Neurodiversität gewinnt zunehmend an Bedeutung und findet sich vermehrt in Diskussionen, insbesondere in den sozialen Medien. Doch was verbirgt sich hinter diesem Konzept, das die Art und Weise, wie wir mit neurologischen Unterschieden umgehen, grundlegend hinterfragen könnte? Dieser Artikel beleuchtet die Definition von Neurodiversität, ihre Ursprünge, ihre Bedeutung und die damit verbundenen Kontroversen.
Was bedeutet Neurodiversität?
Neurodiversität setzt sich aus den Begriffen „Neuro“ (Nerven) und „Diversität“ (Vielfalt) zusammen. Der Begriff beschreibt die natürliche Bandbreite der Vielfalt, die in der menschlichen Gehirnentwicklung existiert. Erstmals tauchte der Begriff in den späten 1990er Jahren auf und wurde vor allem durch die australische Sozialwissenschaftlerin Judy Singer bekannt. Dieser Begriff galt als Kritik an der Meinung, dass neurologische Diversität eine krankhafte Veränderung wäre.
Die Idee dahinter: Auch neurologische Besonderheiten wie Autismus, ADHS oder Legasthenie sind natürliche Ausprägungen des menschlichen Gehirns. Ähnlich wie wir verschiedene Hautfarben, Körpergrößen oder Sprachen akzeptieren, sollte auch die neurologische Vielfalt gesehen und anerkannt werden. Entscheidend ist dabei: Nicht jede Form von Abweichung ist automatisch eine Krankheit.
Im Kern geht es darum, Unterschiede in der kognitiven Gehirnfunktion als ebenso natürlich wie Unterschiede bei Hautfarbe oder Körpergröße zu betrachten - nicht besser oder schlechter, nur anders. Statt neurologische Unterschiede als Störungen oder Defizite zu betrachten, fordert das Konzept der Neurodiversität die Akzeptanz und Wertschätzung dieser Unterschiede und das Ende der Pathologisierung von Neurodivergenzen.
Neurotypisch vs. Neurodivergent
In der Neurodiversitätsbewegung werden Menschen mit ihren unterschiedlichen Wahrnehmungen und Funktionsweisen des Gehirns in neurotypische und neurodivergente Menschen unterschieden.
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Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie sich das menschliche Gehirn und der Geist strukturell und funktionell entwickeln können. Viele davon fallen in einen Bereich, der als typische Neuroentwicklung gelten kann, während einige außerhalb dieses Bereichs liegen und als abweichend von der Norm angesehen werden können. Diese Gruppe wird als „neurodivergent“ bezeichnet. „Neurotypisch“ meint hingegen „neurologisch typisch“, also „neurologisch normal“, der Norm entsprechend. Als neurodivers gilt eine Gruppe von Menschen, die aus neurodivergenten und neurotypischen Personen besteht. Nach dem Konzept der Neurodiversität sind alle Menschen als neurodivers zu betrachten.
Der Begriff „Neurotypisch“ wurde ebenfalls in den 1990er Jahren etabliert. Es stammt aus der „Autism Rights“-Bewegung. Wie es der Name schon sagt, setzt sich diese Bewegung für die Rechte von Autistinnen ein. Mit dem Begriff „Neurotypisch“ sollten Menschen bezeichnet werden, die keine Autistinnen sind.
Welche Diagnosen zählen zu Neurodivergenz?
Neurodivergenz bezieht sich auf Menschen, deren neurokognitive Funktionen von den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen abweichen. Dazu ist laut dem Konzept der Neurodiversität kein Vorliegen einer Diagnose notwendig. Gleichzeitig wird das Konzept insbesondere von und für Gruppen verwendet, um eine veränderte Sichtweise und Entpathologisierung zu erreichen.
Unter Neurodiversität fallen beispielsweise:
- ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung)
- Autismus-Spektrum-Störung
- Dyskalkulie (Rechenschwäche)
- Dyslexie (Leseschwäche)
- Lern- und Entwicklungsstörungen
- Lese- und Rechtschreibstörungen (LRS)
- Synästhesie (Vermischung verschiedener Sinneseindrücke)
- Tourette-Syndrom
- Angststörungen
- Zwangsstörungen
- Bipolare Störung
- Hochbegabung
- Persönlichkeitsstörung Borderline
Gleichzeitig stellen sie nach dem Konzept der Neurodiversität nur noch Ausprägungen der neurologischen Vielfalt dar. Bei Autistinnen ist es nachweislich, dass einzelne Bereiche des Gehirns größer sind, andere Bereiche kleiner und wiederum andere anders geformt. Ebenfalls arbeiten die Gehirne von Autistinnen bei bestimmten Aufgaben nicht „typisch“.
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Vom Defizit zum Potenzial: Neurodiversität am Beispiel ADHS
Sehen wir uns das Thema Neurodiversität am Beispiel ADHS an. ADHS kennzeichnet sich durch Impulsivität, Hyperaktivität und Schwierigkeiten in der Aufmerksamkeitslenkung. Im ersten Moment bringen wir diese 3 Merkmale mit Defiziten und Nachteilen in Verbindung, zum Beispiel mit einem Mangel an Konzentration und Kontrolle. Aber stimmt das wirklich?
