Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet, und die adäquate Versorgung der Betroffenen ist von entscheidender Bedeutung. Im Landkreis Lindau zeichnet sich jedoch eine Versorgungslücke ab, die durch verschiedene Faktoren verstärkt wird. Dieser Artikel beleuchtet die Situation der neurologisch-psychiatrischen Versorgung im Landkreis Lindau, insbesondere im Zusammenhang mit der Praxis Reinke und den damit verbundenen Herausforderungen.
Psychische Erkrankungen: Ein wachsendes Problem
Fast jeder dritte Mensch leidet im Laufe seines Lebens an einer psychischen Erkrankung, die behandelt werden muss. Depressionen, Alkoholerkrankungen, bipolare Störungen und Schizophrenien zählen weltweit zu den häufigsten Erkrankungen. Auch in Deutschland ist ein Anstieg psychischer Erkrankungen zu verzeichnen. Die Corona-Pandemie hat die Situation zusätzlich verschärft und zu einer Zunahme von Angststörungen, Depressionen und anderen psychischen Belastungen geführt.
Die Versorgungslücke im Landkreis Lindau
Obwohl der Versorgungsatlas der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) für den Landkreis Lindau einen Versorgungsgrad von 133,8 Prozent bei Nervenärzten ausweist, was rechnerisch einer Überversorgung entspricht, gestaltet sich die Realität vor Ort anders. Das Problem liegt in der Verteilung der Fachärzte: Im Landkreis überwiegen Neurologen, während Psychiater Mangelware sind.
Die Schließung der einzigen voll zugelassenen Facharztpraxis für Psychiatrie in Heimenkirch im vergangenen Jahr hat die Situation zusätzlich verschärft. Dies bedeutet, dass die ambulante Versorgung von psychiatrischen Patienten im Landkreis Lindau nicht mehr gewährleistet ist.
Die Praxis Reinke: Ein Generationswechsel mit potenziellen Folgen
Anfang April übergab Burghard Reinke, Lindauer Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, seine Praxis an seine Tochter Gloria Reinke, die ebenfalls Neurologin ist. Obwohl in der Zeitungsanzeige stand, dass er weiterhin mitarbeiten werde, besteht langfristig die Möglichkeit, dass sich der Schwerpunkt der Praxis auf Neurologie verlagert und die Psychiatrie als Fachgebiet wegfällt. Sollte dies geschehen, bliebe im Landkreis nur noch ein halber Sitz für Psychiatrie in der Gemeinde Stiefenhofen.
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Die Praxis Dr. Reinke in Lindau blickt auf eine lange Tradition zurück. Sie wurde 1963 von Dr. Wolfgang Reinke und seiner Frau Dr. Gertrud Reinke gegründet und 1992 von Dr. Burghard Reinke übernommen. Seit April 2023 wird sie nun von seiner Tochter Dr. Gloria Reinke fortgeführt. Die Praxis behandelt das gesamte Spektrum an neurologischen Erkrankungen nach neuestem wissenschaftlichen Stand. Dabei steht der Patient im Mittelpunkt einer ganzheitlichen Medizin. Die Praxis nimmt sich Zeit, um die Beschwerden der Patienten gründlich zu erfassen, da eine ausführliche Anamnese und Diagnostik die Grundlage für eine erfolgsversprechende Therapieentscheidung ist.
Die Praxis befindet sich mitten im Stadtteil Lindau-Aeschach und liegt in unmittelbarer Nähe zum zentralen Umsteigepunkt (ZUP) des Stadtbus Lindau.
Die Psychiatrische Tagesklinik Lindau am Limit
Psychiater Vlad Gabor, Leiter der Psychiatrischen Tagesklinik Lindau, kritisiert die angespannte Situation. Er betont, dass schon jetzt eine zeitnahe Diagnose und ambulante Versorgung von psychiatrischen Patienten nicht mehr gewährleistet sei. Die psychiatrische Institutsambulanz der Tagesklinik (PIA) ist überlastet und eigentlich nicht für die Versorgung der ehemaligen Patienten der Heimenkircher Praxis oder der Patienten, die jahrelang bei Dr. Reinke waren, ausgerichtet.
Die PIA ist als ärztliche Anlaufstelle für schwerstkranke Menschen gedacht, die eine multiprofessionelle Unterstützung und Krisenintervention benötigen. Aufgrund des Mangels an anderen Anlaufstellen nimmt die Institutsambulanz jedoch bereits Patienten auf, die diese Kriterien nicht erfüllen. Die Zahlen sprechen für sich: Die Überweisungen in die Institutsambulanz stiegen von 200 im Jahr 2012 auf 600 im Jahr 2021. Dies führt nicht nur zu Problemen mit den Krankenkassen, sondern bringt auch das kleine Team der Tagesklinik an seine Grenzen. Gabor wird dort momentan von einer Internistin und einer Allgemeinmedizinerin mit jeweils 50 Prozent unterstützt.
Ursachen und Folgen der Unterversorgung
Die Gründe für die Unterversorgung mit Psychiatern sind vielfältig. Ein wesentlicher Faktor ist die ungleiche Verteilung der Fachärzte. Viele Psychiater zieht es in die Städte, während ländliche Regionen wie der Landkreis Lindau weniger attraktiv sind. Zudem schrecken lange Arbeitszeiten und hohe bürokratische Hürden viele junge Ärzte davon ab, sich als Psychiater niederzulassen.
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Die Folgen der Unterversorgung sind gravierend. Patienten müssen lange Wartezeiten in Kauf nehmen, um einen Termin bei einem Psychiater zu bekommen. In akuten Krisen kann dies lebensbedrohlich sein. Zudem werden viele Patienten nicht adäquat behandelt, was zu einer Chronifizierung der Erkrankung und einer Verschlechterung der Lebensqualität führen kann.
Psychotherapeuten: Eine Entlastung, aber keine Lösung
Die psychotherapeutische Versorgung im Landkreis Lindau stellt sich zahlenmäßig besser dar. Laut Versorgungsatlas gibt es 33 Psychotherapeuten mit Kassenzulassung, was einem Versorgungsgrad von 143 Prozent entspricht. Dennoch empfinden viele Patienten die Wartezeiten als demütigend. Nur wer bereit ist, privat zu zahlen, bekommt schneller einen Therapieplatz. Die Kassentherapeuten sind aufgrund der großen Nachfrage überlastet. Leser berichten von wochenlangen Wartezeiten oder der erfolglosen Suche nach einem Therapeuten.
Vom Erstgespräch bei einem Therapeuten bis zum Start der Psychotherapie dauert es im Landkreis Lindau im Schnitt etwa 80 Tage. Auch wenn es in dieser Zeitspanne schon zu Vorgesprächen kommt, ist dies keine schnelle Hilfe in akuten Krisen.
Die psychologischen Beratungsstellen leisten zwar einen wichtigen Beitrag zur Auffangen von Lebensproblemen, aber es braucht im Landkreis für psychisch kranke Menschen noch mehr Anlaufstellen, wie das sozialpsychiatrische Zentrum in Lindenberg, wo Tagesstätte, sozialpsychiatrischer Dienst und ambulant betreutes Wohnen eng zusammenarbeiten.
Lösungsansätze und Forderungen
Um die Versorgungslücke im Landkreis Lindau zu schließen, sind verschiedene Maßnahmen erforderlich.
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- Besetzung des offenen Kassensitzes für Psychiatrie: Vlad Gabor fordert, den derzeit offenen Kassensitz für Psychiatrie im Landkreis zu besetzen und eine ambulante psychiatrische Grundversorgung sicherzustellen. Er bat deswegen bereits den ärztlichen Kreisverband Lindau und die Kassenärztliche Vereinigung Bayern um Unterstützung.
- Förderung der Niederlassung von Psychiatern: Es müssen Anreize geschaffen werden, um mehr Psychiater für eine Niederlassung im ländlichen Raum zu gewinnen. Dies kann beispielsweise durch finanzielle Unterstützung, Abbau bürokratischer Hürden und Schaffung attraktiver Arbeitsbedingungen geschehen.
- Ausbau der gemeindepsychiatrischen Angebote: Neben der ambulanten Versorgung durch Psychiater und Psychotherapeuten ist es wichtig, gemeindepsychiatrische Angebote wie Tageskliniken, sozialpsychiatrische Zentren und betreutes Wohnen auszubauen. Diese Angebote können eine wichtige Ergänzung zur ambulanten Versorgung darstellen und dazu beitragen, dass Patienten in ihrem gewohnten Umfeld behandelt und unterstützt werden können.
- Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen: Es ist wichtig, das Bewusstsein für psychische Erkrankungen in der Bevölkerung zu schärfen und Vorurteile abzubauen. Nur so können Betroffene frühzeitig Hilfe suchen und einer Chronifizierung der Erkrankung entgegenwirken.