Evolutionär gesehen waren Veranlagungen wie ein hoher Bewegungsdrang und Impulsivität, also Gedanken schnell in Handlungen umzusetzen, zum Beispiel beim Jagen sehr nützlich. Bis vor gar nicht so langer Zeit mussten die Menschen auch überwiegend körperlich arbeiten und brauchten viel Energie. Heutzutage werden die Schul- und Arbeitstage aber immer länger, die Bewegung weniger und durch Smartphones sind wir ständig umgeben von neuen Reizen. Wir leben also in einer Welt voller Ablenkungen bei der gleichzeitigen Anforderung, den ganzen Tag still zu sitzen, uns gut zu organisieren und ausdauernd zu arbeiten - auf die Jagd gehen müssen die wenigsten von uns. Es hängt also auch von unseren Umweltbedingungen ab, ob eine Veranlagung als hinderlich oder förderlich wahrgenommen wird.
Neurodivergenz vereint oft besondere Talente mit individuellen Herausforderungen. Menschen mit ADHS können sich beispielsweise so stark auf ein Thema konzentrieren, dass sie darüber Grundbedürfnisse wie Essen oder Schlafen vernachlässigen.
Neurodiversität in der Arbeitswelt und Bildung
Für neurodivergente Menschen ist es wichtig, im Job eine „Nische“ zu finden, in der sie ihre Stärken nutzen und ihre Schwächen in den Hintergrund rücken können. Ein Mangel an Verständnis und Unterstützung am Arbeitsplatz führt Studien zufolge häufig dazu, dass Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung unterbeschäftigt sind. Auf der anderen Seite erkennen immer mehr Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber auch Chancen in der Inklusion neurodivergenter Menschen.
Der Begriff der Neurodiversität kann dazu beitragen, den defizitorientierten Blick zu hinterfragen und zu verändern. Anstatt Funktionsweisen des menschlichen Gehirns in „Normal“ und „Abweichend“ einzuordnen, können wir die große Vielfalt und Bandbreite der menschlichen Natur in den Fokus rücken und der Individualität mehr Bedeutung beimessen.
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Schon kleine Anpassungen - wie ein ruhiger Arbeitsplatz, klare Anweisungen oder flexible Pausenregelungen - können in Schule und Beruf einen großen Unterschied machen. Genauso entscheidend ist das Verständnis für Unterschiede in den sozialen Fähigkeiten. Menschen mit Autismus nehmen etwa nonverbale Signale wie Mimik oder Körperhaltung oft nicht wahr. Mit Übung und einem analytischen Ansatz können sie jedoch lernen, diese Hinweise zu deuten. Umgekehrt können neurotypische Personen lernen, das Verhalten von Menschen mit Autismus oder ADHS besser zu verstehen.
Kritik am Konzept der Neurodiversität
Obwohl das Konzept der Neurodiversität vielen Menschen zu einem positiveren Selbstbild verhilft, gibt es auch Kritik. Ursprünglich zur Entstigmatisierung von Unterschieden gedacht, wird der Begriff Neurodiversität mittlerweile bisweilen abwertend oder ironisch verwendet, was das Verständnis für neurologische Vielfalt erschweren kann.
Kritiker warnen zudem, dass Neurodiversität manchmal zu einer Art „Identitätsfalle“ werden könnte, in der Menschen sich primär über ihre neurologische Andersartigkeit definieren und sich gegenüber sinnvollen Hilfs- oder Therapieangeboten verschließen. So könnten sich beispielsweise Menschen mit ADHS damit abfinden, dass sie eben unpünktlich sind, statt sich, vielleicht auch im Rahmen einer ärztlichen Beratung, Methoden anzueignen, mit denen sie bei wichtigen Anlässen ihr Zeitmanagement verbessern können.
Manche Fachleute befürchten, dass das Leid, das viele Betroffene erfahren, verharmlost werden könnte. Befürworter*innen halten dagegen: Gerade ein positiver Blick auf Vielfalt kann helfen, Stigmatisierung abzubauen und den Zugang zu passender Hilfe zu erleichtern.
Neurodiversität vs. Krankheit: Eine Abwägung
Können wir die bisherigen Diagnosen dann nicht einfach gegen den Begriff der Neurodiversität austauschen? Diagnosen können zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden, z.B. Diagnosen werden im Allgemeinen mit Erkrankungen in Verbindungen gebracht. Für manche Betroffene kann es wichtig sein, eine Diagnose mit anschließender Behandlung zu erhalten. Für andere Menschen sind Diagnosen zu sehr mit Krankheit und Defizit verbunden, weshalb sie das Konzept der Neurodiversität bevorzugen.
Genauso verhält es sich beim Thema Therapie. Manche Menschen leiden beispielsweise unter ihren Konzentrationsschwierigkeiten und wünschen sich professionelle Unterstützung. Das Konzept der Neurodiversität regt uns dazu an, unser bisheriges Verständnis von Erkrankung und Diagnosen zu hinterfragen und neurologische Unterschiede aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Denn ob wir etwas als „Störung” definieren, hängt auch von unseren gesellschaftlichen Anforderungen und Konventionen ab.
Entscheidend ist also, ob ein Leiden besteht und ob Einschränkungen den Alltag prägen. ADHS kann es schwer machen, konzentriert zu arbeiten oder Termine einzuhalten.
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